Müllsammler in Uruguay

Raus aus der Tonne

Die uruguayische Regierung will Müllsammler von der Straße holen und sie ­legal beschäftigen. Das entspricht nicht ­immer den Vorstellungen und Bedürfnissen der Sammlerinnen und Sammler.

Bis zu 400 Tonnen Müll am Tag sammeln und sortieren sie allein in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo. Clasificadores, wie unabhängige Wertstoffsammlerinnen und -sammler in Uruguay genannt werden, sind somit für das Recycling von 40 Prozent des Abfalls der Stadt verantwortlich. Die Zahlen entstammen einer Studie des Ministeriums für soziale Entwicklung von 2006. Neben der staatlich organisierten Abfalltrennung und -verwertung hat diese private Art der Müllsammlung eine lange Tradition. In 150 Jahren hat sich in diesem Sektor jedoch einiges geändert, vor allem der tägliche Handel mit der Recyclingindustrie, die die gesammelten Wertstoffe weiterverarbeitet, und der Grad der Politisierung der clasificadores. Sie kämpfen darum, ihre Arbeit aus der Informalität zu holen und die sozialen und gesundheitlichen Bedingungen zu verbessern. Die uruguayische Regierung haben sie dabei nicht immer auf ihrer Seite.

Clasificadores gibt es schon seit 1842, damals sammelten sie noch Wertstoffe wie Glas, Metall und Stoffe auf den Mülldeponien. In den 1970er Jahren wurde ihnen der Zugang zu öffentlichen Mülldeponien verboten. Deshalb begannen Sammlerinnen und Sammler, Wertstoffe aus Mülltonnen zu holen, bevor sie auf die Deponie gelangten, und trennten die brauchbaren von den unbrauchbaren Materialien. Während der Militärdiktatur Ende der siebziger Jahre führte die Stadtverwaltung Montevideos einen ersten Zensus der clasificadores durch, mit dem Ziel, sie samt ihren Pferden und Wagen von den Straßen zu entfernen. Diejenigen, die bei sogenannten Aufräumaktionen ihre Transportmittel verloren hatten, bauten jedoch später aus Materialien wie Holz und leeren Tanks neue Karren.
1979 gründete Padre Cacho die Comunidad San Vincente, um die clasificadores zu organisieren und gezielt zu unterstützen. Als Mitte der achtziger Jahre vielen clasificadores durch die Privatisierung der Abfallentsorgung in den Wohngebieten Montevideos ihre einzige Einnahmequelle entzogen wurde, erreichten die Organisationen San Vincente und Movimiento Pro Vida Decorosa, dass die Sammlerinnen und Sammler weiterhin Zugang zu diesen Wohngebieten bekamen und ihre Arbeit fortführen konnten. Diese und viele andere Gruppen bereiteten den Weg, der zur Gründung von Gewerkschaften für die Müllsammler führte. Am 5. Juni 2001, dem internationalen Tag der Umwelt, demonstrierten clasificadores mit ihren carros, Mülltransportfahrzeugen wie Pferdekutschen oder Handwagen, vor dem Regierungsgebäude gegen ihren Ausschluss vom Verkehrsnetz und für die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit.
Die bis heute wichtigste Gewerkschaft der clasificadores mit dem Namen Unión de Clasificadores de Residuos Urbanos Sólidos (Ucrus) wurde am 20. April 2002 gegründet. Sie stellt seitdem Forderungen an die Regierung, um die Arbeit der clasificadores zu erleichtern. Der Gewerkschaftspräsident Walter Rodriguez sagt der Jungle World, er wünsche sich beispielsweise eine halbindustrielle Anlage für die Mülltrennung, die über ein Fließband, eine Hebebühne sowie Schüttrohre und Fahrzeuge verfügt, um das Material zu transportieren. »Sie werden etwas errichten, aber nicht nach unseren Konditionen. Im Moment wollen sie Betonwege anlegen und Dächer bauen sowie Lagermöglichkeiten«, sagt er zu den Plänen, die die Regierung als Antwort auf die Forderungen von Ucrus entwickelt hat. Außerdem kämpfe die Gewerkschaft schon seit Jahren dafür, dass die Sammlerinnen und Sammler in das staatliche Sozialversicherungssystem integriert werden. Es gehe um Errungenschaften wie »Krankenversicherung, Urlaubsgeld, Rentenversicherung oder auch die Absicherung der Familie«, erläutert Rodri­guez, »aber das ist eine der Forderungen, die wir bis heute nicht durchsetzen konnten. Ich würde sagen, dass es seitens des Staates nicht besonders viel Initiative gibt, den Job des clasificador zu normaliseren. Wir ringen darum, dass die Tätigkeit als wirkliche Arbeit anerkannt wird.«

