Der Konflikt zwischen Orthodoxen und Säkularen in Israel

Davidstern und Randale

Nach den Ausschreitungen von Ultraorthodoxen in der Kleinstadt Beit Shemesh wird in Israel über den Einfluss der religiösen Extremisten auf Politik und Gesellschaft diskutiert. Dass sich das Land mitten in einem »Kulturkampf« befinde, behaupten allerdings eher ausländische Medien.

Die schüchterne achtjährige Naama Margolis wurde Ende Dezember in der Kleinstadt Beit Shemesh auf dem Schulweg von einem ultraorthodoxen Extremisten bespuckt und als »Hure« beschimpft, weil sie ihm nicht züchtig genug gekleidet war. Nach den Chanukka-Ferien war der Fall zu einem nationalen Thema geworden und Naama wurde von Journalisten zur Schule begleitet, wo das mittlerweile berühmt gewordene Mädchen vom israelischen Erziehungsminister Gideon Sa’ar empfangen wurde.
Einige Tage zuvor hatte Tanja Rosenblit, eine Mitarbeiterin des eher religionskritischen Nachrichtenportals Ynetnews, für Aufsehen gesorgt. Sie hatte gegen die eigentlich gesetzlich verbotene, in orthodoxen Vierteln aber weiterhin praktizierte Geschlechtertrennung in öffentlichen Bussen verstoßen. Anstatt sich wie viele andere Frauen in den hinteren Teil des Busses verdrängen zu lassen, setzte sie sich auf einen der vorderen Plätze. Ein schimpfender Frommer wurde von einem herbeigerufenen Polizisten aus dem Bus geholt und durfte nicht mitfahren. Rosenblit wurde zur Heldin der Stunde, sie wurde sogar mit Rosa Parks verglichen – der schwarzen US-Amerikanerin aus Alabama, die 1955 in einen »weißen« Bus stieg, um gegen die Rassensegregation zu protestieren.
In derselben Woche wurde in Jerusalem der 44 Jahre alte Ultraorthodoxe Schlomo Fuchs dem Richter vorgeführt und wegen sexueller Belästigung verklagt. Fuchs hatte in einem Linienbus die Soldatin Doron Matalon beschimpft, weil sie sich geweigert hatte, im hinteren Teil des Busses zu sitzen.
Das Thema war nun auf den ersten Seiten aller wichtigen israelischen Zeitungen. Staatspräsident Shimon Peres wetterte gegen die »unjüdische« Diskriminierung von Frauen, während Ministerpräsident Benjamin Netanyahu eine Kabinettssitzung mit der Erklärung eröffnete: »Israel ist ein demokratischer, westlicher, liberaler Staat. Der öffentliche Bereich ist offen und sicher für jeden, für Frauen wie für Männer.« Die israelische Polizei erhielt die Anweisung, »null Toleranz« gegenüber ultraorthodoxen Extremisten walten zu lassen. Sogar einige Rabbiner verurteilten die Vorfälle und beklagten, »Extremisten« brächten die gesamte Gemeinschaft in Verruf. Denn auch für die meisten Ultraorthodoxen gelte das Prinzip: »Leben und leben lassen.«
Etwa 200 Demonstranten sorgten in Mea Shearim, dem ultraorthodoxen Viertel in Jerusalem, für einen zusätzlichen Sturm der Entrüstung, weil sie einigen Kindern gestreifte Häftlingsanzüge angezogen und ihnen einen »Judenstern« an die Brust gesteckt hatten. Derartiger Missbrauch von Nazisymbolen seitens der Ultraorthodoxen ist nicht neu, aber er erzeugt jedes Mal wieder einen Aufschrei in der israelischen Gesellschaft.

