Die Suche nach dem Gottesteilchen

Urknall auf Stechmücken-Niveau

Weihnachten steht vor der Tür. Die Christenheit in aller Welt ist empfänglich für Wunder. Und auch im kleinen Genfer Wissenschaftskosmos des Cern hoffen die 3 500 Mitabeiter der Europäischen Organisation für Kernforschung auf die Offenbarung: Sie wollen das Gottesteilchen finden.

Im fensterlosen Salle de Filtration 222 des renommiertesten Kernforschungszentrums Europas hat sich an diesem 13. Dezember die Weltpresse versammelt, um dem Erscheinen des Schöpfers beizuwohnen. Denn das Gottespartikel – alias Higgs-Boson – hat auf seiner Umlaufbahn im Teilchenbeschleuniger 100 Meter unter der Kantine des Cern sein Erscheinen angesagt. Die Wissenschaft ist auf der heißen Spur jenes alles durchdringenden Feldes, das den Bausteinen der Materie ihre Masse verleiht.

So viel Weihnachten auf einmal, kann das ein Zufall sein? »Eine gefährliche Frage!« grinst der selbsternannte Time-Manager des göttlichen Higgs-Teilchens, Rolf-Dieter Heuer, Physiker und Generaldirektor des Cern. Die Zeit sei einfach reif gewesen für das Seminar, in dem die beiden Forscherteams am Elementarteilchenbeschleuniger ihre konkurrierenden Resultate über »Sein oder Nichtsein« (Heuer) des mysteriösen Zauber-Bosons preisgeben. Vor allem die Gerüchte in den Blogs hätten weltweit überhand genommen. Zur Beruhigung der Situation hätten seine beiden Teams an den Atlas- und den CMS-Detektoren an die Öffentlichkeit gehen müssen.
Bei etwa 6 000 Physikern, die in weit über 200 Instituten und Laboren rund um den Globus mit den Wissenschaftlern an den Urknallsimulatoren zusammenarbeiten, lässt sich eben wenig verheimlichen. Und nicht zuletzt Heuer selbst hat mit seiner Ankündigung revolutionärer Erkenntnisse schon seit Monaten die Stimmung angeheizt. In seiner Einladung zur Pressekonferenz spielte er diese jedoch geschickt wieder zum simplen Update herunter. Zumindest bei der Jagd nach medialer Aufmerksamkeit wurden so Erfolge erzielt: Noch am Abend des 13. Dezember feierten nicht zuletzt die deutschen Medien von ARD bis Taz die »99prozentige« Entdeckung des Higgs-Boson – obwohl eigentlich gar nichts Neues passiert war.
Wo also stehen wir nach dem 13. Dezember? Nach wie vor gilt für unsere physikalische Schöpfungsgeschichte das Standardmodell der Teilchenphysik. Dort schreibt der Buchstabe »h« die Annahme des Higgs-Bosons fest. Seine Existenz aber bleibt auch zur Weihnachtszeit 2011 noch reine Glaubenssache. Ein Urteil ohne zu Ende geführten Prozess. Es erzählt die Geschichte von einem Partikel im Urknall, das in jenen Sekundenbruchteilen, in denen es existierte, aller Materie seine Masse im Higgs-Feld zuteil werden ließ.

