Ein Jahr arabische Revolten

Demokratie, irgendwie

Ein Jahr nach Beginn der arabischen Aufstände haben in den Ländern, in denen Wahlen stattfanden, islamistische Parteien die politische Verantwortung übernommen. Das aber ist kein Grund, die Revolutionen im Nahen Osten für gescheitert zu erklären.

Es war ein Ruf aus der Gruft: Bashar al-Assad beschwor in seiner jüngsten Rede an die syrische Nation den früheren ägyptischen Präsidenten und Helden des arabischen Nationalismus, Gamal Abd al-Nasser, der Syrien einst als »schlagendes Herz des Panarabismus« bezeichnet habe. Draußen im Land schossen derweil, wie bereits in den vergangenen 300 Tagen des Aufstands, die Schergen des Baath-Regimes auf Demonstranten und Deserteure.
Der seit mehr als 40 Jahren tote Nasser wird Assad und die syrische Führung allerdings nicht retten können. Die Tage der mehr oder weniger großen arabischen Führer sind unwiederbringlich vorbei. Welche Folgen auch immer die arabischen Revolten zeitigen werden: Der Panarabismus, eine Ideologie, die seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts das politische Leben im Nahen Osten prägte, ist endgültig tot und hat zerstörte Länder und perspektivlose Gesellschaften hinterlassen. Sein Zwillingsbruder und Konkurrent zugleich ist der politische Islamismus, der nun alleine übrig ist und angesichts allerorts demonstrierender Menschen an Rückhalt verliert.
Jahrzehntelang standen sich Panarabisten und Islamisten gegenüber, vor allem in der Frage, wer am Besten den sogenannten arab excepitionalism verkörpert. So wird die Idee bezeichnet, wonach die Menschen zwischen Marrakesch und Islamabad irgendwie ganz anders seien als in anderen Regionen dieser Welt. Nämlich nicht so an Demokratie, Freiheit und einem besseren Leben interessiert, sondern eher an Kultur, Religion und vor allem am Kampf gegen den Westen im Allgemeinen und den Zionismus im Besonderen.

Mit dem Abgang der alten nationalistischen Führer haben sich nun auch für die Islamisten die Spielregeln geändert. Islamistische Parteien sollen nun Teile des alten Nahen Ostens zum Aufbruch in eine neue Ära anführen, das haben ihnen die Wählerinnen und Wähler in Ägypten und Tunesien auferlegt. Ob diese Parteien wirklich den ganz großen Plan für eine Machtübernahme haben, wie sie selbst und ihre größten Kritiker im Westen munkeln?
Man stelle sich vor, die schlecht organisierten säkularen oder liberalen Parteien hätten unter den gegebenen Umständen die ersten freien Wahlen in Ägypten oder Tunesien nach den Aufständen gewonnen. Dies hätte die Entstehung einer starken islamistischen Opposition in den neuen Parlamenten bedeutet, was nicht gerade wünschenswert gewesen wäre.
Dass islamistische Parteien in Ägypten und Tunesien die Wahlen gewonnen haben, liegt nicht nur an der kräftigen finanziellen Unterstützung durch die Golfmonachien. Die Stärke dieser Parteien besteht auch darin, dass sie als aufrichtig gelten, und nicht zuletzt darin, dass sie auf lokaler Ebene gut etabliert und organisiert sind und in hochgradig verunsicherten Gesellschaften soziale Stabilität verheißen.
Diese »Freiheits- und Gerechtigkeitsparteien«, die allerorten erklären, man wolle nun dem »türkischen Modell« nacheifern und dann wieder von der Wiedererrichtung des Kalifats schwärmen, sind nicht die geläuterten, »gemäßigten« Islamisten, als die sie derzeit überall gepriesen werden. Nur kann bisher auch niemand erklären, was diese Parteien denn nun eigentlich sind oder in Zukunft sein werden. Sie mussten sich in ihren Wahlkämpfen einerseits gemäßigt geben, und doch allen zugleich alles versprechen: hier Stabi­lität und Moderation, dort »Tod den Juden«, den Jihad und die Sharia.
Nicht zu unterschätzen ist dabei, daß sich die islamistischen Parteien im Wahlkampf gerade nicht mit ihren traditionellen Maximalprogrammen, sondern als weichgespülte »konservative« Kräfte profilieren wollten, inklusive dem Bekenntnis zu parlamentarischer Demokratie. Mit dem unseligen Vorbild der iranischen »Revolution« im Jahr 1979 hat diese Entwicklung nichts zu tun. Ölgeld, wie damals im Iran des Shahs, ist in den Bevölkerungszentren der Region gar nicht mehr vorhanden. Das Modell der »Islamischen Republik Iran« hat sich zudem als nicht besonders attraktiv erwiesen, wie die Bilder des Sommers 2009 aus Teheran deutlich bewiesen haben. Die panische Angst der heillos zerstrittenen iranischen Machthaber vor der »Parlamentswahl« im März 2012 ist ein weiteres Zeichen dafür. Der Iran ist nicht das Menetekel der Demonstrantinnen und Demonstranten vom Tahrir-Platz, es verhält sich genau umgekehrt. »Zum ersten Mal stimmen so ziemlich alle überein, dass die politische Macht durch freie und pluralistische Wahlen von der Bevölkerung ausgehen sollte. (…) Wichtig ist nun klarzustellen, dass diese Wahlen, deren Zeugen wir waren, sich nicht als die letzten ihrer Art erweisen«, schrieb der exiliranische Publizist Amir Taheri jüngst über die politischen Entwicklungen im Nahen Osten.
Ob in Tunis, Kairo, Bengasi, Aden, Sanaa oder Bahrain, die Demonstrantinnen und Demonstranten marschieren nicht um einer Ideologie willen, auch gibt es keine charismatischen Anführer und keine Programme zur Welterlösung.
Jenseits der politischen Verantwortung, die ihnen durch die Wahlen zugefallen ist, haben die Islamisten der erwartungsvollen, aufgewühlten und plötzlich aus einer scheinbar ewigen Lethargie erwachten Bevölkerung nicht viel anzubieten. Den Menschen, die sie nun vertreten sollen, geht es um persönliche Freiheit, um die Eindämmung der Korruption, um das wirtschaftliche Überleben, um Chancen auf ein besseres Leben und nicht zuletzt um die Menschenwürde. Auch wenn der Iran und die Golfstaaten unermüdlich verbreiten, dass es im Nahen Osten zu jahrelangen innerislamischen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten kommen werde, geht es den meisten Menschen dort um die Teilhabe an politischen Prozessen, um so etwas wie Demokratie, so unperfekt und rudimentär sich dies auch darstellen mag. Der interne »Kulturkampf« in den Ländern der arabischen Aufstände wird weiter eskalieren: Geschlechterapartheid, individuelle Rechte, Umgang mit Minderheiten und Menschenrechte überhaupt werden in diesen Ländern die Themen der kommenden Zeit sein. Hier werden sich die islamistischen Parteien nun beweisen müssen.

