Eine Ausstellung in München über das Werk von Carlo Mollino

Licht im Darkroom

Das Haus der Kunst in München widmet dem facettenreichen Werk des italienischen Architekten, Designers und Fotografen Carlo Mollino eine umfangreiche Ausstellung.

Was verbindet das Design einer kurvenreichen Garderobe mit einem Handbuch zum Abfahrtski und der Kunst des Flugballetts? Was hat ein wirbelsäulenartiges Tischgestell mit erotischen Fotografien weiblicher Körper zu tun, und wie lässt sich ein alpines Blockhaus auf einem klotzigen Steinsockel mit den elegant geschwungenen Linien eines mondänen Theaterraums zusammendenken? Das Werk des 1905 in Turin geborenen Architekten, Möbeldesigners, Fotografen, Inneneinrichters, Flugakrobaten, Skichampions, Rennfahrers, technischen Erneuerers, Publizisten und Autors Carlo Mollino erscheint auf den ersten Blick so expansiv und disparat, dass es sich kaum einordnen lässt in die Geschichte der gestalterischen Moderne, der noch immer das Image einer von allen Widersprüchen bereinigten Epoche anhaftet. Mollino wurde in der Vergangenheit gerne als universaltalentierter Tausendsassa gesehen, als extravaganter Dandy und »holy madman«, der sich ganz seinen persönlichen Obsessionen (Geschwindigkeit, Frauen, Okkultismus) verschrieben und ein eher widerspenstiges Verhältnis zu den Strömungen seiner Zeit unterhalten habe. Nicht zuletzt führten diese zwar schillernden, aber exotisierenden Zuschreibungen dazu, dass Mollino zu einer Außenseiterfigur stilisiert wurde, deren Werk an die Ränder der Architektur- und Designgeschichte gehört, eine Einschätzung, die seit einigen Jahren revidiert wird – so auch in einer umfassenden Werkschau im Münchener Haus der Kunst. Unter dem Titel »Maniera moderna« versucht die Ausstellung den Architekten und Designer als Vertreter einer »divergenten Moderne« vorzustellen. Das Werk wird von den beiden Kuratoren Wilfried Kühn und Armin Linke nicht auf individuelle Exzentrik zurückgeführt, sondern als eine Form des konzeptualisierten Manierismus begriffen, die fest in der Moderne verankert ist und sich aus einer Reihe bewusster Entscheidungsprozesse und präziser Verbindungen konstituiert.
Die Vielseitigkeit und Heterogenität der Arbeiten findet in der Ausstellung ihre Entsprechung in einer überaus materialreichen Präsentation, die alle Bereiche von Mollinos Schaffen umfasst. Neben Fotografien, Fotomontagen, Zeichnungen, Skizzen und Architekturplänen, Publikationen und Beiträgen für Magazine, seinen Essays über Architektur, Fotografie (»Message from the Darkroom«) und Abfahrtsski sind zahlreiche Möbel aus den vierziger und fünfziger Jahren ebenso zu sehen wie der 1955 entworfene knallrote Rennwagen »Bisiluro«. Im Kontrast zum atmosphärisch sich verdichtenden Gesamtwerk Mollinos ist die Ausstellungsarchitektur nüchtern, was eine kluge Entscheidung ist. Die Objekte werden in einem neutralen Setting präsentiert, auf Sockeln und in Vitrinen. Dabei geht die Werkschau weder chronologisch vor, noch folgt sie einer genrespezifischen oder gar architekturhistorischen Einordnung. Stattdessen strukturiert »Maniera moderna« die enorme Fülle der künstlerischen Produktion nach Begriffen wie »Choreographie«, »Kinästhetik«, »Theatralisierung«, »Montagen«, »Display« oder »Aneignung« und lässt Mollino dadurch als eine umso aktuellere und an zeitgenössische Praktiken anschlussfähige Figur erscheinen, die für eine explizit interdisziplinäre Praxis steht – eine Form des Arbeitens, die für die damalige Zeit zumindest sehr ungewöhnlich war und erst viel später unter dem scheußlichen Begriff »Crossover« zur Mode wurde. Wie kaum ein anderer Gestalter seiner Zeit verbindet Mollino unterschiedliche Genres, Sprachen und Strukturen sowie Formen der Hoch- und Trivialkultur, seine Nähe zu Theatralität, Camp und anderen unauthentischen Ausdrucksweisen weist ihn als einen Aneignungskünstler und postmodernen Gestalter avant la lettre aus.
