Haftstrafe für einen türkischen General

Generäle hinter Gittern

Erstmals wurde in der Türkei ein ehe­maliger Generalstabschef inhaftiert. Doch es geht nicht um die Stärkung des Rechtsstaats, mit den Prozessen gegen hohe Offiziere verfolgt die regierende AKP politische Ziele.

Menschen mit viel Macht fällt es schwer, sie nicht zu missbrauchen. Noch schwerer fällt es ihnen, zu begreifen, dass sie ihre Macht verloren haben. Der ehemalige Generalstabschef İlker Başbuğ war fassungslos, als er am 5. Januar dem Haftrichter vorgeführt wurde. Der 68jährige wiederholte mehrfach, um welch einflussreiche Persönlichkeit es sich doch bei ihm handele.
Der Generalsstabschef, Kommandant der ­Land-, Luft- und Marinestreitkräfte sowie der Jandarma, einer Art Grenzschutz- und Militärpolizeitruppe, war jahrzehntelang der mächstigste Mann in der Türkei. Die von Generälen nach dem Militärputsch von 1980 erlassene Verfassung legte fest, dass Generäle strafrechtlich nicht verfolgt werden können. Doch in den vergangenen acht Jahren mussten sie mit ansehen, wie die islamisch-konservative Regierungspartei AKP unter der Schirmherrschaft der EU Schritt für Schritt diese Straffreiheit aufhob.

Offiziere können mittlerweile auch vor zivilen Gerichten angeklagt werden, außerdem wurden Sondergerichte für Massenprozesse wie das Ergenekon-Verfahren eingerichtet. In diesem Verfahren wird den Angeklagten vorgeworfen, einem Geheimbund angehört und sich zum Sturz der AKP-Regierung verschworen zu haben. Ein Drittel der Militärführung sitzt mittlerweile im Gefängnis, auch gegen den ehemaligen Putschistenführer Kenan Evren wurde Anklage erhoben. İlker Başbuğ ist der erste der ehemals Mächtigsten hinter Gittern. Am Tag nach seiner Verhaftung erschienen Fotos auf den Titelseiten der Zeitungen, die ihn verwirrt in die Kameras blinzelnd auf dem Rücksitz eines Autos zeigen.
Sieben Stunden dauerte die Vernehmung. Baş­buğ soll dafür verantwortlich sein, dass die türkische Armee in seiner Amtszeit als Generalstabschef zwischen 2008 und 2010 verdeckt Internetseiten betrieben hat, auf denen sie mit erfundenen Geschichten gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan agitierte. Teile dieser Propaganda sollen im Jahr 2008 als »Beweise« Eingang in das am Ende gescheiterte Verbotsverfahren gegen die AKP gefunden haben.
Dass es solche Seiten gegeben hat, ob direkt vom Militär oder einem ihm nahestehenden Think Tank betrieben, bezweifelt der ehemalige Militärrichter Ümit Kardaş nicht. Es passe zum gängigen Arbeitsstil, der Gegner werde erst diskreditiert, dann bestraft und aus dem Weg geräumt. »Das Militär genoss bei uns jahrzehntelang eine nicht hinterfragte Autorität, weil der Preis des sogenannten Antiterrorkampfes vielen Leuten nicht bekannt war oder sie nicht interessierte«, sagt der 61jährige. »Die islamisch-konservative Regierung hat durch die neu geschaffene Möglichkeit, Militärmitglieder vor zivilen Gerichten anzuklagen, einen Trumpf gewonnen.«
Den nutzt sie nun genauso schamlos aus wie die früheren Machthaber in Uniform. Antiterrorverfahren fanden bis 2004 vor den Staatssicherheitsgerichten statt. Die Vorsitzenden waren Militärrichter und Meister im Verurteilen aufgrund fadenscheiniger Zeugenaussagen, gefälschter Beweise, der phantasievollen Interpretation von Indizien für terroristisches Gedankengut und simpler Manipulation. So wurde Erdoğan 1998 wegen »Aufstachelung zur Feindschaft aufgrund von Klasse, Rasse, Religion oder regionalen Unterschieden« zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt und erhielt ein lebenslanges Verbot politischer Betätigung. Anlass war eine Rede, in der er aus einem Gedicht von Ziya Gökalp zitiert hatte: »Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.« Das hört sich fürchterlich islamistisch an, Gökalp ist aber als einer der führenden Poeten der nationalistischen Staatsideologie in der Türkei so hoffähig wie in Deutschland Hoffmann von Fallersleben.

