Claris Harbon im Gespräch über Sexismus, religiösen Extremismus und Feminismus in Israel

»Religion ist nicht das Problem«

Die NGO »Achoti (My Sister) – for Women in Israel« engagiert sich seit 1999 für die Rechte von Mizrachi-Frauen, Jüdinnen arabischer Herkunft, die nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe und Kultur diskriminiert werden. Die NGO unterstüzt auch Frauen, die in religiösen Communities leben. Die Juristin Claris Harbon, die mit Achoti zusammenarbeitet, im Gespräch über den feministischen Diskurs in Israel.

Die Proteste gegen die Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit sind in israelischen und westlichen Medien als Ausdruck eines »Kulturkriegs« beschrieben worden. Befindet sich Israel in einem solchen Krieg?
Diese Auseinandersetzung betrifft Fragen der Religion, der Kultur und der Ethnizität. Publizisten wie Gideon Levy und andere Intellektuelle bezeichnen den Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen in linksliberalen Medien wie der Haaretz als »Kulturkrieg«. Ich sehe das anders. Die israelische Gesellschaft ist weitgehend säkularisiert, sie ist weniger von religiösen und vielmehr von sozialen Konflikten geprägt. Die derzeitige Debatte um die Ultraorthodoxen konzentriert sich auf eine kleine Gruppe, dabei werden die komplexeren Zusammenhänge, die eigentlichen sozialen Konflikte nicht thematisiert. Religion ist nicht das Problem, das Patriarchat ist das Problem. Wenn wir unbedingt von einem »Kulturkrieg« reden wollen, dann bitte schön, aber sprechen wir aus, worin der eigentliche Konflikt besteht.
Worin besteht er?
Seit der Staatsgründung prägen die Aschkenasim, also die weißen Jüdinnen und Juden europäischer Herkunft, die israelische Gesellschaft und Kultur. Gut die Hälfte der jüdischen Bevölkerung besteht aber aus Mizrachim. »Mizrachi« bedeutet Osten, damit sind Jüdinnen und Juden gemeint, die ab den sechziger Jahren aus arabischen Ländern, dem Balkan, Russland und Zen­tralasien nach Israel kamen. Ich selbst bin eine Mizrachi, meine Eltern stammen aus Marokko. Die Bezeichnung »Mizrachi« ersetzte seit der Staatsgründung allmählich den Begriff »sephardisch«, der Jüdinnen und Juden aus nichteuro­päischen, orientalischen Ländern bezeichnete. Schon immer galten Mizrachim als weniger gebildet, »primitiver« und »dekadenter« im Vergleich mit den Aschkenasim. Auf diesen Grundkonflikt, der nicht nur ein kultureller, sondern auch ein sozialer ist, kann man auch die jüngste Auseinandersetzung zurückführen. Historisch gesehen handelt es sich um einen strukturellen Konflikt innerhalb der israelischen Gesellschaft, der viel tiefer geht als die Auseinandersetzung zwischen Säkularen und Religiösen.
Sie sehen also nicht die Gefahr einer religiösen Fanatisierung in Israel?
Wissen Sie, in den vergangenen Wochen habe ich manchmal gedacht: Irgendwie verhalten sich die Religiösen ehrlicher als die sogenannten Aufgeklärten. Ich meine damit nicht, dass ich in irgendeiner Weise die Ansichten der Ultraorthodoxen teile. Aber wenn jemand dich anspuckt, weil du nicht »züchtig« gekleidet bist, weißt du wenigstens, mit wem du es zu tun hast, nämlich mit einem Sexisten. Mit vielen der Demonstrierenden, deren Meinung ich natürlich grundsätzlich teile, habe ich aber ein Problem. Sie reden von Diskriminierung, sie sind aber meistens privilegierte Menschen, die soziale Ausgrenzung nie erlebt haben. Sie dürfen studieren, sie haben Zugang zum Arbeitsmarkt, sie können sich die Miete immer teurer werdender Wohnungen leisten und fahren meistens Auto. Ich würde gerne wissen, wie viele dieser Frauen schon mal gezwungen wurden, sich in den hinteren Teil eines Busses zu setzen, was nun plötzlich für so viel Empörung sorgt. Wissen Sie, es ist so einfach, mit dem Finger auf die reli­giösen Spinner mit den Schläfenlöckchen und den schwarzen Hüten zu zeigen. Aber seien wir nicht lächerlich: Wir glauben doch nicht wirklich daran, dass die Charedim die Macht in Israel übernehmen werden! Das wird nämlich derzeit unter anderem mit haarsträubenden Argumenten behauptet, etwa, dass die Ultraorthodoxen sich so schnell vermehren würden! Ich denke, es wäre fatal, diesen Konflikt auf eine religiöse Angelegenheit zu reduzieren.
