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Wolfgang Thierse verdanken wir die Erkenntnis, dass der Tribalismus in Deutschland noch nicht überwunden ist. Während der sogenannten Völkerwanderung wurden die Differenzen zwischen den Stämmen mit der Streitaxt ausgetragen. Diese Zeiten sind vorbei, doch auch die moderne Völkerwanderung nach Berlin führt zu Konflikten, die selbst in den aufgeklärtesten Kreisen, also in der Redaktion der Jungle World, spürbar sind. Die tribale Sozialisierung lässt sich nicht so leicht abschütteln. So kann der Kollege aus dem Rheinland zwar mittlerweile mit Pässen jonglieren, seine Stammessitten aber dennoch nicht verleugnen. Er liebt die Musik noch der unterirdischsten Bands, wenn sie nur aus dem Rheinland kommen, und scheint weiterhin zu glauben, das Leben sei ein einziger Karneval. So jedenfalls urteilt der norddeutsche Redakteur, der unermüdlich die Diskriminierung der Friesen beklagt. »Schrippe? Wecke? Pah! Rundstück heißt das!« Zu sprechen natürlich mit spitzem st. Gegen Schwaben hat er aber nichts. »Einige meiner besten Freunde sind Schwaben«, betont er. Mehr Sorgen bereiten ihm die Hessen. »Die tun immer ganz harmlos, verleugnen sogar ihren Dialekt, aber ehe man sich versieht, haben sie alle Schaltstellen der Macht besetzt.« Als Zentrum der Verschwörung hat er das »Havanna 8« in Marburg ausgemacht. Solche wirren Theorien bleiben natürlich nicht unwidersprochen, überdies wird ihm mangelndes Verständnis für die kulturellen Differenzen südlich des Weißwurst-Äquators vorgeworfen. »Wir Franken sind keine Bayern«, belehrt ihn eine Kollegin. Andere haben das Glück, dass niemand Ressentiments gegen sie hegt, allerdings nur weil sie aus einer so gottverlassenen Gegend wie Ostwestfalen kommen, zu der einem nicht einmal eine Beleidigung einfällt. Ein paar Indigene gibt es bei uns natürlich auch, aber diese geben sich distanziert, was Berlinerische Folklore ­betrifft.
Doch so gerne die Stammesangehörigen streiten, sie können sich auch wieder einigen. Bei der Thematisierung der Schrippenfrage hat Thierse ja das Wichtigste vergessen, die Backkunst nämlich. »Die sollen hier erstmal backen lernen, dann kann man sich darüber unterhalten, wie man die Dinger nennt« ist eine Aussage, der alle zustimmen können. Multikulturalität muss nicht die Zusammenballung des Irrsinns bedeuten, den die Stämme zu bieten haben. Jeder kann etwas einbringen, das auch anderswo auf Wohlgefallen stößt: die Rheinländer ihren Frohsinn und ihr Obergäriges, die Schwaben ihre Spätzle und ihren Wein, die Norddeutschen ihren Matjes und das herbe Bier, die Bayern ihre Weißwürste und das Weizenbier, die Hessen … , nun, was auch immer. Wenn der Frieden doch überall so leicht wiederherzustellen wäre!