Irshad Manji im Gespräch über den Islam

»Wir brauchen keinen Mullah«

Als Irshad Manji im Dezember ihr neuestes Buch »Allah, Liberty and Love« auf einer Diskussionsveranstaltung zur Reformierung des Islam in Amsterdam vorstellte, stürmte eine islamistische Gruppe den Raum und bedrohte Manji und andere Anwesende mit dem Tod. Die in Uganda und Kanada aufgewachsene Autorin und Journalistin ließ sich jedoch nicht vertreiben. Als muslimische Feministin kämpft sie nicht nur in ihren Publikationen gegen den Islamismus und für eine Reform des Islam. Jungle World sprach mit ihr über Gott und die islamische Welt.

Wie schätzen Sie die derzeitigen Bewegungen in der arabischen Welt ein?
Kurzfristig bekommen die Islamisten mehr Macht. Das gefällt mir natürlich nicht. Aber langfristig, wenn die Menschen Wahlmöglichkeiten haben werden, die vorher nicht existierten, dann werden sie Verschwörungstheorien bekämpfen. Wenn das geschieht, können solche Gesellschaften wachsen und die Menschen Verantwortung für sie übernehmen. Ich bin mir sicher, dass die junge Generation ein Interesse an frischen Ideen hat und ihr persönliches Leben ändern will. Dies führt dazu, dass sich die Kultur ändert und die Sozialisation der Bürger innerhalb solcher Gesellschaften.
Ihre Bücher sind auch in der islamischen Welt Bestseller, obwohl Sie den Islam kritisieren.
Mein vorheriges Buch wurde sehr gut aufgenommen, das neue auch. Meine Bücher werden im Internet gelesen. Es ist nicht klar, wer welche Lehren aus meinen Büchern zieht. Ich weiß, dass die Jugend in der arabischen Welt mich für den positiven Weitblick lobt. Es geht nicht darum, nur den Islam zu kritisieren, es kommt auch auf neue Inspirationen an. Ich bin optimistisch, weil bisher mehr als zwei Millionen Menschen meine Bücher allein im Internet heruntergeladen haben.
Unter welchen politischen Bedingungen könnten sich Ihre Ideen am besten durchsetzen?
Ich bin liberal – und wir wissen, dass der Begriff nicht populär ist. Ein dogmatisches System lässt keine Freiheiten zu. Das System muss offen und pluralistisch sein. Bescheidenheit ist gefragt, denn ein politisches System kann nicht alle Antworten auf alle Fragen der Welt parat haben. Es gibt Muslime, die sagen, dass der Islam die Antwort auf alles ist und der Koran die Verfassung. Das ist ein Dogma. Die Islamisten glauben, die Wahrheit monopolisiert zu haben. Ein dogmatisches System wird den Menschen nicht erlauben, ­Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen.
Sie sagen, dass Sie an Allah glauben, aber nicht an islamische Gesetze. Wie funktioniert das?
Ich glaube an Allah, aber nicht an eine institutionelle Religion. Wir brauchen keinen Mullah, um an Gott zu glauben. Wir können ein direktes Verhältnis zu Gott haben, ohne Vermittler.
Was soll ein Muslim dann mit dem islamischen Recht tun?
Ich würde ihm sagen, dass Sharia und Fiqh, die islamische Rechtswissenschaft, Konstrukte sind, die von Menschen geschaffen worden sind. Das islamische Recht stammt nicht direkt von Gott. Nur Gott kennt die endgültige Wahrheit. Wenn jemand nun auf Grundlage der Religion Gesetze schaffen will, bestreitet er geradezu die Macht Gottes. Das ist auch der Grund, warum wir Religion von Staatspolitik trennen müssen.
Würden Sie sagen, dass die Muslime sich von Sharia und Fiqh verabschieden sollten?
Ja. Die Anhänger der Sharia können nicht den Anspruch erheben, die Wahrheit und das Wissen monopolisiert zu haben. Wir brauchen den Glauben an Gott. Was wir nicht brauchen, ist, dass ein Mensch gewalttätig wird, andere bedroht und sie zwingt, seiner speziellen Interpretation der Wahrheit zu folgen. Dann spielt ein solcher Gewalttäter Gott.
Ich bin nicht diejenige, die Fundamentalisten eliminieren will. Ich sage, im Gegenteil, dass Vielfalt wichtig ist, um den einen Gott anzubeten. Daher finde ich, dass der Mensch seinen Glauben behalten darf. Ich sage Ja zu Allah, aber ich sage mit Sicherheit Nein zur Sharia. Es gibt keinen wahren Islam. Der Islam ist das, was die Menschen daraus machen. Religion ist ein Konstrukt.
Was bedeutet der Koran für Sie?
