Neue Verfassung in Ungarn

In schlechter Verfassung

Mit Jahresbeginn sind in Ungarn eine neue Verfassung und weitere Gesetze in Kraft getreten. In Ungarn und im europäischen Ausland befürchten viele eine Gefährdung der Demokratie.

Zehntausende demonstrierten auf den Budapester Straßen und forderten die »Republik Ungarn« zurück. Denn aus dem offiziellen Namen des Landes ist der Zusatz »Republik« gestrichen worden. »Der Name unseres Vaterlandes ist Ungarn«, steht in der neuen Verfassung, die seit dem 1. Januar gilt. Ginge es nach der breiten Masse der Protestierenden, bekäme nicht das Land, sondern sein Ministerpräsident Viktor Orbán einen neuen Namen: »Viktator«.
Mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament hatte das rechtspopulistische Wahlbündnis aus Fidesz und KDNP im Alleingang die neue Verfassung und andere umstrittene Gesetze verabschiedet, die mit Jahresanfang in Kraft getreten sind. In Ungarn ändert sich mit den neuen Gesetzen aber mehr als der offizielle Landesname. Immer mehr Kompetenzen werden in den Händen der neuen Regierung gebündelt. Ein Vorbote dieser Entwicklung war bereits das Ende 2010 verabschiedete Mediengesetz, das unter anderem eine stärkere Kontrolle privater Medien vorsah und eine »ausgewogene Berichterstattung« verlangte. Auch außerhalb Ungarns sah man die Pressefreiheit in Gefahr. Auf Druck der EU-Kommission musste die ungarische Regierung das Gesetz schließlich in einigen Punkten nachbessern.

Die Bestimmungen der neuen Verfassung bedrohen nun auch die Unabhängigkeit der Gerichte. Von einer »Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« sprechen die NGO Hungarian Helsinki Comitee und weitere verbündete NGO. Sie appellieren an die EU. Ohne Nachbesserungen werde das demokratische System der Gewaltenteilung bedeutend geschwächt. Die neuen Gesetze sehen unter anderem vor, dass das verbindliche Pensionsalter von Richterinnen und Richtern auf 62 Jahre herabgesetzt wird, wodurch die von der Fidesz ernannten Verantwortlichen etwa 300 neue Posten an Gerichten vergeben können. Das Verfassungsgericht verliert im Verhältnis zur Regierung an Befugnissen. Und auch das oberste Gericht wird umstrukturiert und neu benannt. Als »Kurie« arbeitet es zugleich unter einem neuen Vorsitzenden. Die Mandatszeit des bisher amtierenden obersten Richters, András Baka, endet dadurch drei Jahre früher. Er gilt als Kritiker der jüngsten Änderungen, etwa in der Strafprozessordnung. Diese erlaubt nun beispielsweise einen Arrest ohne richterlichen Beschluss von bis zu 120 Stunden statt der bisher geltenden 72 Stunden. Zugleich kann innerhalb der ersten zwei Tage die Hinzuziehung eines Anwalts verweigert werden. Baka hatte viele solcher Vorgänge öffentlich kritisiert, nun verliert er seinen Posten. Ohnehin durfte er im vergangenen Halbjahr wegen eines Gesetzes der Regierung keine hohen Richter mehr ernennen – wie die Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte feststellt, verstößt dies gegen rechtliche Grundsätze. Und Baka ist nicht der einzige, der gehen muss.
»Diese Entlassungen haben längst ihre Spuren hinterlassen«, sagt die deutsch-ungarische Pub­lizistin und Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky der Jungle World. »Deshalb waren nur 100 000 Menschen auf der Straße.« Andere trauten sich gar nicht mehr, auch wenn sie mit den Änderungen nicht einverstanden seien. »Aber der Protest ist vehement«, sagt sie. In den öffentlich-rechtlichen Medien wird trotzdem kaum darüber berichtet. Nachrichten werden unter den Protestierenden eher direkt weitergegeben, etwa in sozialen Netzwerken und über Mail-Verteiler. »Diese Selbstorganisation beflügelt den Protest«, sagt Marsovszky. »Das Orbán-Regime bringt die Leute zusammen«, kommentiert Milán Rózsa, Mit­organisator des jährlichen Budapest-Pride-Festivals, dagegen zynisch. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Roma, LGBT, Feministinnen, Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie Mitglieder von Oppositionsparteien bestimmen die seit März vergangenen Jahres anwachsende Protestbewegung. Zuvor hatte es seit Jahren keine großen Demonstrationen gegeben, die nicht von Rechten ausgingen. Die Aufmärsche von Rechtsmilitanten, etwa der seit 2009 verbotenen paramilitärischen »Ungarischen Garde«, prägten die politische Stimmung im Land.

