Die Post-Privacy-Bewegung verkündet das Ende der Privatsphäre

Organisierter Kontrollverlust

In Berlin trafen sich bei der »0. Spackeriade« Datenschutzkritiker, die eine Post-Privacy-Bewegung als emanzipatorische Antwort auf den Kollaps der Datenkon­trolle im Internet fordern.

Vor 30 Jahren herrschten in der Computerwelt noch klare Verhältnisse: »Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard/Finanzamt und das BKA, haben unsere Daten da«, sangen Kraftwerk und beschrieben die Computernetzwerke neutral bis euphorisch als Medienverbund, der »Nummern, Zahlen, Handel, Leute« miteinander verschaltet. Doch der damalige Zeitgeist teilte diese technophile Begeisterung nicht. Großer Widerstand gegen staatliche Überwachungsmaßnahmen entzündete sich bekanntlich an der Volkszählung und führte schließlich 1987 zum vom Bundesverfassungsgericht festgestellten »Recht auf informationelle Selbstbestimmung«, das bis heute die Grundlage der restriktiven deutschen Datenschutzgesetzgebung bildet.
Seitdem herrschte lange Zeit ein Konsens in der linken Szene wie auch unter Hackern und Netzaktivisten: Nur ein starker rechtlicher Schutz, technologische Abwehrmaßnahmen und ein sparsamer Umgang mit den eigenen Daten sichern die private Integrität und Autonomie des Einzelnen vor unerlaubten Zugriffen durch staatliche Institutionen oder Konzerne. Datenschutz galt als Grundlage und Voraussetzung eines freien, selbstbestimmten Informationsaustauschs. Wer etwas auf sich hielt, nutzte für seine E-Mails kryptographische Verfahren wie PGP, um sich vor den möglichen Blicken des Verfassungsschutzes und des BKA zu schützen. Und von den frühen Tagen des Internet bis zur Myspace-Ära tobten sich die User online vorzugsweise in multiplen Identitäten aus, deren Pseudonyme die Anonymität der realen Personen gewährleisteten.

Heute zeigt sich ein gänzlich anderes Bild, auch wenn das staatliche Überwachungsbegehren keineswegs abgenommen hat, wie die Debatten um die Vorratsdatenspeicherung und den Bundestrojaner zeigen. An anderer Front dagegen schwingt sich der Staat, etwa in Gestalt der Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) oder des schleswig-holsteinischen Datenschutzbeauftragten Thilo Weichert, zum vermeintlichen obersten Beschützer der Privatsphäre seiner Bürger auf, der versucht, datengierige Konzerne wie Google oder Facebook in ihre Schranken zu weisen. Zugleich haben sich die gesellschaftlichen Einstellungen zum Umgang mit vormals privaten Informationen stark gewandelt: Sharing statt Datensparsamkeit lautet die Devise. Gewollt und ungewollt geben wir unseren »Friends« und sozialen Kreisen, Onlinehändlern oder gleich der ganzen Internetöffentlichkeit immer mehr persönliche Daten preis, und zwar meist unter unserem Klarnamen. So füttern wir stetig die ins schier Unermessliche anwachsenden Datenbanken von Internetkonzernen wie Facebook, Amazon und Google.
Ein Großteil der netzpolitisch Aktiven verteidigt die Freiheit des Internet und seiner User immer noch mit den Waffen des Datenschutzes, so etwa die Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC), Constanze Kurz und Frank Rieger, in ihrem Buch »Die Datenfresser«. Neben dem Staat sind dabei die Konzerne in den Fokus der Kritik gerückt, vermarkten sie doch lukrativ die Daten ihrer Nutzer für passgenaue Werbung. Die scheinbar kostenlosen Dienste bezahlt das Heer der User mit seinen Daten, dem Rohstoff der Internet­ökonomie.
Doch die einheitliche Front der Datenschützer löst sich zunehmend auf. Seit knapp zwei Jahren formiert sich im Netz eine Gegenbewegung. »Post-Privacy« lautet das modische Wort, mit dem einige Datenenthusiasten das Ende der Privatsphäre offensiv begrüßen und das uneingeschränkte Teilen auch persönlichster Daten im öffentlichen Raum des Internet propagieren. Mit der Privatsphäre, so das neue Credo, sei es vorbei und das sei auch gut so. Als »Post-Privacy-Spackos« bezeichnete CCC-Sprecherin Kurz diese Dissidenten des Dogmas vom Datenschutz, die sich die vermeintliche Verunglimpfung prompt zu eigen machten und sich im vergangenen Frühjahr zur »datenschutzkritischen Spackeria« zusammenfanden und am 29. Dezember parallel zum alljährlichen »Chaos Communication Congress« zu ihrem eigenen Kongress, der »0. Spackeriade«, einluden.