Sexismus, Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen sind strukturelle gesellschaftliche Probleme. Warum findet diese Debatte in Israel jetzt statt?
Meine persönliche Meinung ist, dass diese Debatte in den Medien plötzlich so viel Resonanz bekommt, weil sie in Zusammenhang mit den so­zialen Protesten, die seit dem Sommer stattfinden, gebracht wird. Die sozialen Proteste haben einen Prozess der Infragestellung bestimmter Aspekte unserer Gesellschaft ausgelöst, der sehr wichtig ist. Allerdings haben wir, die in feministischen Organisationen arbeiten, und insbesondere Achoti, die sich für die Rechte von Mizrachi-Frauen engagiert, seit Jahren mit diesen Problemen zu tun. Die Leute, die seit dem Sommer mit ihren Zelten demonstrieren, verhalten sich ähnlich wie die Säkularen, die gegen die Charedim protestieren: Sie kämpfen für ein besseres Leben, was auch ihr gutes Recht ist. Viele der Frauen, die wir unterstützen, kämpfen jedoch meist um das Überleben. Dass die Arbeit von Mizrachi-Aktivistinnen, vor allem im feministischen Bereich, unzureichend anerkannt wird, ist auch Teil des innerjüdischen kulturellen Konflikts.
Können Sie kurz schildern, in welchem Verhältnis der Mizrachi-Feminismus zum feministischen Diskurs in Israel steht?
Der Konflikt zwischen Aschkenasi- und Mizrachi-Juden spiegelt sich im feministischen Diskurs wieder. Die Kritik am weißen, akademischen Feminismus der Mittelschicht ist keine israelische Besonderheit. Wir wurden vom Black Feminism von Bell Hooks und Angela Davis und von den postkolonialen Ansätzen etwa von Gayatri Spivak angeregt. Im Grunde sagen wir den Aschkenasi-Feministinnen: Danke, dass ihr euch für die Rechte aller Frauen einsetzt, aber euer Kampf hat nicht unbedingt mit der Realität zu tun, in der wir leben. Denn als Mizrachi-Frau bist du doppelt unterdrückt: vom Patriarchat und vom Rassismus in der israelischen Gesellschaft.
Israelische Feministinnen haben zum Beispiel dafür gekämpft, dass Frauen in der IDF das Recht auf Führungspositionen haben. Abgesehen davon, dass ich es persönlich für fragwürdig halte, ob eine ranghohe Position in der Armee wirklich der Sache der Gleichberechtigung dient, versteht sich von selbst, dass Frauen, die am Rand der Gesellschaft leben, kaum Chancen auf eine Karriere beim Militär haben werden. Ähnlich verhält es sich mit der Frauenquote in den Chefetagen großer Firmen. Sehr progressiv, keine Frage, aber Mizrachi-Frauen haben nicht einmal die Chance, als Putzkräfte bei diesen Firmen zu arbeiten.
Unsere Organisation beschäftigt sich mit Frauen, die aus den ärmeren Teilen der Gesellschaft stammen. Es sind Mizrachi-Frauen der zweiten und dritten Generation, die oft mit sehr alltäglichen Dingen zu kämpfen haben: Essen, Unterkunft, Bildung, Betreuung der Kinder. Achoti wurde aus dem Bedürfnis heraus gegründet, den israelischen Mainstream-Feminismus mit den Stimmen der Frauen zu ergänzen, die bis dahin gar keine öffentliche Präsenz hatten. Unser Anliegen war und ist dabei: Frauen können nicht ihre universellen Rechte wahrnehmen, wenn sie keine Arbeit, keine Wohnung und keine Perspektiven auf ein selbstbestimmtes Leben haben und dazu verdammt sind, von Männern abhängig zu sein.