Vier Jahre später wurde die Verfassung geändert und das Verbot politischer Betätigung aufgehoben, Erdoğan konnte Ministerpräsident werden. Zunächst als Moderator zwischen zwei unversöhnlichen Lagern, den Laizisten und Islamisten, folgt er nun den alten Mustern. Er setzt das Instrumentarium der Demokratie gegen politische Gegner ein. Am meisten hatten und haben unter der Propaganda und einer den politischen Machthabern zuarbeitenden Justiz die Kurden und die Linken zu leiden. Neben dem Ergenekon-Prozess ist momentan der sogenannte KCK-Prozess einer der größten Massenprozesse in der Türkei seit dem Militärputsch von 1980. Davon betroffen sind in erster Linie kurdische Politiker, Journalisten, Hochschullehrer, Verleger – alle, die eine nicht opportune Ansicht zur Kurdenproblematik vertreten.
Es wird viel über die Verfahrensfehler im Ergenekon-Prozess berichtet und lamentiert. Die Ehefrauen angeklagter Offiziere amüsierten die türkische Öffentlichkeit im September mit Demonstrationen in Istanbul. Sie warben um Solidarität und bedienten sich unglücklicherweise des Jargons der politischen Opposition: »Schweige nicht, sonst bis du der nächste.« Das wirkte lächerlich als Verteidigung von Offizieren, die wenig Bedenken hatten, Andersdenkende einsperren zu lassen.

Was momentan passiert, erinnert sehr an die Praktiken in anderen politischen Prozessen der Vergangenheit. Der Prozess gegen die kurdischen Abgeordneten der Demokratiepartei (DEP) um Leyla Zana fußte in großen Teilen auf den Aussagen von Sedat Bucak, einem gegen die PKK kämpfenden Clanchef, der ein Heer von »Dorfschützern« genannten Milizionären beschäftigte, Teil der Kontraguerilla und entschiedener Gegner der Politiker der DEP war.
Legendär ist ein abendfüllendes Interview, das Bucak dem privaten Fernsehsender Flash TV nach dem sogenannten Susurluk-Unfall gab. Er war der einzige Überlebende eines Autounfalls, bei dem der aus den Reihen der Ultranationalisten stammende mehrfache Mörder und Drogenschmuggler Abdullah Çatlı und der ehemalige stellvertetende Polizeipräsident von Istanbul, Hüseyin Kocadağ, ums Leben gekommen waren. Mit dem Unfall begann die Enttarnung von Organisationsformen wie Ergenekon.
Damals nannte man das mörderische Zusammenspiel eines Teiles des Staatsapparats, der Politik und der Drogenmafia »Kontraguerilla«. Diese verübte Attentate, fingierte Anschläge, beschaffte Geld durch Drogen- und Waffenschmuggelgeschäfte und manipulierte die Öffentlichkeit. Bucak pries stundenlang die angeblichen Heldentaten von Abdullah Çatlı, der unter anderem Ende der siebziger Jahre an der Ermordung von sieben unbewaffneten linken Studenten beteiligt gewesen war.
Märchenerzähler wie Bucak gibt es im Ergenekon-Verfahren ebenfalls. Im Januar 2009 bekam der angebliche Tripleagent Tuncay Güney mehr als zwei Stunden Sendezeit bei der staatlichen Fernsehstation TRT. Güney lebt mittlerweile in Kanada und soll nach der in den Mainstream-Medien verbreiteten Legende gleichzeitig für den türkischen Geheimdienst MİT, den Mossad und die CIA gearbeitet haben. Seine Aussagen über Exekutionen im kurdischen Südosten, in staat­lichen Ölfeldern verscharrte Leichen von Ermordeten und die Verwicklung von Teilen des Militärs in diese Gräuel sind Teil der Anklageschrift von Ergenekon.
Nirgendwo sonst in Europa würde Beweismaterial dieser Art zugelassen. In der Türkei ist das seit Jahrzehnten die übliche Rechtspraxis. Die Verhaftung von İlker Başbuğ ist daher im Grunde nichts Besonderes. Vielleicht wurde ein weiteres Tabu gebrochen, doch da die AKP die Entzauberung der ehemals Unantastbaren in Uniform seit einiger Zeit mit großem Propagandaaufwand betreibt, ist die Öffentlichkeit kaum noch aufzuschrecken.