Militarisierter Alltag in Kolumbien

Heavy Metal Colombia

Eindrücke aus einem Land, in dem offiziell kein Krieg herrscht.

Die Sonne knallt auf den hellen Sand von Taganga, nur die vereinzelt in den Himmel ragenden Palmen spenden ein wenig Schatten. Gerade fährt wieder ein kleines Schiff ein Dutzend Touristen zum nächsten Tauchgang aufs offene Meer hinaus. Die anderen Besucher des kleinen Städtchens an der Karibikküste Kolumbiens liegen verstreut am Strand herum. Es riecht nach gebratenem Fisch, aus den kleinen Familienrestaurants am Weg schallt laute Reggae-Musik.
Jesús, ein Kolumbianer Mitte 30, steht in seinen roten Badeshorts am Strand und hält seine Arme so, als ob er mit einem Gewehr auf den Boden zielt: »Er lag vor mir und hat gejammert, der Hurensohn. ›Bitte bring mich nicht um, bitte bring mich nicht um!‹ Zweimal hab ich ihm in den Kopf geschossen.« Der ehemalige Soldat ist sichtlich stolz auf seine Tat, noch zweimal schildert er detailliert, wie er vor knapp einem Jahr in den nahegelegenen Bergen mit seiner Einheit auf eine Gruppe Guerilleros gestoßen war. An seinem rechten Bein trägt er einen kniehohen schwarzen Wollsocken, der bei der Hitze etwas merkwürdig wirkt, entzündete Narben gucken am Rand hervor. Kurz nachdem er den Guerillero hingerichtet hatte, riss ihm eine Mine fast den rechten Unterschenkel ab.
»Das hast du jetzt davon«, sagt ein junger Familienvater aus Bogotá, der wenig begeistert von der Geschichte zu sein scheint, mit Blick auf das zusammengeflickte Bein. Jesús hingegen ist zufrieden: »Lebenslange Rente und kein Krieg mehr«. Gerade noch war Jesús nur einer der vielen offenen Kolumbianer gewesen, mit denen man sich in der Mittagssonne am Strand nett unterhalten hatte – bevor der ehemalige Soldat die Geschichte aus seiner Vergangenheit zum Besten gab. Es ist eine dieser Situationen, die einen schlagartig in die brutale Realität zurückholen und daran erinnern, dass Kolumbien ein Land ist, in dem faktisch Krieg herrscht.