Mollino, der zunächst im Büro seines Vaters, einem der bekanntesten Baumeister Turins, arbeitete, ging bereits Mitte der dreißiger Jahre zu den strengen und rationalistischen Bauten der Moderne auf Distanz. War sein erstes Auftragswerk, die Hauptverwaltung für die Federazione Agricoltori Cuneo (1933–35), noch deutlich von der Strenge und Monumentalität faschistischer Architektur geprägt, zeigte schon der nächste Bau, die Società Ippica Torinese (1937–1940), die dynamischen Kurven und körperähnlichen Formen, die für sein weiteres Werk typisch blieben. Mollino machte Anleihen beim Barock, aber vor allem die Pariser Surrealisten übten einen starken Einfluss auf ihn aus, was sich in der Kombination gegensätzlicher Elemente und der Verwendung organischer Formen äußerte. Er ließ strenge Fassaden von ornamentalen Mustern überlagern, serielle und kubische von organischen Formen unterlaufen. Auch fanden scheinbar unzeitgemäße regionale Traditionen Eingang in seine Gestaltung. Mollinos Entwürfe blieben dabei ganz dem Prinzip der Montage verpflichtet: Die verschiedenen Elemente verschmelzen nicht zu einem organischen Ganzen, sondern bleiben als einzelne sichtbar.
Als Architekt konnte Mollino lediglich neun Bauten realisieren. Ein Grund dafür war sicherlich seine künstlerische Kompromisslosigkeit, schließlich war er nicht auf kommerziell einträgliche Aufträge angewiesen – sein Vater hatte ihm ein beträchtliches Vermögen vererbt. Mollinos architektonische Werke, die größtenteils im weiteren Umkreis von Turin und dem Skigebiet Breuil-Cervinia stehen, können kaum einem einheitlichen persönlichen Stil zugeordnet werden, allerdings gehört eine gewisse Hybridität zu ihren hervorstechenden Merkmal. Auch sind die meisten seiner Entwürfe von montanen Elementen durchsetzt. Bei der Arbeit für das Wohnhaus Casa Garelli (1963–65) machte er sich Marcel Duchamps künstlerisches Prinzip des Readymade zueigen. Der Architekt ließ einen alten Getreideschuppen in Blockbauweise abreißen, um ihn an einem anderen Ort wieder aufzubauen und wie eine Skulptur auf einem Steinsockel zu präsentieren. Auch hier verschmelzen Sockel und Wohnhaus nicht, sondern bleiben sich eigentümlich fremd. Das »Casa del Sole« (1945–1955) ist dagegen ein mit elementaren industriellen Materialien gebautes Appartement­hochhaus, dessen modernistischer Look durch eine auf dem Flachdach montierte Holzhütte mit Pultdach gebrochen wird. Die Gestaltung umfasst auch den Innenraum, was für Mollinos Arbeitsweise charakteristisch ist. Für das »Casa del Sole« entwarf er eine Vielzahl von Möbeln, darunter ein Stockbett, das mit wenigen Handgriffen zu einem Doppelbett oder einem Tisch mit Stühlen umgebaut werden kann. Das Bett ist ebenso Teil der Ausstellung wie auch eine Auswahl von Mollinos Designentwürfen, darunter die stark überzeichneten Ohrensessel oder das berühmte Tischgestell für die Ausstellung »Italy at Work« (1950), das der Wirbelsäule eines Tieres nachempfunden ist. Mollinos Möbel, die nie in Serie produziert wurden, sondern Einzelstücke sind und auf Auktionen schwindelerregende Preise erzielen, trieben das »Organic Design« in eine etwas exzentrischere Richtung, indem sie den am menschlichen Körper orientierten Linien eine beschleunigte, kurvige Prägung verliehen.