Die Mehrheit der Menschen im Nahen Osten bezeichnet in Umfragen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als die beste aller Regierungsformen. Die Hürden für deren Umsetzung sind allerdings hoch. Die alten Verhältnisse der »orientalischen Despotie« wie etwa die Ölrenten, die fehlende Gewaltenteilung und vor allem der katastrophale Zustand des Bildungssystems sind die größten Hindernisse für eine demokratische Entwicklung im Nahen Osten. Ein Jahr nach dem Beginn der Aufstände muss man daran erinnern, dass die arabischen Regimes nicht gefallen sind, weil die Demonstrantinnen und Demonstranten plötzlich so stark waren, sondern weil diese Regimes politisch am Ende waren.
Nun ist es vergleichsweise unwichtig, wie ernst es die Salafisten meinen, wenn sie verkünden, das Friedensabkommen mit Israel werde man irgendwie beibehalten, oder wenn sich der Chef der tunesischen Partei al-Nahda kleinlaut für Alkoholausschank ausspricht. Im parlamentarischen Alltag werden die Islamisten ohnehin mühselige Kompromisse eingehen müssen, und nichts entradikalisiert so schnell wie Koalitions­regierungen. Diese Parteien müssen sich nun erstmals praktisch mit ihren eigenen Ideologien auseinandersetzen. Welche Rolle spielen denn künftig Parlamente, Verfassungen und von Menschen gewählte Volksvertreter in Gottes Welt? Eine Lösung wie in Algerien in den neunziger Jahren, nämlich per Wahl eine islamistische Diktatur einzuführen, ist heutzutage nicht mehr möglich. Die Islamisten sind eben nicht die Protagonisten der Ereignisse gewesen, sie sind den Ereignissen eher hinterhergelaufen. Die Revolten haben maßgeblich Jugendliche unter dem Banner liberaler, eher laizistischer Forderungen vorangetrieben. Den »Islamisten« hat aber der konservative Teil der Bevölkerung nun die weitere politische Verantwortung übertragen. Das ist der Kampf, der ausgetragen werden muss. Die politische Kultur wird sich in diesen Ländern weiter ändern. Schon jetzt ist in Homs, in Aden oder in Tunis die grauenhafte Angst vor dem Folterer, dem Totmacher geschwunden.

Viele Fragen bleiben offen, die Verlierer der arabischen Revolten kann man jedoch bereits benennen: Sie heißen Hizbollah, Assad und Iran, anders gesagt, die »Achse des Widerstandes«. Gelang es früher im Nahen Osten, interne Konflikte nach außen zu verlagern, so werden sie nun endgültig in Bagdad und Damaskus ausgetragen. An der Peripherie, in Israel vor allem, aber auch in den Kurdengebieten, ist es plötzlich vergleichsweise ruhig, weil das alte Spiel der Externalisierung nicht mehr funktioniert. Hinzu kommt, dass die »Araber« nun selbst die Wahl haben: Wollen sie Bagdad oder Damaskus in ein großes Beirut verwandeln, getrennt in sunnitische und schiitische Wohnbezirke und durchzogen von zerschossenen grünen Linien?
Was folgt also auf den »Arabischen Frühling«, wenn nicht gleich der »Islamische Winter«, wie er in pessimistischen Kommentaren beschworen wird? Amir Taheri dürfte recht behalten. Er hat gerade einen »Sommer der sozialen Unzufriedenheit, der ökonomischen Krise und der politischen Fehlschläge« vorausgesagt. Aber er hat auch daran erinnert, dass dies »unvermeidliche Risiken« seien, wenn man versucht, das »düstere Erbe des Despotismus« loszuwerden.