Belgien hat eine neue Regierung

Zum Erfolg verdammt

Nach anderthalb Jahren hat Belgien eine neue Regierung. Angesichts der Euro-Krise löst dies Erleichterung aus, zu Euphorie besteht aber wenig Anlass.

Das Ende hatte es noch einmal in sich: Etwa 20 Stunden lang verhandelten die angehenden Koalitionspartner über die Frage, aus welcher Partei, vor allem aber aus welcher Sprachgruppe wie viele Minister der neuen Regierung kommen sollten. Die Verhandlungen zogen sich bis in die Nacht hin, Stunde um Stunde meldeten die Nachrichtenagenturen den Stand der Dinge: noch kein Ergebnis. Die letzte Phase der längsten Regierungsverhandlungen der Welt verdeutlichte nochmals, wie schwierig es war, einen Kompromiss auszuhandeln.
Im königlichen Palast zu Brüssel überboten sie sich dann aber doch am folgenden Tag mit Optimismus, die übermüdeten Kabinettsmitglieder um Premierminister Elio di Rupo, den ersten frankophonen Regierungsvorsitzenden Belgiens seit 1979 und den ersten sozialdemokratischen seit 1974. Seit Mai hatte er zwischen potentiellen Koalitionären vermittelt und schließlich geschafft, was seinen sechs Vorgängern misslungen war: ein Bündnis zu formen, in dem es alle Parteien doppelt gibt und das so nur in Belgien möglich ist. Beteiligt sind jeweils frankophone und flämische Sozial- und Christdemokraten sowie Liberale.

Vorausgegangen waren 541 Tage, die selbst im föderalen Belgien, das wegen des Streits um eine weitere Regionalisierung seit fünf Jahren entscheidungsunfähig ist, den Begriff »Staatskrise« neu definierten. Auf der einen Seite standen die nach mehr Autonomie strebenden Parteien Flanderns, einer wohlhabenden Region, in der konservativ-nationale Ansichten vorherrschen. Die frankophone Seite wollte hingegen so weit wie möglich den Status quo einer stark föderalen Regierung beibehalten, wobei es nicht zuletzt um die milliardenschweren Finanztransfers von Flandern in die strukturschwache Wallonie ging. Die Wahlen vom Sommer 2010 waren ein Spiegelbild dieser Konstellation: die sezessionistische Neu-Flämische Allianz (N-VA) dominierte den Norden, di Rupos Parti Socialiste den Süden.
Die Suche nach einer Einigung nahm groteske Züge an, ein Vermittler nach dem anderen scheiterte. Erst im Herbst, als längst von den »Verhandlungen der letzten Chance« die Rede war, fand di Rupo zunächst einen Kompromiss für den zweisprachigen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde, der nach knapp einem halben Jahrhundert symbolpolitischen Streits nun geteilt wird. Wenig später folgte die Einigung beim Thema Staatsreform. In der Arbeitsmarktpolitik, Teilen der Gesundheits- und Verkehrspolitik sowie des Justizwesens entscheiden die Regionen Wallonien, Flandern und Brüssel künftig selbst.
Bereits im vergangenen Winter hatte die Rating-Agentur Standard & Poor’s angekündigt, Belgiens Kreditwürdigkeit herabzustufen, sollte das hochverschuldete Land mangels ordentlicher Regierung weiterhin kein »Sparpaket« beschließen. Wenn seitdem über ein Übergreifen der Euro-Krise auf Belgien spekuliert wurde, löste dies stets eilig demonstrierte Kompromissbereitschaft am Verhandlungstisch aus, die sich schnell in nichts auflöste.
Ende November, als viele Beobachter di Rupo bereits am Ziel wähnten, erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Sozialdemokraten und Liberale konnten sich nicht einigen, wie die geplanten Kürzungen zu realisieren seien. Di Rupo trat – vermutlich war dies seine letzte Möglichkeit – als Vermittler zurück, woraufhin Standard & Poor’s wenige Tage später wie angedroht die Kreditwürdigkeit Belgiens von AA+ auf AA herabstufte. König Albert II. drängte di Rupo, weiterzumachen, und bestellte die Parteivorsitzenden zu Notkonsultationen auf sein Schloss in Ciergnon. Es war ein filmreifer Plot: Tief in den herbstlichen Wäldern der Provinz Namur wurde deutlich, dass man sich ein Scheitern nicht mehr leisten konnte.