Die Ultraorthodoxen machen etwa zehn Prozent der Bevölkerung Israels aus. Sie sind zersplittert in Litauer, Chassiden und andere Gruppen, die alle ihre unterschiedlichen Traditionen pflegen. Sie leben meist in abgeschotteten Vierteln, da sie die Nähe einer Synagoge, ritueller Tauchbäder und besonders koscherer Läden benötigen. Innerhalb ihrer Communities führen die Orthodoxen ein weitgehend autonomes Leben und propagieren ihre Kultur und Traditionen mit altmodischen Wandzeitungen, da moderne Medien wie Radio, Fernsehen oder Internet verpönt sind. Die hermetisch abgeschirmten Gemeinschaften wenden sich im Streitfall an ihre Rabbiner und nicht an die israelische Justiz. Die Polizei mischt sich ihrerseits kaum ein.
Die meisten Ultraorthodoxen sind politisch eher indifferent. Einige Sekten stehen dem jüdischen Staat feindselig gegenüber, weil sie dessen Gründung als Gotteslästerung betrachten. Mitglieder der fanatischen Sekte Neturei Karta etwa verweigern den israelischen Personalausweis und verschmähen konsequent Staatsgelder. Vertreter dieser Gruppe trafen sich in der Vergangenheit bereits mit Yassir Arafat und mit Mah­moud Ahmadinejad, um die Zerstörung Israels voranzutreiben. Die israelische Siedlungspolitik interessiert sie überhaupt nicht. Die in deutschen Medien verbreitete Behauptung, die Siedler seien ultraorthodox, ist demzufolge eher als Klischee zu betrachten.
Säkulare Israelis machen normalerweise einen Bogen um die »Pinguine« mit den weißen Hemden und schwarzen Kaftanen. Erst wenn fanatische Fromme versuchen, ihren Lebenswandel der weltlichen Umgebung aufzuzwingen, kommt es zu Konflikten. Das betrifft oft auch alltägliche Angelegenheiten, etwa wenn in Jerusalem am Sabbat Parkhäuser geöffnet bleiben und Ultraorthodoxe dagegen demonstrieren.
Der Staat Israel berücksichtigt in seinen Gesetzen keine religiösen Vorschriften – anders als muslimische Länder, in denen die Einhaltung der Fastenvorschriften während des Ramadan gesetzlich vorgeschrieben sind, anders als etwa in Deutschland, wo es gesetzlich untersagt ist, an manchen sogenannten stillen Feiertagen wie Karfreitag, Allerheiligen, Volkstrauertag und Totensonntag öffentlich zu tanzen. Nicht einmal der wöchentliche Ruhetag ist in Israel gesetzlich festgelegt. Muslime und Christen können den Sonntag oder den Freitag als Ruhetag wählen. In gemischten Städten wie Haifa oder Be’er Scheva fahren die öffentlichen Busse auch am Sabbat.
Die Mehrheit der Israelis wählt weltliche Parteien wie Likud, Kadima oder die Sozialisten. Die Ultraorthodoxen sind in der Knesset mit drei kleinen verfeindeten Parteien vertreten. Traditionell beteiligen sie sich an den Regierungskoali­tionen, egal ob links oder rechts, sie verweigern aber grundsätzlich ministerielle Verantwortung. Den Vorsitz des Finanzausschusses beanspruchen sie aber für sich, um ihr eigenes Erziehungssystem zu finanzieren.
Es war der Staatsgründer David Ben Gurion, der 1948, nach der Vernichtung der Ostjuden während des Holocaust, einen Beschluss fasste, der sich mittlerweile als fatal herausstellt. Damals gab es in Israel nur knapp 3 000 Ultraorthodoxe. Diese wollte Ben Gurion als Hüter des fast ausgerotteten ultraorthodoxen Judentums besonders schützen. Wer sich ausschließlich dem Studium der Heiligen Schriften widmete und deshalb von Spenden lebte, sollte deshalb vom Militärdienst befreit werden. Doch der Anteil der Orthodoxen an der Bevölkerung stieg wegen ihrer hohen Geburtenrate erheblich. Die kinderreichen Familien konnten vom Kindergeld gut leben. Und wegen der Verpflichtung, nur zu beten und zu lernen, um nicht eingezogen zu werden, gingen sie auch keiner Arbeit nach. Dieser Umstand führte zu Spannungen in der Gesellschaft. Die weltliche Mehrheit der Israelis bekam zunehmend das Gefühl, »Parasiten« finanzieren und die Last der Landesverteidigung alleine tragen zu müssen. Unmut kam auch auf, als Ultraorthodoxe staatliche Symbole verunglimpften, und etwa am Holocaust­gedenktag und am Gedenktag für gefallene Soldaten während des Ertönens der Gedenksirenen demonstrativ weiterliefen und nicht für die zwei Schweigeminuten innehielten.