Die geschwungene Linie lässt sich ebenso in dem 1967 gebauten Teatro Regio in Turin finden, das die Wege der Besucher in fließenden Bewegungen lenkt, wie auch in Mollinos Flug­akrobatik. Er verstand sich dabei als Tänzer, der mit dem Flugzeug ein elegantes Luftballett vollführte. Die Flugbewegungen hielt er in detaillierten Zeichnungen fest. In »Groupe I« etwa, einer Bleistiftskizze, entwarf er eine Choreographie akrobatischer Flugmanöver, wobei ihre Bewegung der wie in die Luft gezeichneten Garderobe ähnelt, die Mollino in den dreißiger Jahren entwarf (»Drago con fiore liberty«). Auf ebensolche nichtsportliche Weise praktizierte Mollino auch Abfahrtsski. Er verfasste 1951 sogar ein Skilehrbuch (»Einführung in den Abfahrtslauf«) mit Fotografien von Skispuren, deren Kurven ihm als Inspiration für Möbel und Gebäude dienten. Mollino hatte keinen futuristischen Begriff von Akrobatik und Sport, sondern suchte vielmehr nach einem artistischen Ausdruck. Mit dem »Bisiluro« nahm er sogar am 24-Stunden-Rennen von Le Man teil. Dieser aerodynamische, aus zwei unterschiedlich großen, raketenförmigen Rümpfen zusammengesetzte »doppelte Torpedo« (so die wörtliche Bedeutung von »Bisiluro«) sah aus, als sei ihm ein Wagenteil abhanden gekommen. Auf der Rennstrecke war das Auto extrem instabil, und schon nach fünf Runden wurde es regelrecht von der Rennbahn geweht. Mollino arbeitete auch an der Entwicklung neuer Technologien, so meldete er Patente für Kunststoffoberflächen an sowie für das Kaltbiegen von Holz.
Mollinos Vorliebe für das Phantastische, Theatrale, für den Traum, findet seinen direktesten Ausdruck wohl in seinem geheimnisvollen fotografischen Werk. Es entstand in verschiedenen Turiner Wohnungen, die er über längere Zeiträume anmietete und als Intérieurs gestaltete. In der »Casa Mollino«, das heute ein Museum ist, stammte dagegen kein einziger der zahlreichen Einrichtungsgegenstände von ihm selbst, was ihn allerdings nicht davon abhielt, sie zu verändern. Ein Sofa von Osvaldo Borsani bezog er mit Leder, eine Vase wandelte er in ein chinesisches Modell um, an der Wand installierte er ein Piranesi-Fake. Häuser und Wohnungen wie das »Casa Mollino« oder die »Casa Miller« (1936) wurden von Mollino nie bewohnt, sie waren vom Lebensalltag befreite Sets für Stillleben und Frauenporträts und schienen außerhalb der Fotografien keine autonome Realität zu haben. Die stark von Man Ray beeinflussten Schwarzweiß-Fotos aus der »Casa Miller« muten wie Filmstils an, in denen sich Surrealismus und Film Noir treffen. An die Stelle von Schatten sind bei ihm Spiegel getreten; neben Vorhängen und Stoffen gehören sie zu den essentiellen Bildelementen. Mitunter sind die Spiegeleffekte so komplex, dass man die Räume nur schwer entschlüsseln kann.
Besonders die Aufnahmen seines Modells Lina Suwarowski im langen, glänzenden Abendkleid sind glamourös. Mollino inszenierte sie wie eine Filmdiva in mondänden Posen. Ein anderes, etwas hitchcockhaftes Porträt (»Ambiguity of Greuze«, Ende der dreißiger Jahre) zeigt ihren Kopf von hinten, er ist auf ein gemaltes Frauenporträt gerichtet, dabei ist das wellige, glänzende Haar mit der Genauigkeit der Hochglanzfotografie arrangiert. Später ersetzte Mollino die Leica durch eine Polaroidkamera, und als Modelle wählte er anstelle von Frauen aus dem Bekanntenkreis bevorzugt Prostituierte. Manchmal wurden sie mit Kleidern und Accessoires ausgestattet oder auch mit Objekten fotografiert, die er designt hatte, so taucht etwa der Holzstuhl für die Architekturfakultät auf mehreren Fotos auf. Mollino bediente sich hier nur scheinbar aus dem Repertoire klassischer Pin-up-Posen. Das Augenmerk liegt vielmehr auf den objekthaft inszenierten Körpern und ihren Rundungen. Im Vergleich zu den durchkomponierten hollywoodesken Schwarzweiß-Fotos erscheinen die nicht zur Veröffentlichung gedachten Aktfotos eher intim und amateurhaft.
Diese schummerigen, auf eine subtile Weise verrucht wirkenden Zeugnisse »geheimer« Begegnungen sollten Mollino in den Tod begleiten, dem er umgeben von den Frauen der Polaroids und anderen persönlichen Schätzen in einem Bett in Bootsform entgegenzusegeln gedachte. Was für seine Architektur, seine Möbel und sonstigen Leidenschaften galt, traf auch auf die imaginierte Umgestaltung seines Hausflurs in eine »Zwielicht-Avenue« zu. Denn: »Alles ist erlaubt, solange es phantastisch ist.«

Maniera moderna. Haus der Kunst, München.
Bis 8. Januar 2011