Sócrates und der »linke Fußball«

L’art pour l’art

Sócrates - Erinnerung an eine Spielweise

Als Kapitän war Sócrates das Herz einer brasilianischen Mannschaft, die zum Inbegriff des zauberhaften und kunstvollen Fußballs wurde. Diese Spieler prägten so etwas wie den Jugendstil der Sportart, den es nach ihnen nie wieder geben sollte. Er war die schönste Form dessen, was der argentinische Weltmeistertrainer César Luis Menotti als linken Fußball bezeichnete: ein Spiel, das das Kollektiv in den Vordergrund stellt und nicht auf das Ergebnis, sondern die Unterhaltung der Zuschauer abzielt. Argentinien hatte dies in den Siebzigern zelebriert und 1978 die Weltmeisterschaft gewonnen. 1982 führte Brasilien zunächst diesen Weg fort. Neben Sócrates bildeten Zico, Falcao und Eder ein »magisches Quartett«: Der Ball wurde extrem schnell gespielt, die Pässe waren lang und flach, geflankt wurde selten, das Spiel lief vor allem durch die Mitte, sehr oft wurde der Treffer aus der zweiten Reihe versucht. So sah man nicht nur sensationelle Kombinationen, sondern weite Torschüsse aus unfassbaren Winkeln, die Millionen in Ekstase versetzten. Es ging nicht um das Ergebnis alleine, sondern um die Kunst, um die Zuschauer, um Fussball als l’art pour l’art.
Diese Spielweise fand 1982 jedoch ein jähes Ende im Viertelfinale gegen Italien, ein Spiel, das den Weltfußball nachhaltig veränderte. Italien hatte in der Vorrunde nur zwei Tore geschossen und sich mit drei Unentschieden durchgemogelt. Das Team war das Gegenmodell zur brasilianischen Auswahl: eine defensiv ausgerichtete Mannschaft mit einer disziplinierten Abwehr vor dem brillianten Torwart Dino Zoff. Die Italiener riegelten sich ab, Brasilien rannte an, Italien konterte und führte, Brasilien glich aus – und das zweimal, bis dann in der 74. Minute eine Ecke, die eigentlich geklärt schien, im brasilianischen Tor landete. Brasilien rannte weiter verzweifelt gegen die italienische Abwehr an, doch Zoff war mit der Mauer vor ihm nicht mehr zu überwinden. Italien wurde Weltmeister gegen Deutschland, das sich in einem dramatischen Halbfinale gegen Frankreich durchgesetzt hatte. Frankreich stand für den verspielten, künstlerischen, auf dem Mittelfeld basierenden Fußball europäischer Machart, und scheiterte trotz dominanten Spiels an Deutschland, das seine spielerischen Defizite mit den »deutschen Tugenden« Moral und Disziplin kompensierte.
Bei der WM 1986 besiegte Frankreich Brasilien im Viertelfinale, einem sogenannten Jahrhundertspiel, im Elfmeterschießen. Sócrates trat nie wieder in einem großen Turnier an.