Seit einigen Jahren bahnt sich ein Wandel an. Netanyahu kürzte das Kindergeld, was Orthodoxe zwang, Geld zu verdienen. Zugleich richtete die Armee separate Einheiten ein, etwa das Bataillon »Haredi Nahal«, in dem orthodoxe Männer dienen und studieren. Dort ist die Küche besonders koscher und es besteht keine Gefahr, einer Frau zu begegnen. Damit wurde der Prozess der Integration der Orthodoxen in die Gesellschaft eingeleitet, abgeschlossen ist er aber noch nicht, wie auch die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen.
Die israelische Gesellschaft ist ein buntes Mosaik. Ein Fünftel der Israelis sind Araber. Auch sie leben in einer »eigenen« Kultur mit separatem Erziehungssystem. Etwa so viele jüdische Israelis fasten am Yom Kippur wie deutsche Christen sich einen Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer stellen. Das macht sie noch längst nicht »fromm« oder gar »ultraorthodox«. Es gibt »Halbfromme«, die sich nur an einige Regeln halten und Fromme, die am gestickten Käppchen auf dem Hinterkopf erkennbar sind. Dann gibt es die »Charedim« (die Gottesfürchtigen), die große Hüte, Schläfenlocken und Kaftane tragen.
Differenzen werden in Israel gerne öffentlich und lautstark ausgetragen, das betrifft nicht nur die Religion, sondern auch soziale Themen. Seit dem Sommer gibt es auch in Israel Proteste gegen die sozialen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Dabei war es interessant zu beobachten, wie insbesondere internationale Medien behaupteten, der »Arabische Frühling« habe nun auch Israel ergriffen, es werde für Netanyahu und Lieberman eng. Diese Darstellungen erwiesen sich jedoch schnell als wirklichkeitsfremde Wunschträume.

Deutschland ist in der Berichterstattung über Konflikte innerhalb der israelischen Gesellschaft ein besonderer Fall. Seit Jahrzehnten zieht sich der israelische »Kulturkampf« mitsamt der Vorhersage eines baldigen Endes Israels wie ein Leitmotiv durch deutsche Medien. Dass Israelis sich nur wegen der Bedrohung von außen nicht untereinander zerfleischen, ist eine wiederkehrende These. Schon 1955 veröffentlichte Die Zeit einen Artikel, in dem es hieß: »Die elementaren Gegensätze wurden durch den Ausbruch des israelisch-arabischen Krieges zurückgedrängt.« In den neunziger Jahren wurde viel über den Konflikt zwischen der Mehrheit orientalischer Juden in Israel und den frisch eingewanderten russischen Juden berichtet, der gerne als »Kulturkampf« dargestellt wurde. Der Spiegel wusste vor 13 Jahren: »50 Jahre nach der Staatsgründung ist Israels Zukunft noch nicht gesichert. Gefahr droht von radikalen Arabern, vor allem aber durch den Kulturkampf zwischen orthodoxen und weltlichen Juden.«
Nicht nur deutsche Kommentatoren spekulieren immer wieder auf ein Ende des Staates Israel – etwa wenn Einwanderer ausbleiben oder 3 000 Israelis bei der deutschen Botschaft einen EU-Pass beantragen, um visumsfrei in die USA reisen oder in Europa studieren und arbeiten zu können –, auch unter israelischen Intellektuellen ist diese Weltuntergangsstimmung verbreitet. Israelische Kontrahenten treiben die Gefahr angesichts der Ultraorthodoxen, tatsächlicher oder so empfundener antidemokratischer Gesetzesvorlagen, der umstrittenen Siedlungspolitik oder demografischer Verschiebungen zugunsten der arabischen Bevölkerung mit entsprechender Schärfe auf die Spitze, um ihren Standpunkten Nachdruck zu verleihen. Ein leidenschaftlich vorgetragenes Argument zur Gestaltung der eigenen Zukunft, je nach Weltanschauung und poli­tischer Position, ist jedoch nicht vergleichbar mit der Neigung deutscher Medien, die Überlebensfähigkeit Israels infrage zu stellen. Problematisch ist die Tendenz vieler deutscher Journalisten, fast nur die Vertreter einer ausgeprägten Richtung zu zitieren wie etwa Tom Segev, Uri Avnery, Mosche Zuckermann, Amira Hass oder Gideon Levy, die sich in ihren Anschauungen kaum unterscheiden und keinesfalls den »Mainstream« repräsentieren, der Israels Weg bestimmt, solange das Land eine Demokratie ist.