Neue Erkenntnisse über den Völkermord in Ruanda

Alles nur Schall und Rauch

Eine neue Untersuchung klärt endlich die Umstände des 1994 begangenen Attentats auf den ruandischen Präsidenten, auf das der Genozid folgte. Bislang gab es dazu, vor allem in Frankreich, sehr kontroverse Thesen.

Es war ein klägliches Ende für einige geschichtsrevisionistische Thesen über die Ursachen des Genozids in Ruanda im Frühjahr und Frühsommer 1994. Am Dienstag vergangener Woche wurde der Bericht von sieben technischen Experten für Ballistik und Akustik veröffentlicht, den die französischen Untersuchungsrichter Marc Trévidic und Nathalie Poux in Auftrag gegeben hatten. Gegenstand der Untersuchung war der Hergang des Attentats auf das Präsidentenflugzeug der ostafrikanischen Republik Ruanda, das am Abend des 6. April 1994 beim Landeanflug auf die Hauptstadt Kigali im Nachthimmel explodierte. Ruandas damaliger Präsident Juvénal Habyarimana starb bei dem Absturz. Zusammen mit ihm starb ein Dutzend weitere Passagiere, unter ihnen auch sein Amtskollege aus dem Nachbarland Burundi, Cyprien Ntaryamira.
Wenige Minuten nach dem Attentat, das mittels zweier Boden-Luft-Geschosse aus einem Raketenwerfer verübt worden war, begann das Morden in Kigali. Es entstanden die ersten Straßensperren und Kontrollstellen in der ruandischen Hauptstadt, an denen Personen aufgrund der Angaben auf ihren Ausweisdokumenten – »Hutu« oder »Tutsi« – selektiert wurden. Und noch in der Nacht gingen die Präsidentengarde und Milizen, die für eine »Reinigung« der Nation von der »Tutsi«-Minderheit mobilisiert wurden, anhand vorher angefertigter Todeslisten vor und begannen, Wohnviertel Kigalis zu durchkämmen. In den folgenden 100 Tagen wurden zwischen 800 000 und einer Million Menschen ermordet: »Tutsi«, aber auch einige Angehörige der »Hutu«-Mehrheitsbevölkerung, die der politischen Opposition angehörten oder sich dem Morden widersetzten. Es war der am schnellsten durchgeführte Völkermord der Geschichte.

Dass ein zeitlicher Zusammenhang zum Attentat auf den Präsidenten bestand, war schon immer unstrittig. Alles andere aber war Gegenstand kontroverser Thesen – je nachdem, wem die Hauptschuld am Völkermord zugesprochen werden sollte. Viele internationale Beobachter und die meisten Überlebenden des Völkermords sahen die »Hutu«-Extremisten als Urheber des Attentats. Habyarimana war selbst »Hutu« und für Diskriminierungen der »Tutsi« mitverantwortlich. Dennoch hatten die Extremisten wichtige Motive, den Präsidenten aus dem Weg zu räumen. Seit 1993 führte er nämlich im Nachbarland Tansania Verhandlungen mit einer von »Tutsi« geführten Guerillabewegung, der Rwandan Patriotic Front (RPF), die vom Nachbarland Uganda aus operierte. Dort lebten seit den ersten bedeutenden Massakern, die 1959 und 1963 stattgefunden hatten, ruandische »Tutsi«-Flüchtlinge.
Seit Oktober 1990 hatte die RPF über die Grenze hinweg das ruandische Regime angegriffen, um die Rückkehr der im Exil lebenden »Tutsi« zu erzwingen. Im tansanischen Arusha fanden später Verhandlungen statt, bei denen Präsident Habyarimana sich grundsätzlich auf eine Rückkehr vertriebener »Tutsi« sowie eine künftige Machtteilung eingelassen hatte. Deswegen war es aus Sicht der extremistischen »Hutu Power«-Bewegung höchste Zeit, die Entwicklung grundlegend umzukehren. Ferner lieferte die Ermordung des Staatsoberhaupts ihnen das erwartete Fanal um loszuschlagen. Vorbereitet hatten sie den Völkermord mindestens seit 1991/92. Eine Million Macheten waren im Sommer 1993 in China bestellt und über eine französische Bank bezahlt worden.

