Die Grime-Szene in London

Once upon a grime in London

Die Grime-Szene in der britischen Hauptstadt steht unter scharfer Beobachtung der Polizei. Nach den Riots im Sommer 2011 müssen Clubbetreiber und MCs besonders kreativ sein, um ungestört feiern zu können.

East London an einem späten Mittwochabend. Es stürmt. Hinterlistige Regentropfen durchnässen die Kleidung der Menschen, die vor dem Londoner Club East Village in der Schlange stehen. Die Türsteher durchsuchen heute die Taschen der hauptsächlich schwarzen Besucher akribischer als sonst und greifen ihnen immer wieder, auch mir, beherzt in den Schritt. Neben Drogen suchen sie vor allem Messer und Handfeuerwaffen. Auf dem Flyer steht zwar »HipHop« und »R’n’B«, doch heute Nacht wird vor allem Grime aufgelegt. Genauer gesagt läuft eigentlich ausschließlich Grime, eine Art englischer HipHop, der schnelle Raps mit den düsteren Sounds des Dubstep verbindet.
Es ist fast schon ein Wunder, dass die Album-Launch-Party des Künstlers Rival überhaupt stattfinden kann. Denn Grime steht seit langem unter scharfer Beobachtung der städtischen Polizei, und Auftritte werden nicht selten bereits vorab verboten. Die Verschleierung auf dem Flyer ist kein Zufall. »Alle wissen, dass hier kein R’n’B läuft. Aber die Mets (die Metropolitan Police, Anm. d. Verf.) wollen nicht, dass solche Partys in London stattfinden«, erzählt Graeme. Er ist Gründer des Blogs once upon a grime, wie die meisten hier Anfang 20 und leidenschaftlicher Anhänger der Szene.
Später, im Club, spielt dies alles keine Rolle mehr. Hier, im Zwielicht, ist die Londoner Jugend mit der Erschaffung einer anderen Realität beschäftigt. Es geht um die unmittelbare physische Kraft urbaner Clubmusik und deren Inszenierung. Der Sound ist laut und roh, die Beats sind komplex, und die schnellen Hi-Hats schneiden sich wie Peitschen in die Gehörgänge. Ähnlich wie die Stimmen der acht MCs, die sich dicht aneinandergereiht hinter das enge DJ-Pult quetschen und den Eindruck eines hyperaktiven Ameisenhaufens erwecken. Immer wieder greift jemand zum Mikrofon, um wütende, maschinengewehrartige Wortsalven herauszuschreien, während der DJ alle 30 Sekunden den Track wechselt. Das Publikum rappt lauthals mit, springt herum und fordert unablässig »Rewinds«, das obligatorische »Zurück­spulen« eines beliebten Tracks. Leider versteht man die Texte kaum, aber die Kunst, soviel ist klar, besteht weniger in schöngeistiger Poesie als in rhythmischen Wiederholungen und der Bildung von Assoziationsketten. Derek Walmsley, Redakteur des Musikmagazins The Wire, hat Grime einmal als »Synonymmaschine« bezeichnet. Scheinbar herrscht zwar Chaos, aber es gibt keine Anzeichen von Feindseligkeiten. Warum sollte die Stadt London ein Interesse daran haben, solche Veranstaltungen zu verbieten?
Grime ist die ultimative DIY-Musik der heutigen Working-Class-Jugend Londons und ließ Anfang 2000 die brachliegende Musiklandschaft erblühen. Sehr schnell konnte sich Grime, aller Ressentiments zum Trotz, zu einem eigenständigen Genre entwickeln. »Als 2001 die ersten Grime-Tracks veröffentlicht wurden, fühlte es sich an wie in eine völlig neue Galaxie. Es klang so seltsam und gleichzeitig so düster, hart und neu«, schwärmt Martin Clark, den ich ein paar Tage später in einem Café treffe. Er ist DJ, Blogger und Betreiber des Labels Keysound Recordings, auf dem auch der Grime-Künstler Trim vertreten ist. Der »Future Shock« übertrug sich damals also auf eine nicht zu unterschätzende Zahl unterprivilegierter Kids, die begannen, in ihren Schlafzimmern mit illegal beschafften Musikprogrammen zu experimentieren. Seitdem hat die Musik kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt.
Das heißt nicht, dass Grime populär wäre. Vor allem in London nicht. Da sich zunächst niemand für diese Musik interessierte, agierte die Szene unterhalb des kapitalistischen Radars. »Die Grime-Szene ist vergleichbar mit der frühen Jungle-Szene: schwarz, working class, sehr rau«, sagt Clark. Grime habe von Anfang an einen schlechten Ruf gehabt, und die einzige Möglichkeit, gehört zu werden, seien »pirate radios« gewesen. Das sind provisorische Radiostationen, die mit selbstgebauten Antennen meistens von den Dächern von Hochhäusern in East London senden. Seit der Konkurrenz aus dem Internet gibt es jedoch wesentlich weniger solcher DIY-Radios. »Piratensender«, so Clark, »sind ein sehr working-class-mäßiger Weg, um gehört zu werden, wenn es sonst nicht anders möglich ist. Heute betreiben viele zwar noch eine Station, weil es ihre Leidenschaft ist, aber in Wirklichkeit ist es vor allem teuer, aufwändig und illegal.« Es muss überwältigend gewesen sein für einen Teenager, zwischen Britney Spears und dem Klassiksender plötzlich auf eine Musik zu stoßen, die düsterer und verrückter klingt als alles zuvor Gehörte.