Im Koran gibt es eindeutige und mehrdeutige Stellen. Nur diejenigen, die in ihrem Herzen ungläubig sind, interpretieren die mehrdeutigen Stellen willkürlich und verordnen allen ihr Verständnis davon. Man kann sogar den Koran als ein Beweismittel gegen diejenigen benutzen, die behaupten, dass nur ihre Interpretation richtig ist.
Der iranische Staatsklerus spricht von Ijtihad, einer zeitgemäßen Koraninterpretation. Wo ist der Unterschied zwischen Ihrem Ijtihad und dem eines iranischen Staatsklerikers?
Das möchte ich am Beispiel der interkonfessionellen Heirat erläutern. Immer wieder höre ich von muslimischen Frauen, die ihren Partner angeblich nicht heiraten können, weil er kein Muslim ist. Besonders viele junge Muslimas haben mir dieses Problem geschildert. Ich bin daraufhin zu einem progressiven Imam in den USA gegangen. Ich habe ihn gefragt, wie auf Grundlage des Koran eine Muslima trotzdem einen Nichtmuslim heiraten könnte. Der Imam schrieb ein zweiseitiges Gutachten und argumentierte aus dem Koran heraus. Ich habe das Rechtsgutachten auf meiner Homepage veröffentlicht. Ich wusste, dass ich die Eltern der jungen Muslimas überzeugen musste. In sechs Monaten wurde das Rechtsgutachten so beliebt, dass ich es in 20 Sprachen übersetzen ließ, auch ins Deutsche. Ich hörte dann, dass manche Eltern mit einer interkonfessionellen Hochzeit einverstanden waren, nachdem sie gesehen hatten, dass wenigstens eine muslimische Autorität dies befürwortete. Das ist ein Beispiel für Ijtihad im 21. Jahrhundert.
Sie sind lesbisch und Muslima. Was würden Sie einem Ayatollah sagen, der behauptet, dass das Auspeitschen von Lesben eine gerechte islamische Strafe sei?
Ich würde ihm sagen: Sie sind nicht Gott. Denn Gott hat diese spezielle Interpretation des Koran nicht verordnet. Ich würde ihm auch sagen, dass er durchaus an Polygamie glauben kann. Aber er darf andere Menschen nicht zu seinem Verständnis der Dinge zwingen. Im Übrigen mag es auch Frauen geben, die in einer polygamen Ehe leben wollen. Es ist nicht meine Aufgabe, ihnen zu sagen, dass sie diesen Weg nicht gehen sollen. Ich kann ihnen aber sagen, dass sie das Privileg haben, sich auszusuchen, ob sie in einer polygamen Ehe leben wollen oder nicht. Es ist wichtig, dass auch Muslimas wissen, dass sie eine Wahlmöglichkeit haben.
Wir haben die Verantwortung, offene Gesellschaften zu schaffen, in denen wir uns widersprechen dürfen, denn alles andere bedeutet doch nur, dass wir miteinander Gott spielen.
Wer unterstützt Sie in Ihren Zielen?
Meine Mitstreiter sind Außenseiter und Nichtangepasste. Menschen, die von der Gesellschaft als Freaks gesehen werden und schwer in vorbestimmte Kategorien passen. Jeder muss verstehen, dass die Schönheit und die Geheimnisse des Lebens große Fragezeichen darstellen.
Meine Feinde sind diejenigen, die glauben, dass ihre Wahrheit die einzige Wahrheit ist. Das können auch Atheisten sein, die mich als albern bezeichnen. Es können Kapitalisten oder Sozialisten sein, die ebenfalls meinen, dass es nur eine Wahrheit gibt. Solche Menschen können mit ihrem Dogma Fundamentalisten werden. Wir haben auf der einen Seite des Spektrums Fundamentalisten und auf der anderen Relativisten. Dazwischen sind die Pluralisten. Das sind Menschen, die bereit sind, darüber zu urteilen, was akzeptabel ist und was nicht. Auch Pluralisten sollten demütig sein, da ihre Urteile nicht absolut sind. Die Meinungsfreiheit ist nicht verhandelbar. Auch Liberale oder Demokraten können sehr dogmatisch sein. Meine besten Mitstreiter sind Pluralisten.
Sie arbeiten gemeinsam mit einem Netzwerk von liberalen europäischen Reformmuslimen.
Ein Netzwerk ist sehr wichtig. Die moderaten und konservativen Muslime haben ihre eigenen Netzwerke. Aber liberale Reformer sind meistens isoliert. Eine solche Netzwerkbildung ist nicht nur wichtig für die Muslime in Europa, sondern auch für die anderen Bürger Europas. Es soll deutlich werden, dass es kein Widerspruch ist, Muslim und Europäer zu sein.
Wie kann der Islam demokratisiert werden?
Der Schlüssel zur Demokratisierung des Islam liegt in der Trennung von Staat und organisierter Religion. Gott hat jeden Menschen mit Verstand und Geist geschaffen, aber Machtpolitiker können die Menschen unmündig machen.