In einer Situation der Abhängigkeit befinden sich vor allem Frauen, die in ultraorthodoxen Communities leben. Wie sieht die feministische Arbeit mit ihnen aus?
Auch hier möchte ich auf den wichtigste Unterschied zwischen Aschkenasi- und Mizrachi-Feministinnen hinweisen. Der Aschkenasi-Feminismus tendiert dazu, Frauen, die in traditionellen oder religiösen Communities leben, zu verurteilen, weil sie sich gegen die dort stattfindende Diskriminierung nicht direkt wehren und sich stattdessen der Unterdrückung anpassen. Frauen, die einen traditionellen oder religiösen Lebensstil pflegen, stammen meist aus den ärmeren Schichten der Gesellschaft, deshalb liegt der Fokus unserer Arbeit in orthodoxen und ultraorthodoxen Zusammenhängen auf dem ökonomischen Empowerment dieser Frauen. Sie sind oft relativ jung, haben sehr früh geheiratet und viele Kinder bekommen und sie sind fast alle arbeitslos. Wir versuchen, sie etwa bei der Jobsuche und der Betreuung der Kinder zu unterstützen, sie miteinander zu vernetzen und ihr Bewusstsein zu stärken.
Glauben Sie, dass die Regierung von Netanyahu eine antifeministische Politik betreibt?
Ich finde, dass im öffentlichen Diskurs eine Menge Klischees herrschen, insbesondere bei den Linken. Ich bin keine Unterstützerin des Likud, aber Netanyahu hat nichts Neues erfunden. Er hat keine aktive Frauenpolitik vorangetrieben, aber war das von einer konservativen Regierung zu erwarten? Von einer indirekten Verantwortung der Politik kann man jedoch trotzdem sprechen. Denn die ersten Opfer einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die insbesondere die ärmeren Schichten hart trifft – etwa mit den drastischen Kürzungen der Subventionen für Sozialwohnungen –, sind arme, arbeitslose Frauen und alleinerziehende Mütter. Sie werden an den Stadtrand gedrängt, wo die Chancen, eine Arbeit zu finden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, geringer sind. Aber ich glaube, dass dies keine Frage einer rechten oder linken Regierung ist. Der Kampf gegen Sexismus und soziale Ausgrenzung von Frauen hat in erster Linie soziale und ökonomische Gründe, hinzu kommt die entscheidende Frage der Herkunft. Diese Aspekte sind eng miteinander verknüpft, solange die Politik dies nicht angeht, wird es schwierig bleiben mit der Umsetzung effektiver frauenpolitischer Maßnahmen.
Die Kadima-Partei wirbt auf Bussen in Jerusalem jetzt mit der Kampagne »Women on Front« gegen Frauendiskriminierung. Meinen Sie, dass solche Aktionen etwas im allgemeinen Diskurs ändern können?
In unserer täglichen Arbeit sehen wir, wie schwierig es ist, bestimmte Gegebenheiten zu verändern. In traditionellen und religiösen Zusammenhängen ist das noch schwieriger, denn da muss man oft an die Frauen herankommen, die sich wegen ihrer Abhängigkeit und des Mangels an Selbstbewusstsein nicht trauen, ihr soziales Umfeld herauszufordern. Also, was die Wirkung einer solchen Kampagne angeht, bin ich mehr als skeptisch. Aber ich liebe mein Land und ich bin von Natur aus ein idealistischer Mensch. Obwohl ich in dieser ganzen Debatte vermisse, dass die innerjüdischen Konflikte thematisiert werden, und sogar die Befürchtung habe, dass die ultra­orthodoxen Communitites sich als Reaktion darauf noch mehr abschotten werden, finde ich es gut, dass die israelische Gesellschaft sich mit Problemen beschäftigt, die nicht nur mit der Bedrohung von außen zu tun haben.