Die dunklen, dissonanten Klänge von Dub­step und Grime sind der perfekte Soundtrack der urbanen Gegenwart Londons und hätten nirgendwo sonst entstehen können. Und auch die Riots im August 2011 sind das Produkt einer Stadt, in der die Jugendarbeitslosigkeit 21 Prozent beträgt und die Senkungen von Sozialausgaben in den Nachrichten so selbstverständlich angekündigt werden wie das Wetter.
Draußen vor dem Club stürmt es immer noch. Aber auch der Wind wird die Glut nicht zum Erlöschen bringen, die im August entfacht wurde. London hat nicht erst durch die Aufstände im Sommer 2011 die Paranoia der Orwellschen Dystopie internalisiert. An jeder Ecke sieht man die CCTV-Überwachungskameras und immer wieder auch Schilder, die auf eine »good behaviour zone« hinweisen, eine weitere Maßnahme der Politik gegen »antisocial behaviour«. Grundsätzlich sind zwar alle verdächtig, doch meistens reduziert sich das Raster auf drei Attribute: schwarz, jung, männlich, was genau der Zielgruppe von Grime entspricht. Der Guardian berichtete kürzlich über eine Studie, die besagt, dass die alltägliche Respektlosigkeit der städtischen Polizisten im Zuge der »stop and search«-Politik eine entscheidende Ursache für den Ausbruch der Riots war. Und der Generalverdacht als scheinbar effektive Kriminalitätsprävention wirft seinen Schatten auch auf den kulturellen Sektor.
Es ist das Formular 696, das es der Metropolitan Police ermöglicht, laufende Grime-Partys einfach aufzulösen oder bereits im Voraus zu verbieten. Adam Webb, Pressesprecher von UK Music, der nationalen Dachorganisation für englische Labels und Künstler, kritisiert das Formular 696: »Nach der ursprünglichen Fassung waren Clubbetreiber dazu verpflichtet, der Po­lizei die persönlichen Daten aller beteiligten Künstler zu liefern. Es zielte ab auf die Angabe des musikalischen Genres und sogar die erwartete Ethnie des Publikums. Wenn diese Informationen nicht bereitgestellt wurden, konnte dem Club die Lizenz entzogen werden.« UK Music setzte sich für die Abschaffung des Formulars ein. »Leider existiert es immer noch«, sagt Webb. »Die Met Police hat zwar die Formulierung geändert, aber die ursprüngliche Intention ist geblieben. Jetzt stehen die Namen der MCs und DJs im Fokus. Das Aufnehmen persönlicher Daten unbescholtener Künstler scheint eine sehr seltsame Strategie zu sein, um Kriminalität vorzubeugen.«
Gab es denn jemals Vorfälle, die diese Politik rechtfertigen? »Ich habe mal eine Schießerei erlebt, auf einer Sidewinder-Party, einem großen Grime-Event außerhalb Londons. Aber das war 2002«, erzählt Martin Clark und fügt hinzu: »Die Polizei kann immer noch entscheiden, welche Ethnien und welche Szenen Events veranstalten dürfen. Das sollte illegal sein.« Und dennoch, diese Maßnahmen scheinen auch positive Effekte gehabt zu haben, zumindest was die Kreativität betrifft, sagt Clark: »Dass Grime von Beginn an so fremdartig klang, lag daran, dass die Künstler völlige Freiheit zum Experimentieren hatten. Es gab keine Club-Infrastruktur wie bei Garage. Bei den Piratensendern gab es kein Publikum, das tanzte. Man konnte tun, was man wollte. Und so machte 696 Grime auch zu dem, was es heute ist.«
Liegt der schlechte Ruf denn nicht auch an den relativ brutalen Texten? »Ja«, sagt er, »aber die Gewalt ist immer fokussiert auf Konflikte innerhalb der Crews. Es ist ein ständiges Spiel mit präventiven Verbalschlägen. Es ist wie in einem Actionfilm. Du willst die Action nicht wirklich erleben, aber es ist aufregend und unterhaltsam. Außerdem spielt Humor eine große Rolle, sie können sehr lustig sein, diese ganzen Übertreibungen.«
Das klingt plausibel, schien es doch vor allem diese Inszenierung gewesen zu sein, die im Club alle in ihren Bann zog. Blogger Graeme bringt es auf den Punkt: »Grime ist viel interessanter als HipHop, da er viel mehr musikalische Einflüsse hat. Außerdem geht es im Unterschied zum amerikanischen HipHop nicht um Frauen und Geld, sondern um den Alltag auf den Straßen Londons.«
Wir stehen vor dem East Village Club im Raucherbereich. Ein süßlicher Duft vermischt sich mit den Abgasen der vorbeifahrenden Autos. Auch Rival ist da und genießt lächelnd, aber verschwitzt den Ruhm nach seinem Auftritt. Alle sind erleichtert, dass die Party ohne polizeiliche Intervention ablief.
Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen der Grime-Szene und den, wie Premierminister David Cameron sie nennt, »opportunistischen Kriminellen«, die im Zuge der Riots im August Kaufhäuser plünderten?
Während Besucher der Party jegliche Verbindungen vehement verneinen, holt Martin Clark etwas weiter aus: »Es gibt einen sozialen Zusammenhang, denn die Riots fanden größtenteils in den armen Gegenden Londons statt, woher auch Grime stammt. Aber es gibt keine kausalen Effekte. Grime ist politisch neutral. Ich denke aber, dass die tiefer liegenden Ursachen dieselben sind: Ungleichheit, institutionalisierter Rassismus, Armut, Gewalt. Es ist dieselbe Wurzel. Grime jedoch ist die positive Verarbeitung einer brutalen und wütenden Kultur, in der die Leute leben, während die Riots eine negative Antwort auf eine ähnliche Situation waren.«