Eigentlich ist dies die Geschichte des schottischen Physikers Peter Higgs, die dieser sich im Jahr 1964 bei einem Spaziergang ausgedacht haben will. So wie Naturwissenschaftler sich ihre Geschichten eben ausdenken: in jener leichten Verzweiflung über eine Welt, die ihnen in ihren Experimenten als überbordende Datenmenge erscheint und für die sie den Rahmen suchen, der diese Welt von innen und außen zusammenhält. Eigentlich ist das Higgs-Boson also nicht viel mehr als eine wilde Hypothese – gewissermaßen eine künstlerische Intervention der Initiale »h« in den mathematischen Kosmos der Teilchenphysik. Nun aber steht der 85jährige Peter Higgs damit kurz vor dem Nobelpreis für Physik.
In die Theologie transponiert, gleicht seine Geschichte vom allmächtigen Higgs-Teilchen ein wenig dem deus absconditus, dem verborgenen Gott Blaise Pascals, der nur einmal, im Moment ihrer Schöpfung, der Welt ihr Leben einhauchte, um sie anschließend sich selbst zu überlassen. Aber glücklicherweise gibt es Jesus als letzten Beweis. Und es gibt das Cern mit seinen schönen, etwas spröde gewordenen Sichtbetonbauten, die sich tief in das Tal zwischen dem globalen Dorf Genf und der französischen Jura ducken. Hier wird seit Monaten Tag für Tag der Urknall nachgespielt. 100 Meter unter der Erde, im weiten Rund des 27 Kilometer langen Teilchenbeschleunigers LHC, des Large Hadron Collider. Und auch wenn das Gottesteilchen dabei noch ein wenig auf sich warten lässt, so ist man hier doch überzeugt: 2012 werden die Forscherteams des Atlas- und CMS-Experiments genug Daten gesammelt haben, um es einfangen zu können. Wenn, ja, wenn es sich nicht doch noch als Luftnummer entlarvt.

Eingegrenzt haben die Tausenden Forscher um ihre beiden Teamleiter Fabiola Gianotti und Guido Tonelli die Suche schon jetzt ganz erheblich. Die Pressebeobachter können dies an einem Bildschirm verfolgen. Die beiden Teamleiter werfen ihre Datenblätter, Kurzstatements, Computergraphiken und Formeln auf eine Leinwand. Daten, die ihnen ihre beiden Detektoren unter der Erde liefern, wo die Protonen aufeinanderprallen und schöne Sternenregen fabrizieren. Trotz strenger Konkurrenz sind die Resultate der beiden Teams von einer erstaunlichen Ähnlichkeit.
Resultat 1: Das Higgs-Boson muss eine Masse von 115 bis 130 Giga-Elektronenvolt (GeV) haben.
Resultat 2: Einige Abweichungen von der Standardkurve des Urknalls lassen vermuten, dass das Higgs-Teilchen sich bei genau 125 GeV ins Nichts zerstäubt. So weiß zumindest Atlas-Leiterin Gianotti zu berichten, und ihr CMS-Konkurrent Tonelli ergänzt: »Durch eine verfeinerte Analyse und zusätzliche Daten, die uns unsere wunderbare Maschine liefern wird, werden wir sicherlich noch 2012 eine Antwort finden.«

Rolf-Dieter Heuer ist »begeistert«. Seine Vorhersagen sind eingetroffen, was im Pressepulk eher Langeweile aufkommen lässt. Das ist der Moment, um den Experten noch ein paar richtig große, also dumme Fragen zu stellen. Zum Beispiel, ob da unten die Welt neu geschaffen wird. Hans Peter Beck, Privatdozent am Berner Albert-Einstein-Center für fundamentale Physik, scheint an solche Fragen gewöhnt zu sein. Also lächelt er und macht, was Physiker gern mit Laien machen. Er erschafft Szenarien, in denen das Unsichtbare sichtbar wird. Der Teilchenbeschleuniger des Cern reproduziere den Urknall ja nur auf »Stechmücken-Niveau«, erklärt er, also nur den Zusammenprall einzelner Protonen statt das anfängliche große Ganze. Eine schmerzhafte Vorstellung – aus Sicht der Stechmücke. Sollte dabei auch noch das Higgs-Feld entstehen, dann stellen wir uns das schöne Bild von den Hirten auf dem Felde vor, die sich angesichts des Kometen zusammenrotten und so wegen eines Gerüchtes von einer ganz neuen Welt Masse bilden. Und wenn es das Higgs-Boson nun doch nicht gibt? Hans Peter Beck fände das gar nicht so schlecht: »Das wäre zwar weniger elegant, würde unser Standardmodell aber komplexer gestalten.«