Uniformiert und mit der altungarischen Flagge in der Hand marschierten die Rechtsmilitanten auch jetzt auf, um die neue ungarische Verfassung zu feiern und die Protestierenden anzufeinden. An der neuen Verfassung dürfte ihnen bereits die Präambel, das »nationale Bekenntnis«, zusagen: »Ungarn trägt, geleitet vom Gedanken der einheitlichen ungarischen Nation, Verantwortung für das Schicksal der außerhalb seiner Landesgrenzen lebenden Ungarn.« Weiter heißt es: »Wir bekennen uns dazu, dass der wichtigste Rahmen unseres Zusammenlebens Familie und Nation, die grundlegenden Werte unserer Zusammengehörigkeit Treue, Glaube und Liebe sind.« Als »Kitsch des frühen 20. Jahrhunderts« bezeichnete der ungarische Philosoph und Poli­tologe János Kis diese Passagen bei einem Vortrag vergangenen Sommer in Berlin. Für Marsovszky bedeutet die Huldigung der »ethnischen Identität« der Nation aber mehr als Kitsch: »Das Land mutiert zum völkischen Magyaren-Land, das mit ethnischen Abstammungsgedanken Homogenität und zugleich auch Ausgrenzung propagiert.« Die Minderheiten, etwa die ungarischen Roma, hatte man im ersten Verfassungsentwurf weggelassen.

Diese konservative Beschränktheit findet sich auch in Bezug auf die Familie. Sie ist einzig Mann und Frau vorbehalten und soll so auch öffentlich, etwa in den Medien, dargestellt werden. Zwar gibt es in Ungarn die eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Rózsa sagt aber, er würde sich nicht wundern, wenn diese Regelung abgeschafft werde. Aus Kreisen der mit der Fidesz verbündeten christlich-konservativen Partei KDNP waren im vergangenen Jahr Gerüchte über ein solches Vorhaben an die Öffentlichkeit gedrungen. Die Einführung der registrierten Partnerschaft war durch eine Petition an das oberste Gericht erwirkt worden. Mit der neuen Verfassung haben NGO dazu keine Möglichkeit mehr. Hier zeigt sich exemplarisch, wie sich konkrete Änderungen der politischen Entscheidungen zugunsten der abstrakten Positionen der Regierungsparteien im alltäglichen Leben niederschlagen. Der neu festgeschriebene Schutz des Fötus ab der Empfängnis löst zudem Spekulationen über eine zukünftige Verschärfung der Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch aus.
Ablehnung und Unverständnis gegenüber der neuen Verfassung werden nun auch von außerhalb Ungarns geäußert. Die Grünen im Europaparlament etwa wollen ein Grundwerteverletzungsverfahren gegen Ungarn einleiten. »Die Europäische Union muss nun rasch handeln, um ein weiteres Abgleiten Ungarns in Richtung eines autoritären Systems, das mit den europäischen Grundwerten unvereinbar ist, zu verhindern«, sagten Rebecca Harms und Daniel Cohn-Bendit vergangene Woche. Sogar in der Europäischen Volkspartei gibt es Kritik an der ungarischen Regierung, obwohl Orbán einer der stellvertretenden Präsidenten dieser konservativen Partei ist. Doch ist es vor allem der ökonomische Isolationskurs der ungarischen Regierung, der sie in Bedrängnis bringt (siehe Seite 19). Neben einer Rücknahme der Bürgerrechte droht in Ungarn auch eine Entwertung der Währung.