»Krieg« – dieses Wort benutzen auch Menschenrechtler und Aktivisten in Abgrenzung zur Politik und zu den Medien, die stets von einem »Konflikt« sprechen. »Wir reden hier von mehr als 500 000 Toten in Folge des bewaffneten internen ›Konfliktes‹. Doch das sollte man ›Krieg‹ nennen«, betont auch Domingo Tovar Arrieta, der Generalsekretär des kolumbianischen Gewerkschaftsdachverbandes CUT. Er sitzt im neunten Stock eines Hochhauses in Bogotá, durch die Fenster guckt man über die Dächer der Hauptstadt. Der Krieg aber, von dem der Generalsekretär berichtet, hat nur wenig mit den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Guerilla und dem Militär zu tun, auf den er meist reduziert wird. Arrieta redet über den sozialen Krieg, über den »staatlichen Terrorismus«, mit dem Paramilitärs ebenso wie offizielle Sicherheitskräfte die sozialen Bewegungen überziehen. Gewerkschafter, Bauernvertreter, Menschenrechtler und andere Aktivisten sind ständiger Bedrohung ausgesetzt. Seit der Gründung der CUT vor 25 Jahren sind mehr als 3 000 Gewerkschafter ermordet worden. Und jeden Monat kommen neue Opfer hinzu, der Gewerkschaftssekretär wird selbst seit Jahren bedroht. »Leider ist Kolumbien ein Land, in dem die gewerkschaftliche Betätigung eine der gefährlichsten Aktivitäten darstellt, die man ausüben kann.« Arrieta erzählt dies, als ob er gerade über die jüngsten Tarifverhandlungen berichtet. Die ständige Bedrohung und die Morde sind Teil der Normalität geworden.
Der Krieg ist oft unsichtbar, und zugleich doch überall präsent. In einem der unzähligen Hostels im Studenten- und Künstlerviertel La Candelaria sitzt Jason. Er ist Mitte 30 und bietet für die abenteuerhungrigen Touristen Paragliding-Ausflüge in den Bergen oberhalb von Bogotá an. Auf den Konflikt angesprochen, kann auch er aus persönlicher Erfahrung berichten. Vor einigen Jahren musste er miterleben, wie die Paramilitärs vielerorts die soziale Kontrolle auf brutale Weise durchsetzten. Er saß mit Freunden in einem kleinen Ort an der Pazifikküste, als eine Gruppe uniformierter Paras auf sie zukam. »Einer aus der Gruppe rauchte gerade einen Joint und sie fragten ihn, ob er nicht wisse, dass es verboten ist. Noch bevor er antworten konnte, zog einer seine Pistole und schoss ihm in den Kopf«, erzählt Jason. Solche Berichte gibt es von überall dort, wo die Paras das Sagen haben.
In der Hauptstadt bekommt man im Alltag wenig von dem Krieg auf dem Land mit. Auch hier sind es die kleinen Ereignisse, die einem die kolumbianische Realität vor Augen führen. Der Plaza de Bolívar liegt am Rand von La Candelaria, in der Mitte steht eine bronzene Statue des südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar. Es ist selbst für die auf 2 800 Meter gelegene Hauptstadt kühl und verregnet, nur wenige Touristen sind unterwegs. Am Rand des Platzes steht eine kleine Gruppe von Menschen vor dem Parlamentsgebäude, auf Transparenten fordern sie das »Recht auf Rückkehr« in ihre Herkunftsdörfer. Sie gehören zu den vier Millionen Binnenflüchtlingen, die vor der Gewalt in ihren Dörfern fliehen mussten. Alle halbe Stunde drehen sie eine kleine Runde um die Statue von Bolívar und versuchen, mit Trillerpfeifen und Sprechchören auf sich aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite des Platzes haben sich Angehörige des Militärs versammelt. Auch sie protestieren, jedoch gegen die Farc, die »Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens«. Bei einem missglückten Befreiungsversuch sind vor einigen Tagen sechs Geiseln aus den Reihen des Militärs von der Guerilla umgebracht worden. »Für den Frieden« und »Nie wieder Farc« steht auf den Transparenten der Farc-Gegner. Zwei Seiten des Konfliktes, von dem niemand genau weiß, wo die Fronten verlaufen, sind hier auf einem Platz vereint. Bei keiner der beiden Kundgebungen sind mehr als 50 Teilnehmer. Die gut angezogenen Angestellten der nahegelegenen Banken, die den Platz passieren, nehmen ebenso wie die Touristen von den Kundgebungen kaum etwas wahr.