Wenige Tage später präsentierte di Rupo die »wichtigsten Kürzungen der Nachkriegsgeschichte«. Das Ziel ist es, das Haushaltsdefizit 2012 auf 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu reduzieren. Dazu sollen 11,3 Milliarden Euro eingespart werden, diese Summe soll weitaus stärker als von di Rupo geplant durch Einsparungen anstelle von Steuererhöhungen aufgebracht werden. Spüren werden dies die Bezieher von Sozialleistungen, Junge, Arbeitsunfähige und Langzeiterwerbslose, denen die Rückstufung auf den Mindestsatz droht. Das Eingangsalter für Vorruheständler wird von 50 auf 55 Jahre angehoben. Die Beschäftigungsquote soll bis 2020 von aktuell knapp 68 auf über 73 Prozent steigen.
Die Reaktionen auf die Sparpläne machen deutlich, in welchem Rahmen die Krisenökonomie der Regierung di Rupo fortan verhandelt wird. Vor allem die liberalen Parteien waren mit dem Konzept zufrieden, während Gewerkschaften umgehend protestierten. Bereits Wochen zuvor hatten sie für Anfang Dezember nach Brüssel gerufen. Dass dieses Datum genau zwischen die Termine für den Haushaltskompromiss und die Regierungsvereidigung fiel, war Zufall, hatte allerdings Symbolkraft, da die Koalition bereits vor ihrem Antritt mit einer ersten Massendemonstration konfrontiert wurde. Weitere Aktionen wie ein 24stündiger Streik sollen folgen. Die Liberalen hingegen werden zweifellos auf weitere Sparmaßnahmen drängen, sollten die beschlossenen Einschnitte nicht den gewünschten Effekt haben.

Zwar sanken die Anleihezinsen als Reaktion auf die Ankündigung der Sparmaßnahmen, doch die Krise bleibt bei einer Staatsverschuldung in Höhe von fast 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts akut, ebenso wie die Rettung der Dexia-Bank, für die Belgien mit 54 Milliarden Euro bürgen will. Fraglich ist, wie lange die Regierung unter diesen Bedingungen bestehen kann, zumal sie weniger auf dem Willen zur Zusammenarbeit beruht als schlicht die letzte verbliebene Möglichkeit ist. »Alles ist besser, als diesen beschämenden Weltrekord im Regierungsbilden fortzusetzen«, schrieb Yves Desmets, ein Kommentator der sozialdemokratischen Tageszeitung De Morgen.
Als seien dies noch nicht genug Probleme, erwartet die Regierung auch Druck von den flämischen Nationalisten der N-VA. Die jüngsten Umfragen bescheinigen der Partei Rekordwerte zwischen 35 und 40 Prozent, ihre Oppositionsrolle ist bestens dafür geeignet, den übrigen flämischen Parteien vorzuwerfen, den »Ausverkauf« des Landes zu betreiben. Vielleicht war es also vorauseilender Gehorsam, dass kaum ein flämischer Minister seinen Eid auch auf Französisch ablegte, während die frankophonen Kabinettsmitglieder mehrsprachig vereidigt wurden.
Einen Vorgeschmack auf die schwierige Zusammenarbeit gab es bereits während der Parlamentsdebatte über die Regierungserklärung. »Dies ist nicht unsere Regierung. Dies ist nicht unser Premierminister. Dies ist eine von Frankophonen dominierte Steuerregierung«, polterte der Vorsitzende der N-VA-Fraktion, Jan Jambon, und kündigte an, die Koalition »knallhart zu bekämpfen«.
Die Prognose von Francis van Woestyne, dem Biographen di Rupos und Kolumnisten der konservativen Tageszeitung La Libre Belgique, überrascht nicht: »Alles andere als ein langer, ruhiger Strom« werde die kommenden Regierungszeit sein. Catherine Ernens von L’Avenir warnt, die Koalition könne »beim kleinsten Windchen kaputtgehen«. Noch düsterer äußert sich Martine Maelschalck in L’Echo: »Di Rupos Aufgabe ist sehr einfach. Wenn er nicht der letzte Premierminister von Belgien sein will, ist er zum Erfolg verdammt.«