Die Zahl der Arbeitslosen

Deutschland dankt

Die Bundesregierung feiert: Noch nie seien so viele Menschen erwerbstätig gewesen wie heute. Dem liegen nicht nur statistische Tricks zugrunde, sondern auch der Wandel der Beschäftigungsformen.

Die Arbeitslosigkeit ist ein unerschöpfliches Thema für die Politik. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte sich an ihrer Reduzierung messen lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel steht dem »Genossen der Bosse« darin nicht nach. Auch das von der FDP geführte Wirtschaftsministerium will sich mit gesunkenen Arbeitslosenzahlen profilieren. Landauf, landab ließ man ein Lob auf die Nation plakatieren: »Danke, Deutschland«. Anlass dafür boten die Meldungen des Statistischen Bundesamts und der Bundesagentur für Arbeit (BA) vom Rekord bei den Beschäftigungszahlen und vom Tiefststand der Arbeitslosigkeit.
Pünktlich zum Beginn der ersten Arbeitswoche im neuen Jahr präsentierte das Statistische Bundesamt vorläufige Daten zur Erwerbstätigkeit in Deutschland. Nachdem der Titel des Exportweltmeisters schon 2009 an China verloren ging, kann Deutschland nun zumindest Rekorde im eigenen Land vorweisen: Mit 41,1 Millionen seien im vergangenen Jahr so viele Menschen erwerbstätig gewesen wie noch nie, heißt es. Von historischer Bedeutung ist demnach auch die offizielle Zahl der Arbeitslosen von 2,78 Millionen im Dezember. »Mit 6,4 Prozent liegt die Arbeitslosenquote so niedrig wie zuletzt vor 20 Jahren«, betont der Stab von Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP). Zugleich sei das verfügbare Einkommen der Haushalte gestiegen.

Doch schon ein kurzer Blick ins Ausland genügt, um die Besonderheit der deutschen Erfolge am Arbeitsmarkt zu bestreiten: Die Zuwachsrate aller Erwerbstätigen lag gegenüber 2010 in der Bundesrepublik bei 1,2 Prozent, in der Schweiz jedoch bei 2,2 Prozent; die Zahl speziell der Beschäftigten wuchs hierzulande um 1,3, in Österreich immerhin um 1,9 Prozent. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit unterlässt die Bundesregierung derartige internationale Vergleiche. Sie kann sich dabei auch auf irreführende Darstellungen der BA berufen. Diese gibt die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt zwar mit knapp drei Millionen an – Ein-Euro- und Mini-Jobber sowie ältere Erwerbslose, die aus dem Vermittlungsprogramm der Agentur fallen, werden dabei nicht mitgezählt –, doch die Agentur weist auch darauf hin, dass die Messgröße der Unterbeschäftigung »ein umfassenderes Bild vom Defizit an regulärer Beschäftigung« vermittele, weil diese auch jene umfasst, die »nicht als arbeitslos gelten«. Demnach sind knapp vier Millionen Menschen vom Arbeitsmarkt »un- oder unterversorgt«. In einer »Arbeitskräfteerhebung«, bei der Privathaushalte stichprobenartig befragt wurden, ermittelte das Statistische Bundesamt gar die Zahl von 8,4 Millionen Un- oder Unterbeschäftigten. Nichtsdestotrotz verlautbart die Bundesagentur, »der Zuwachs sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung« sei bei der jüngsten Entwicklung maßgeblich.
Das Wirtschaftsministerium phantasiert gar: »Über 41 Millionen haben einen festen Arbeitsplatz.« Dem liegt eine nebulöse Vermischung von Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zugrunde. Denn die Statistiker wiesen die Zahl der abhängig Beschäftigten mit 36,5 Millionen aus, die restlichen 4,5 Millionen sind Selbstständige und mithelfende Familienangehörige. Und die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lag im Oktober der Bundesagentur zufolge bei nur 29 Millionen – eine erhebliche Differenz von 30 Prozent.
Doch aussagekräftiger als die absoluten Zahlen ist der Kontext, in dem sie stehen. Um die Lage der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt zu beurteilen, ist die Entwicklung des Gesamtarbeitsvolumens und der Anzahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter ein einfaches und zuverlässiges Mittel. Denn wenn die Zahl der Erwerbstätigen steigt, das Arbeitsvolumen aber stabil bleibt oder sogar sinkt, etwa aufgrund von Innovation und Produktivitätssteigerung, wirkt sich das negativ auf die »Ware Arbeitskraft« aus – nach der Volkswirtschaftslehre sinken die Preise bei steigendem Angebot. Und genau das passiert: Obwohl es immer mehr Erwerbstätige gibt, leisten diese heute insgesamt drei Milliarden Arbeitsstunden weniger als noch vor 20 Jahren. Es wurden also nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen, sondern Arbeit lediglich auf mehr Beschäftigte verteilt, in der Regel auf billigere Teilzeitkräfte. Als Erfolg gewerkschaftlicher Anstrengungen zur Arbeitszeitverkürzung dürfte diese Entwicklung kaum zu begreifen sein, zumal aufgrund der Intensivierung von Arbeit häufig mehr Leistung in weniger Zeit erbracht werden muss.