Cali liegt im Südwesten des Landes, auf dem Weg zur Pazifikküste, mitten im vom Regenwald bedeckten und noch immer umkämpften Valle del Cauca. Während zum Pazifik hin vor allem die Paramilitärs präsent sind und im Dienste von Politikern, multinationalen Firmen und der Drogenökonomie Angst und Gewalt verbreiten, sitzt nur wenige Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum entfernt die Farc, die älteste Guerilla Lateinamerikas, noch immer in den Bergen. Von Bogotá sind es normalerweise acht bis zehn Stunden mit dem Bus, derzeit dauert es aber mindestens doppelt so lange. Starke Regenfälle haben vielerorts Erdrutsche verursacht und ganze Straßen weggespült. Drei riesige Kreuze thronen auf dem Hügel im Norden der Stadt, im Westen wacht Cristo Rey, eine 26 Meter hohe, weiße Jesusstatue mit ausgebreiteten Armen. Gemeinsam sollen sie den Teufel von Cali fernhalten, heißt es. Die Leute hier aber sagen, der Teufel sei schon vorher dagewesen. Seitdem sei er auf ewig in der Stadt eingeschlossen, und sowohl für die Rumba, die ausgeprägte und ausschweifende Feier- und Tanzkultur, als auch für die allgegenwärtige Gewalt verantwortlich. Im vergangenen Jahr gab es mehr als 1 800 Morde in der Stadt, die Gewalt trifft oft auch unbeteiligte Kinder und Jugendliche, die in die Schusslinie der Banden geraten. In der Zeitung steht, dass am Tag zuvor ein Neunjähriger getötet wurde, als er an der Hand seiner Mutter auf dem Weg zur Schule war. Ein Querschläger traf seine Stirn.
Aguablanca, das Viertel, in dem der Junge starb, gehört zu den ärmsten Gegenden der Stadt. Am Rand des Stadtteils liegt die Colonia Nariñense, eine provisorische Siedlung, ein Produkt von Armut und Vertreibung. Kleine verfallene Hausblöcke und offene Holzhäuser säumen die Durchfahrtsstraße, die Seitenstraßen sind feuchte Erdwege. Es ist bereits dunkel, auf der Straße tummeln sich vorwiegend junge Leute, ein Straßengrill räuchert die Gegend ein. Zwischen den wenigen Autos, die vorbeikommen, fährt hin und wieder auch ein Pferdewagen die Straße entlang. Die Polizei kommt selten hierher, und sie ist nicht immer eine Hilfe, wie ein Taxifahrer bestätigt: »Erst vor ein paar Monaten wurde ich dort im Taxi ausgeraubt, vor den Augen der Polizei. Ich habe die ganze Zeit gehupt, aber sie haben weggeschaut!« Weiter als bis zum Rand der Siedlung will er daher auch nicht fahren.

Wenige Häuserblöcke weiter sitzen etwa 40 Kinder am Straßenrand und schauen gespannt auf ein großes Leinentuch, das als provisorische Leinwand dient. Es gibt »Cine Pál Barrio«, Kino für das Viertel, für die Straße – und von der Straße. Vor sieben Jahren haben sich Jugendliche aus dem Viertel zusammengeschlossen, um das Kino dorthin zu bringen, wo diejenigen leben, die sich oft weder den Bus ins Stadtzentrum geschweige denn einen Eintrittskarte leisten können. Heute läuft »Dieses Dorf braucht einen Toten«, ein Dokumentarfilm über transsexuelle Menschen und ihr schwieriges Leben im Chocó, einer ländlichen und konfliktreichen Gegend Kolumbiens. Das Straßenkino findet im Rahmen der Filmreihe »Derecho a ver« statt, die von Ende November bis Mitte Dezember lief. Die Reihe umfasste 24 Dokumentarfilme, die aus unterschiedlichen Perspektiven das Thema Menschenrechte behandeln. Massaker, Straflosigkeit, die Suche nach verschwundenen Angehörigen – viele der dort gezeigten Geschichten sind nur schwer zu ertragen.
Bertram Doll kennt dieses Gefühl der Ohnmacht. Er arbeitet für den Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) bei der Menschenrechtsorganisation Compromiso in Bucaramanga und hat die Filmreihe mitorganisiert. »Es geht ja nicht darum, frustriert aus den Vorführungen herauszugehen. Aber die Filme zeigen eine Realität, die existiert, und diese muss man annehmen, auch wenn es oft hart ist.« Der Film über die Transsexuellen kann da noch zur leichten Unterhaltung gezählt werden. Die harte Realität kommt aber auch hier gleich im Anschluss. Nach dem Film werden Fotos von Kindern und Jugendlichen aus dem Viertel gezeigt, die lachend oder möglichst cool für die Kamera posieren. Es sind Fotos von Getöteten und Ermordeten. Der Krieg lässt die Menschen selbst nach ihrer Flucht nicht in Ruhe.
Die Familien hier im Viertel stammen fast alle aus der Region Nariño, die an Ecuador grenzt und bis zur Pazifikküste reicht. Der zunehmende Terror in dem konfliktreichen Gebiet zwang die Menschen, in die Städte zu gehen. Alleine in Cali gibt es acht Siedlungen von deplazados, wörtlich »Deplatzierten«, was die Situation der Menschen treffend beschreibt. Eine der Siedlungen wurde am Rand einer Lagune errichtet, die Holzhütten stehen auf Balken. Ab sechs Uhr abends steigt der Pegel der Lagune an, dann stehen die Wege meterhoch unter Wasser. Gründe für die Flucht der Menschen waren sowohl akute Gefechte zwischen den diversen bewaffneten Gruppen als auch der Terror der Paras, die Dorfbewohnern häufig vorwerfen, die Guerilla zu unterstützen. Meistens liegt der Grund für die Vertreibungen aber darin, dass kolumbianische Unternehmer und multinationale Firmen Interesse an dem Land haben. In diesem Fall werden dann die Paras – nicht selten in Zusammenarbeit mit dem offiziellen Militär – mobilisiert. »Die Paramilitärs treten immer dort auf, wo sich die multinationalen Firmen ansiedeln wollen«, sagt auch der Gewerkschafter Arrieta aus Bogotá. Diese brutale Form der Landgewinnung ist ein offenes Geheimnis in Kolumbien. Wo immer neue multinationale Projekte oder neue Plantagen geplant sind, dauert es nicht lange, bis sich die Paras zeigen. »Schauen Sie sich eine Karte mit den Rohstoffvorkommen Kolumbiens an und legen Sie dann eine Karte mit den Regionen, wo die Paras aktiv sind, darüber. Sie werden sehen, dass sie sich decken«, sagt auch Jason. Im Fall der Familien der Colonia Nariñense waren es gewinnbringende Plantagen der afrikanischen Ölpalme, denen die Menschen weichen mussten.

