Erklärt, wie die Nazis in den Osten kamen

Made in GDR

Nach dem Bekanntwerden der rechtsterroristischen »Zwickauer Zelle« muss gefragt werden, wieso die Akzeptanz rechtsextremer Strukturen in vielen ostdeutschen Gegenden so groß ist. Dazu gehört auch eine Beschäftigung mit der Geschichte der DDR und ihrem Antifaschismus.

Man kommt nicht darum herum, nach den Ursachen für die Mordserie der Gruppe »Nationalsozi­alistischer Untergrund« (NSU) zu fragen, die zwischen 1998 und 2011 einen griechischen und acht türkische Einzelhändler aus rassistischen Motiven ermordete und mehrere Bombenatten­tate und Banküberfälle mit vielen Verletzten verübte. Wie waren diese Verbrechen über einen solchen Zeitraum hinweg möglich? Wer hat die Täter gedeckt? Und warum? Wie ist der Umstand zu bewerten, dass die Hintergründe der Ermordung der ebenfalls in Thüringen aufgewachsenen Polizistin Michele Kiesewetter 2007 in Heilbronn noch immer nicht aufgeklärt sind? Und dazu gehört auch die Frage, weshalb offen sichtbare neonazistische Strukturen so lange akzeptiert wurden. Wer herausfinden will, wie und warum das möglich war und ist, muss tiefer graben. Es gilt dabei drei Ebenen zu untersuchen: die DDR, die BRD und ab 1990 das vereinigte Deutschland.

Im ehemaligen Bezirk Gera, zu dem auch Jena gehörte, sind rassistische Einstellungen und Überfälle auf Fremde schon fast Tradition. Im Sommer 1960 kam es an der Betriebs-Berufsschule »Heinz Kapelle« in Pößneck zu rassistischen Übergriffen auf mehrere Arbeiter aus Guinea. 1972 wurden in Gera nationalchauvinistische Einstellungen bei Jugendlichen bekannt. 1987 stand ein junger Mann, Skinhead und Hooligan des FC Carl Zeiss Jena, vor Gericht, weil er in einem Zugabteil der Deutschen Reichsbahn mitreisende Frauen und Männer belästigt und angegriffen hatte. 1991 wurden türkische Fußballspieler aus Fürth, die in Jena ein Freundschaftsspiel absolvieren wollten, von Skinheads angepöbelt und schwer misshandelt. Im September desselben Jahres schlugen, ebenfalls in Jena, mehrere Skinheads mit Knüppeln auf drei Vietnamesen ein.
Die Mitglieder der »Zwickauer Zelle«, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt, sind gebürtige DDR-Bürger, geboren zwischen 1973 und 1977, und ihre Biographien beginnen in Jena. Ab Mitte der neunziger Jahre gehörten die drei zur Jenaer Ortsgruppe des neonazistischen »Thüringer Heimatschutzes« (THS), dort gab es auch enge personelle und organisatorische Überschneidungen bis hin zur NPD, in der der vergangene Woche verhaftete Ralf Wohlleben, der 1975 in Jena geboren wurde, eine führende Rolle spielte. Ihre Sozialisation erfolgte, wie in der DDR üblich, vorwiegend durch staatliche Institutionen. Sie wurden als Kinder und Jugendliche von der Kinderkrippe bis zur Universität mit der herrschenden »realsozialistischen« Ideologie indoktriniert.
Studiert man die Materialien des Bundesarchivs in Berlin und die Archive des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des MfS, ergibt sich der Eindruck, dass in der DDR nicht nur einzelne Neo-Nazis und Rassisten Hitler, die SS und die Wehrmacht verherrlichten. Über Jahrzehnte hinweg wurden auch republikweit Frauen und Männer, die als Arbeiter oder Studenten aus Afrika, Asien und Lateinamerika in die DDR gekommen waren, diskriminiert, sowohl gesellschaftlich als auch institutionell, und aus rassistischen Motiven verbal und tätlich angegriffen. Es gab mehrere Tote und ungezählte Verletzte. Der Staats- und Sicherheitsapparat, über den die SED verfügte, stand diesen Ereignissen »hilflos« gegenüber, die strenge Zensur verhinderte die öffentliche Wahrnehmung dieser Feindschaft gegen alles Nichtdeutsche. Trotz aller Geheimhaltung sahen sich die Funktionäre der Partei immer wieder genötigt, darauf hinzuweisen, dass Neofaschisten entweder durch westliche »Infiltration« oder »Diversion« oder durch zerrüttete Familienverhältnisse dazu gebracht würden, den deutschen Faschismus zu verehren und Fremde und Juden zu hassen.

