Die Debatte über Entwicklungsmodelle in China

Vielfalt unter dem Himmel

In China werden konkurrierende Entwicklungsmodelle diskutiert. Muss der Kuchen gerechter verteilt oder zunächst einmal größer werden? Das »rote« Chongqing misst sich mit der »liberalen« Provinz Guangdong.

Der als charismatisch geltende Parteisekretär Bo Xilai der Stadt Chongqing hat sich in ganz China mit seinen Sozialprogrammen und seinen harten Kampagnen gegen die örtliche Mafia einen Namen gemacht. Chongqing ist eine unabhängige Verwaltungseinheit mit über 32 Millionen Einwohnern im Westen des Landes. Allein schon wegen der geographischen Lage im Hinterland kann die Verwaltung von Chongqing nicht wie in der Küstenprovinz Guangdong hauptsächlich auf die Exportwirtschaft setzen, sondern will vor allem den inneren Markt entwickeln und die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger steigern.
In China ist der Kauf einer Wohnung für die breite Masse unerschwinglich geworden. In Chong­qing sollen deshalb bis Ende 2013 subventionierte Wohnungen für zwei Millionen Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen gebaut werden. Außerdem sollen über drei Millionen Bauern aus dem Umland ein städtisches Haushaltsregister (hukou) und damit die gleichen Rechte wie die Stadtbevölkerung bekommen, unter anderem auf Gesundheitsversorgung, Sozialversicherung und städtische Bildung. Diese Sozialprogramme werden vor allem aus Einnahmen der öffentlichen Betriebe finanziert. Damit Kader nicht den Kontakt zur Bevölkerung verlieren, sollen sie mindestens zwölf Mal im Jahr an die Basis geschickt werden und sich als »Pate« um eine arme Familie kümmern.
Mit staatssozialistischer Wirtschaftspolitik hat das Chongqing-Modell allerdings nichts zu tun, da man auch ausländisches Kapital anziehen möchte. Konzerne wie Honda, Ford, BASF, Nokia oder HP investierten in den vergangenen Jahren große Summen. Im Juli 2011 wählte das US-Magazin Fortune das »rote« Chongqing sogar zu einer der 15 besten Städte der Welt, um Geschäfte zu machen. Auch die Unternehmenssteuer liegt dort mit 15 Prozent weit unter dem na­tionalen Durchschnitt. Deutsche Medien wie Cicero fürchten sich dagegen vor einem »Linksruck« in China, falls sich das »Modell Chongqing« durchsetzen sollte.

Seine Popularität verdankt Bo vor allem der Kampagne »Das Schwarze zerschlagen«, in der über 25 000 Polizisten gegen die Mafia eingesetzt wurden und Tausende »Bandenmitglieder« verhafteten. Sogar der Polizeipräsident Wen Qiang, der als Schutzpatron des Verbrechens galt, wurde verurteilt und hingerichtet. Anfang Dezember wurde auch das Todesurteil gegen Wang Ziqi vollstreckt, seine angebliche Geliebte und Anführerin eines Menschenhandelsrings, der Frauen zur Prostitution zwang.
Harte Verbrechensbekämpfung gilt in China als links. Besonders ältere Menschen erinnern sich an die Ära Mao Zedongs als eine Zeit, in der man die Haustür nicht abschließen musste. Die Wirtschaftsreformen und die großen Unterschiede zwischen Reichen und Armen werden für den Anstieg der Kriminalität verantwortlich gemacht. Die Kampagne gegen die Mafia löste aber auch einige Proteste von liberaler Seite im Internet aus, da die Willkür bei Verhaftungen, der Aufruf zur Denunziation per SMS und politischer Druck auf Anwälte und Richter den Aufbau eines Rechtsstaates gefährden würden.
Bo gilt als Anwärter auf einen Posten im mächtigsten Gremium des Landes, dem ständigen Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Wang Yang, der derzeitige Parteisekretär von Guangdong, ebenso. Er war selbst von 2005 bis 2007 Parteisekretär von Chongqing, daher war Bos Kampagne gegen die Mafia auch eine indirekte Kritik an Wangs Amtsführung.
Im Gegensatz zu Bo fällt Wang weniger durch spektakuläre Maßnahmen auf, sondern will vor allem mit einer »pragmatischen« Wirtschaftspolitik überzeugen und setzt in erster Linie auf Wachstums- statt auf Sozialprogramme und Populismus. Anweisungen der Zentralregierung in Bejing, den Bankrott von Kleinunternehmern in der Finanzkrise zu verhindern, soll er ignoriert haben. Anstatt die paternalistischen Funktionen des Staates zu stärken, hat er Medien und NGO in der Provinz mehr Freiräume als im Rest des Landes eingeräumt. Transparenz soll das große Problem der Korruption eindämmen. Die Provinzhauptstadt Guangdong legte zum Beispiel als erste Stadt Chinas ihr Budget offen. Nach der Streikwelle des Jahres 2010 steht die Provinzregierung Experimenten offen gegenüber, Löhne zwischen Unternehmen und Arbeitern aushandeln zu lassen. Die Institutionalisierung der Arbeitskonflikte könnte ein alternativer Weg zu ihrer Eindämmung sein, anstatt nur auf staatliche Repression zu setzen.

Mit verschiedenen Modellen zu experimentieren, gehört schon seit den Tagen von Maos roten Stützpunktgebieten im Bürgerkrieg zu den Grundsätzen der Politik der KPCh. Bevor eine politische Maßnahme im ganzen Land implementiert wird, soll sie auf lokaler Ebene getestet werden. Auch die Reformer um Deng Xiaoping machten es so, als sie Anfang der achtziger Jahre in »Sonderwirtschaftszonen« kapitalistische Verhältnisse zuließen. Fraktionskämpfe in der Partei können abgemildert werden, wenn man Rivalen eine eigene »Spielwiese« zur Verfügung stellt. Außerdem werden vielversprechende Kader auf der Grundlage eines Rotationssystems im ganzen Land eingesetzt, damit man ihre Fähigkeiten für höhere Aufgaben in der Zentralregierung testen kann.
Dass Chongqing überhaupt als »linkes Modell« gehandelt wird, zeigt, wie stark linke Ideen in China marginalisiert worden sind. Wegen der geschichtlichen Erfahrung der Kulturrevolution und der Bewegung von 1989 hat die KPCh-Führung große Angst vor Fraktionskämpfen. Nicht ganz zufällig schlossen Bo und Wang am 11.Dezember in Beijing ein Kooperationsabkommen zwischen Chongqing und Guangdong ab. Eine nicht untypische Lösung für die KPCh wäre, einfach im nächsten Jahr beide, Bo und Wang, in die nationale Führung aufzunehmen. »Unter dem Himmel« der Partei mehrere Modelle zuzulassen, gilt in China als effektives Mittel der Herrschaftssicherung.