»Das einzige Risiko ist, dass du bleiben willst«, lautet der offizielle Werbespruch, mit dem Kolumbien Touristen ins Land locken will. Auf die vier Millionen Binnenflüchtlinge übertragen bekommt der Slogan eine zynische Bedeutung. Denn auch für sie bestand das Risiko darin, dass sie in ihren Dörfern bleiben wollten. »Die verbesserte Sicherheitssituation wird durch die steigenden ausländischen Investitionen gestützt«, schreibt die kolumbianische Tourismusbehörde in einer Werbebroschüre. Welche Sicherheit gemeint ist, ist klar. Touristen sind von dem Krieg tatsächlich kaum noch betroffen, solange sie sich in den als sicher geltenden Regionen des Landes aufhalten. Dass sie auch dort täglich sowohl mit Opfern als auch Tätern des Krieges zu tun haben, ist den wenigsten bewusst.
Aber auch viele Kolumbianer wollen nichts mit dem Konflikt zu tun zu haben. Beim Morgenkaffee schaut man sich die Fotos der Leichen vom Vortag an, die in den Boulevardzeitungen gedruckt werden. »Man lenkt sich mit Rumba, Fußball und Konsum ab«, sagt Jason, »irgendwie auch verständlich angesichts der Situation«. Es gibt unzählige Konfliktlinien. Wenn in der Tageszeitung von den gezielten Morden des Vorabends berichtet wird, weiß man eben nicht, ob es dabei um Drogen oder Politik ging, beziehungsweise wo das eine Geschäft aufhört und das andere beginnt. Wer sich für die Opfer einsetzt, lebt gefährlich. Im Zuge der Regionalwahlen im Oktober wurden 41 Kandidaten umgebracht. Nicht zu vergessen ist zudem die alltägliche Gefahr, Opfer der ganz gewöhnlichen Straßenkriminalität zu werden. Die kolumbianische Journalistin Constanza Vieira beschreibt diese Situation passend in ihrem Blog »Heavy Metal Colombia«: »Blei ist ein Schwermetall und in diesem Land steht für jeden die persönliche Dosis bereit.«