Die falsche Reduktion der parteikommunistischen Ursachenforschung zum deutschen Faschismus ausschließlich auf politische und ökonomische Zusammenhänge (Dimitroff-These), wurde für die SED zu einem weiteren Hindernis für eine umfassende und tiefgehende Aufarbeitung nicht nur der faschistischen Vergangenheit, sondern auch der Erforschung der anhaltenden neofaschistischen Wirkungen in der Bevölkerung. Einer, der für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der DDR zuständig war, der Stasi-Oberstleutnant Dieter Skiba, sagte vorige Woche in einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt, dass es jetzt so viele Nazis im Osten gebe, sei »auch ein Ergebnis der Strategie, die DDR zu delegitimieren. Da ihr Antifaschismus gleich mit in den Schmutz gezogen wird, braucht man sich nicht zu wundern, wenn das Gegenteil eintritt und sich faschistische Ideologie breitmacht.« Und weiter: »Gesellschaftliche Tendenzen« seien aus dem Westen »rübergeschwappt«. Also vollständige DDR-Verklärung anstatt eines Eingeständnisses, dass einerseits das Faschismus- und Antifaschismus-Verständnis in der DDR den virulenten Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus nicht fassen konnte und wollte und dass andererseits die deutsche NS-Geschichte auch in der DDR nicht so konsequent aufgearbeitet wurde wie immer behauptet. In einem Buch über den Verbleib ehemaliger NS-Funktionäre in der SBZ/DDR habe ich rund 1 500 berufliche und politische Kurzbiographien von ehemaligen NS-Funktionären aufgeführt, denen in der DDR, mit und unter der SED, Karrieren ermöglicht wurden, ohne dass sie für ihre Beteiligung an den faschistischen Verbrechen angeklagt oder verurteilt worden wären.
Für beide deutschen Staaten und Gesellschaften lassen sich bei der Verarbeitung der massenpsychologischen Ursachen und Folgewirkungen des deutschen Faschismus enorme Erkenntnisdefizite konstatieren, und es ist geradezu bizarr, dass in fast allen Publikationen zur Geschichte der DDR konsequent die neofaschistisch und rassistisch orientierte Opposition des Landes unerwähnt bleibt. So ergibt sich kein realistisches Bild der Geschichte der DDR. Das von der SED verhängte und durchgesetzte Dogma der Verdrängung dieser Informationen wirkt bis heute nach. Es ist kaum ein Bewusstsein über diesen Teil der gesellschaftlichen Realität vorhanden.
In West- und in Ostdeutschland hatten sich Neonazis und Rassisten nach 1945 informell auf zwei gemeinsame Ziele konzentriert: die Auflösung der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Mit den politischen Ereignissen ab 1989 konnten sie sich als Teil einer erfolgreichen nationalen Bewegung verstehen. Aus dieser zynischen nationalchauvinistischen Hochstimmung heraus sind auch die pogromartigen Angriffe auf Migranten, zum Beispiel in Hoyerswerda 1991, in Mölln 1992 und in Rostock-Lichtenhagen 1992, zu erklären.

Nach 1989 schlossen sich ost- und westdeutsche Neonazis und Rassisten zusammen. Sie sind von 1991 bis 2010 im vereinten Deutschland nach offiziellen Zahlen des Bundesministeriums des Innern für rund 250 000 Straftaten, 180 getötete deutsche und ausländische Frauen und Männer und für Tausende Verletzte verantwortlich. Ein überproportional hoher Anteil, nämlich das etwa Zweieinhalbfache, entfällt dabei auf ostdeutsche Täter. Auch die Wahlergebnisse für rechtsextremistische Parteien sind in den neuen Bundesländern signifikant höher als im Westen, was zu zahlreichen Mandaten in Kommunal- und Landesparlamenten führte. Über diesen parlamentarischen Weg wiederum fand, zusätzlich zur Finanzierung von »V-Leuten«, eine finanzielle Unterstützung der NPD durch den deutschen Staat statt. Die jahrelang ungestört andauernden rassistischen Morde und Aktionen der Terrorgruppe NSU sind Beleg dafür, dass sowohl die staatlichen Aktivitäten als auch die staatlich alimentierten »Initiativen gegen Rechts« gescheitert sind.
In der DDR waren neonazistische Gruppen und Presseorgane verboten, und dennoch hatte sich eine neonazistische Szene entwickeln können. Die erneuten Forderungen von Politikern und einigen antifaschistischen Gruppen nach einem Verbot der NPD sind insofern fragwürdig. Mit einem Verbot wäre die rassistische Ideologie nicht verschwunden, die rassistischen Einstellungen in der Bevölkerung ebensowenig. Zur Erinnerung: Zwischen 1951 und 2011 sind in West-, später Gesamtdeutschland auf Bundes- und Länderebene über 80 neonazistische Parteien und Gruppen verboten worden – ohne nennenswerten Erfolg. Auch bei der derzeitigen Debatte um das NPD-Verbot lohnt also ein Blick nicht nur auf die west­-, sondern auch auf die ostdeutsche Geschichte.