Einer ihrer Vertreter, der Blogger und Filmkritiker Christian Heller, hat kürzlich mit »Post-Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre« das erste Buch zum Thema vorgelegt. Für Heller und seine Mitstreiter sind Privatsphäre und Datenschutz verstaubte Konzepte aus dem vordigitalen Zeitalter, die zwar noch gesellschaftlich wirksam sind, aber in absehbarer Zeit ihre Bedeutung und Berechtigung komplett einbüßen werden. Die Begründung: Datenschutz funktioniert angesichts der exponentiell wachsenden öffentlichen Datenmenge sowieso nicht mehr. Sind die persönlichen Daten erst einmal in den Zauberbrunnen namens Internet gefallen, holt sie dort niemand wieder heraus und ihre weiteren Wege und Schicksale sind kaum zu kontrollieren. Kontrollverlust nennt der Blogger Michael »mspro« Seemann das. Man mag diese Einsicht für trivial halten, schließlich liegt es gerade im Wesen und in der Struktur des Internet, dass die Übertragung von Daten ihre Kopierbarkeit einschließt. Doch zeigt die These vom Kontrollverlust, welches Verständnis vom Netz hinter der Idee der Post-Privacy steht.
Die Informationsfreiheit, also der schrankenlose Zugang zu Daten und ihre ungehinderte Übertragung und Rekombination, wird gegen den Datenschutz in Stellung gebracht. Er bedrohe die »Anarchie des Netzes«, die es um jeden Preis zu verteidigen gelte. Heller deutet Datenschutz als staatliches Kontrollinstrument, um die Informationsflüsse zu kanalisieren oder gar zu blockieren. Und wenn es um die Staatsräson geht, werden die Grundsätze des Datenschutzes über Bord geworfen, siehe Vorratsdatenspeicherung. Aus dieser Sicht dient der Datenschutz entweder falschen Machtinteressen oder entpuppt sich als weitgehend wirkungslos. Wer sich für ihn ausspricht, steht auch nicht mehr gegen den Staat, sondern spielt dessen Spiel und behindert die freie Ausbreitung von Informationen.
Stattdessen gehe es darum, die Chancen auszuloten, die sich mit der immer größer werdenden Macht intelligenter Algorithmen und stetig wachsenden Datenbergen auftun: Mehr Daten bedeuten neue Erkenntnisse, erweiterte Handlungsmöglichkeiten und bessere soziale Vernetzung. Gleichzeitig werden Begriff und Sache des Privaten von Heller als historisch variable und ambivalente Konstruktion entlarvt, die keineswegs immer der Befreiung gedient hätte, wie es uns die liberal-bürgerliche Emanzipationserzählung weismachen will. So war etwa der im 18. und 19. Jahrhundert entstandene bürgerliche Schutzraum des Privaten auch ein Instrument zur Unterdrückung der Frauen, wogegen sich später die Frauenbewegung mit ihrem Schlachtruf »Das Private ist politisch« richtete. Auch für Homo­sexuelle war, wie Heller ausführt, das Heraustreten aus den verborgenen Kaschemmen und Hinterzimmern – das Coming-out – ein Akt der Befreiung.

Statt in vergeblicher Kontrolle der Datenströme sollen wir uns also in »Post-Privacy-Taktiken« üben. Ein öffentlich geführtes Leben verhelfe, so die Überlegung, zu größerer gesellschaftlicher Transparenz und stärke damit letztlich auch Toleranz und Solidarität sowie die Freiheit des Einzelnen. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch der amerikanische Blogger und Journalistikprofessor Jeff Jarvis mit seinem ebenfalls im vergangenen Herbst erschienenen Buch »Public Parts«. Totale Transparenz und Öffnung der Daten für alle sind für die Propheten der Post-Privacy der beste Weg zur Befreiung.
Dabei verkennen sie allerdings zweierlei: Zum einen ist es bei aller berechtigten Kritik am gegenwärtigen Datenschutzregime nicht einzusehen, warum Informationsfreiheit bzw. Transparenz und »Privacy« gegeneinander ausgespielt werden müssen. Sicher, der Datenschutz hechelt der rasanten technologischen Entwicklung verzweifelt hinterher und trägt zuweilen paternalistische Züge. Dennoch gibt es wenige Gründe, dieses Abwehrrecht des Einzelnen gegen den staatlichen und privatwirtschaftlichen Zugriff ohne Not vollständig über Bord zu werfen.
Zum anderen geraten Heller trotz einer Analyse des Verhältnisses von Wissen und Macht die realen Machtverhältnisse aus dem Blick. Der einzelne User verfügt eben nicht über die geballte Datenmacht eines globalen Internetkonzerns wie Facebook. Ob Phänomene wie Wikileaks oder die Open-Data-Bewegung solche Ungleichgewichte wirksam aushebeln können, bleibt abzuwarten. Der Traum von einer transparenten Gesellschaft ist jedenfalls keine emanzipatorische Utopie, denn Transparenz als solche löst keine Macht­asymmetrien auf. Zwar ist der Post-Privacy-Bewegung zugute zu halten, dass sie den in immergleichen Abwehrreflexen erstarrten Datenschutzdiskurs aufmischt und dazu zwingt, seine Voraussetzungen zu hinterfragen. Eine politische Option, die progressive Antworten auf die gegenwärtig stattfindende massive Rekonfiguration des Verhältnisses von Privatem und Öffentlichem liefert, ist sie aber noch nicht.