Besonders unter damaligen Rassisten kursierte jedoch eine Gegenthese zum Attentat. Ihr zufolge ermordeten nicht die »Hutu«-Extremisten den Präsidenten, vielmehr sei es die RPF gewesen. »Um den ruandischen Staat zu enthaupten«, ein Machtvakuum auszulösen und mit Waffengewalt die Kontrolle über das Land zu übernehmen, argumentierten Vertreter dieser These.
In aller Regel knüpft eine zweite Argumentationskette nahtlos an: Da die aus »Tutsi« bestehende RPF das Attentat geplant und durchgeführt habe, seien »Tutsi« selbst die Auslöser des Völkermords gewesen. Dies sei auch beabsichtigt und Bestandteil eines großen zynischen Plans gewesen. Die RPF habe den Völkermord an den »eigenen Leuten« bewusst einkalkuliert, um nationale und internationale politische Akteure mit einem so geschaffenen Opferstatus moralisch erpressen zu können.
Ähnlich argumentierte im Kern auch der französische »Antiterror-Untersuchungsrichter« Jean-Louis Bruguière in seiner jahrelangen »Ermittlungsarbeit«. In Wirklichkeit ging es darum, eine bestimmte historische und politische These zu propagieren. Bruguière nahm seine offiziellen Ermittlungen im März 1998 auf, drei Tage nachdem eine parlamentarische Untersuchungskommission in Frankreich ihre Arbeit begonnen hatte. Diese war durch eine Artikelserie des Journalisten Patrick de Saint-Exupéry, einem Augenzeugen des Völkermords, im Figaro ausgelöst worden. Infolge der Artikelserie kam bei vielen Französinnen und Franzosen die Frage auf, ob ihre Regierung nicht tiefer als geahnt in die Ereignisse verwickelt gewesen sei. Tatsächlich hatte sie damals für die für den Völkermord verantwortliche Regierung Partei ergriffen. Als einziges westliches Land erkannte Frankreich die »Übergangsregierung« an, die nach dem Tod von Präsident Habyarimana gebildet worden war, und zwar in den Räumen der französischen Botschaft in Kigali. Die Entscheidungsträger um Präsident François Mitterrand waren der Auffassung, die RPF sei eine Truppe im Dienst des englischsprachigen Uganda, das gegen ein profranzösisches Regime kämpfe. Mit allen Mitteln sollte die postkoloniale Einflusszone in Afrika erhalten werden.
Bruguière, der keinerlei Ermittlungen vor Ort in Ruanda durchführte, keine ballistischen Untersuchungen vornehmen ließ und sich auf viele vom Regime selbst präparierte Beweisstücke stützte, vertrat folgende These: Die RPF unter Paul Kagamé, dem damaligen Rebellenführer und derzeitigen Staatspräsidenten Ruandas, habe am 6. April 1994 das Präsidentenflugzeug abgeschossen. Dadurch habe die RPF den Völkermord unmittelbar ausgelöst, da die »Hutu«-Bevölkerung auf diese Tat von »Tutsi« spontan reagiert habe.
Jean-Louis Bruguière erlaubte sich, das vermeintlich von der RPF ausgeführte Attentat von 1994 als »Terrorismus« einzustufen – und die aktuelle ruandische Staatsspitze zwölf Jahre später eines solchen Terrordelikts zu bezichtigen. Zwar wurde Kagamé selbst durch seine Immunität als Staatsoberhaupt geschützt. Doch gegen neun seiner engsten Mitarbeiter leitete Bruguière Ende 2006 Strafverfahren ein und stufte sie als »Terrorverdächtige« ein. Ruanda brach daraufhin jegliche diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ab. (Jungle World 49/06)

Nicolas Sarkozy leitete eine Wende in den Beziehungen zu Ruanda ein. Er war der Auffassung, diese müssten »normalisiert« werden, da die Erinnerung an den Völkermord sonst eine »politische Zeitbombe« darstelle. Er reiste im Februar 2010 nach Ruanda. Dort weigerte er sich zwar, im Namen Frankreichs um Entschuldigung zu bitten, sprach aber von einer »Verblendung« der französischen Entscheidungsträger während des Völkermords.
Als Nachfolger von Bruguière übernahm unterdessen Marc Trévidic die Ermittlungen. Er reiste 2010 zusammen mit einem Expertenteam nach Ruanda. Die Ergebnisse der Ermittlungen liegen nun auf dem Tisch. Nach der Untersuchung der Flugbahn und der Schallentwicklung der Luft-Boden-Raketen steht fest, dass die Geschosse nicht vom Massaka-Hügel in etwa drei Kilometer Entfernung südöstlich vom Flughafen von Kigali aus abgeschossen wurden, wie Bruguière behauptet hatte. Dieser meinte, Kämpfer der RPF seien vor dem Attentat dorthin geschleust worden. In Wahrheit wurden die Raketen vom Camp Kanombé aus abgeschossen. Dieses lag östlich und wesentlich näher am Flughafen. Es war der Sitz der Präsidentengarde, die zu Beginn des Völkermords eine Schlüsselrolle spielte.
Nicht nur die zweite Hälfte der Argumentation des Richters Bruguière – die ideologische Bewertung der Ursachen des Völkermords, dessen vermeintlicher Charakter als spontaner Ausbruch eines im Kern berechtigten Volkszorns – ist absurd. Nun ist auch bewiesen, dass die erste Hälfte den Tatsachen widerspricht.
Nicht alle Zeitgenossen möchten sich mit dieser Feststellung abfinden. Die französische Presse – die linksliberalen Tageszeitungen Libération und Le Monde ebenso wie der konservative Figaro – ist in dieser Hinsicht sehr eindeutig. Sie hält die Diskussion jetzt für abgeschlossen und die historische Wahrheit für geklärt. Der nationalistische und populistische Journalist Pierre Péan, der seit Jahren die Thesen Bruguières verbreitet und seit 2000 seine Bücher mit theoretisch der Öffentlichkeit unzugänglichen Akten aus dessen Verfahren gefüllt hatte, möchte hingegen bislang nicht klein beigeben. In der Gratistageszeitung Métro, die ihm noch ein Forum gibt, sprach Péan von einem lediglich provisorischen Stand des Untersuchungsverfahrens. »Kommende Gegenexpertisen« würden, so verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, »es erlauben, klarer zu sehen«.
David Maingain und Léon-Lev Forster, die Anwälte der durch den ehemaligen Untersuchungsrichter Bruguière angeklagten hohen ruandischen Funktionäre, kündigten unterdessen ihrerseits eine Klage an. Sie werden nun bei der französischen Justiz Anzeige gegen Bruguière und sein Team erstatten wegen »bandenmäßig begangenen Betrugsversuchs in der Absicht, ein Urteil zu erwirken«.