Vollbeschäftigung liegt nicht im Interesse der Unternehmer. Vielmehr war und ist drohende chronische Erwerbslosigkeit ein Mittel, um Beschäftigte und Gewerkschaften zu Lohnzurückhaltung und anderen Zugeständnissen zu bewegen. Sinkende Reallöhne, weniger Beschäftigtenrechte und mehr Konkurrenzdruck im Alltag sind die Folgen. Doch wird der Ausnahmezustand der Erwerbslosigkeit zur Normalität, stellt die ständige existentielle Bedrohung ganzer Bevölkerungsschichten auch die herrschende Ordnung in Frage. Davon war zumindest John Maynard Keynes, der geistige Vater des modernen Sozialstaats, überzeugt. Daher könnte das Interesse der Bundesregierung rühren, die Arbeitslosigkeit mit Rechentricks zu drücken. Womöglich hat auch die Massenarbeitslosigkeit ihre Schuldigkeit getan. Denn da die Löhne trotz zunehmender Produktivitität stagnieren, lässt sich nun – mit flexibleren Modellen von Arbeit – testen, wie niedrig die Arbeitslosenrate sein kann, ohne ihre Angst erzeugende Wirkung zu verlieren.
Dabei ist der Arbeitsmarkt – das wird gerne übersehen – eine Staatsdomäne par excellence. Was Max Weber die »Hungerpeitsche« nannte – Lohn ist nicht Anreiz genug, es braucht die Angst –, ist längst auf den Sozialstaat übergegangen. Als wesentlichen Faktor zur Senkung der Arbeitslosigkeit bezeichnet die BA denn auch »die Reformen am Arbeitsmarkt« im Zuge der Agenda 2010. Denn die »aktivierende Arbeitsmarktpolitik« erhöhe auch bei guter Konjunktur ganz unmittelbar den Druck auf Erwerbslose. Tatsächlich ist im vergangenen Jahr allein bei den ALG-I-Beziehern die Anzahl der Sanktionen um mehr als zehn Prozent gestiegen.

Noch Mitte der neunziger Jahre hatte die OECD den Regierungen empfohlen, den Arbeitsmarkt zu »deregulieren«, um die »Arbeitsmarktperformance« zu verbessern und Arbeitslosigkeit zu senken. Kurz: Kündigungsschutz lockern, Arbeitslosengeld und Lohnnebenkosten senken, Lohnverhandlungen individualisieren. Ungeachtet der Tatsache, dass die OECD bereits 2006 ihre Empfehlungen teilweise revidierte, setzen die Parteien in Deutschland weiterhin auf die »Zunahme staatlichen Zwangs und Kontrolle in der Beziehung zwischen Sozialstaat und Individuum«, wie die Soziologin Irene Dingeldey von der Universität Bremen feststellte, und zielen damit auf nur einen Akteur am Arbeitsmarkt, nämlich den schwächsten. Es handelt sich also nicht um einen Rückzug des Staates aus dem Markt, wie der »Neoliberalismus« gerne charakterisiert wird, sondern – im Gegenteil – um ein vom Staat straff organisiertes Arbeitsmarktsregiment, mit dem gewissermaßen die Arbeitsmarktbedingungen des 19. Jahrhunderts künstlich wiederhergestellt werden.
Dabei ist es ein offensichtlicher Trugschluss, sich diesen besonderen Markt derart schematisch vorzustellen, wie es in der »aktivierenden« Beschäftigungspolitik zum Ausdruck kommt. Auf den Arbeitsmarkt und den Preis der Arbeit wirken zum Beispiel auch Organisationen wie die Gewerkschaften, die ihrerseits den juristischen Vorgaben des Tarifsystems ausgesetzt ist. Während etwa in Frankreich der gewerkschaftliche Organisationsgrad unter 10 Prozent liegt, gelten allgemeinverbindliche Kollektivverträge für 90 Prozent der Beschäftigten. Dagegen sind in Deutschland gut 20 Prozent der Beschäftigten organisiert, aber nur 60 Prozent werden tariflich entlohnt. Auch die Strukturen der Gewerkschaftsorganisation spielen hier eine Rolle. So haben zentralistische Gewerkschaftsapparate – das belegen verschiedene Studien – eher das große Ganze im Blick. Ihr Fokus verschiebt sich von den Betrieben und Branchen auf den Standort, dessen Wohl – also die Konkurrenzfähigkeit – das Kalkül der Gewerkschaften bestimmt. Im Endeffekt simulieren sie so die Lohnsetzungsprozesse von zerklüftetenden Betriebsgewerkschaften, die – unter dem Eindruck betrieblicher Konkurrenz – um das Wohl ihres Betriebs fürchten. Die OECD zumindest hält solch zentralisierte Lohnverhandlungssysteme mittlerweile für eine großartige »Arbeitsmarktinstitution« – fast so gut wie individualisierte Lohnverhandlungen.