Das Einkommen der Sammlerinnen und Sammler ist nicht gerade hoch. Seit 2006 versucht das Ministerium für soziale Entwicklung durch Spenden von Arbeitswerkzeugen oder Transportmitteln zu helfen und die Gründung von Kooperativen zu unterstützen. Seitdem haben sich die Löhne auf durchschnittlich 6 000 Peso (etwa 220 Euro), das derzeitige Mindesteinkommen, erhöht. Es wurden viele Kooperativen gebildet, die mit der Bevölkerung zusammenarbeiten und die Wertstoffe in den Wohngebieten oder direkt bei großen Firmen einsammeln. Sandra Perez arbeitet in der Kooperative Juan Cacharpa. Nachdem das Ministerium bewirkt hatte, dass die Firmen selbst die Verantwortung für ihren Abfall übernehmen und die clasificadores für den Abtransport der Wertstoffe bezahlen müssen, änderte die Kooperative ihre Methoden. Wie Perez der Jungle World erzählt, habe Juan Cacharpa begonnen, direkt mit den Firmen zu kommunizieren und die Wertstoffe mit motorisierten Transportmitteln vor Ort einzusammeln. Dies sei effektiver und werde von der Gesellschaft wesentlich besser angenommen. »Vorher mussten wir dankbar dafür sein, wenn man uns Reststoffe für den Verkauf zur Verfügung stellte. Nun müssen die Firmen für den Abtransport zahlen, aber wir müssen ebenfalls Steuern zahlen«, sagt Perez.
Die Preise der Wertstoffe schwanken von Region zu Region und sind abhängig vom internationalen Markt. In Montevideo bringt ein Kilogramm Plastikflaschen 2,5 bis drei Peso ein (zehn bis zwölf Cent), in anderen Bundesländern und im Landesinneren kann der Preis sogar bei nur einem Peso liegen. Die Recyclingfirmen selbst verdienen sieben bis zehn Peso pro Kilogramm.
»Die Preise sind sehr instabil, es gibt keinen staatlichen Mechanismus, der die Preise reguliert«, bedauert Rodriguez. Den clasificadores ist es nicht möglich, ein so großes Volumen zu liefern, dass die Preise steigen könnten. Daher sammeln und verkaufen sie je nach Nachfrage der Produktion. Im Moment scheint Nylon einer der wichtigsten wiederverwertbaren Stoffe zu sein.
Wichtiger als ein hohes Einkommen ist den Sammlerinnen und Sammlern jedoch nach eigener Aussage gesellschaftliche Anerkennung. Sie wünschen sich, dass die Bevölkerung ihren Job als richtige Arbeit betrachtet. »Es gibt viele Sektoren, die die Arbeit der clasificadores nicht ernstnehmen – sie sehen nicht, dass wir permanent einen Beitrag für die Bevölkerung leisten, indem wir die Natur schützen, für Sauberkeit sorgen und durch unseren Arbeitsstil mit den Pferden keine schäd­lichen Emissionen produzieren. Wir sind andauernder Diskriminierung ausgesetzt, eine Vielzahl der Bürger nimmt gar nicht wahr, dass es sich bei den Personen, die diese Tätigkeit ausüben, um Menschen handelt«, beschwert sich der Ucrus-Präsident Rodriguez. Dazu scheint es immer noch einiger Veränderungen in Politik und Gesellschaft zu bedürfen. Andererseits herrscht unter den Sammlerinnen und Sammlern großes Einverständnis darüber, dass die bei dieser Arbeit vorhandene Autonomie trotz der schwierigen Lebensumstände ein positiver Aspekt ist.

Mit dieser Autonomie könnte bald Schluss sein. Die seit September 2011 diskutierte Regierungsinitiative »Plan Pocitos« sieht vor, 40 Müllsammler in eine Umstrukturierungsmaßnahme zu integrieren und für sie Arbeitsplätze im Baugewerbe zu schaffen. Die Bürgermeisterin von Montevideo, Ana Olivera, macht sich für die Initiative stark, fraglich ist aber, ob auch die clasificadores selbst an dieser Maßnahme Interesse haben.
Rodriguez sagt, dass man ihnen Jobs bei der Baufirma Stiler SA angeboten habe. Die Arbeit bekommt jedoch nur, wer Pferd und Karren der Stadtverwaltung überlässt. Er sieht diese Initiative sehr kritisch: »Die Leute sind Spezialisten in der Abfallverwertung. Eine Baufirma arbeitet immer mit einem bestimmten Zeitrahmen. Diese Jobs beginnen und enden irgendwann – und wenn sie zu Ende sind, hat die Person, die die Abfallverwertung aufgegeben hat, keinen Job und ist ihrem ehemaligen Arbeitsumfeld entfremdet. Sie hat alle ihre Kunden verloren und muss erneut auf Arbeitssuche gehen. Ich bin einverstanden mit der Idee, aber wahrscheinlich wäre es besser, die Leute in einem anderen Umfeld unterzubringen – und wenn es in einem Supermarkt ist.«
Auch die Kooperative Juan Cacharpa scheint kein Interesse an dieser Umstrukturierungsmaßnahme zu haben. »Sie sagen dir, dass sie dir einen neuen Job geben, manche können sie davon überzeugen, vielleicht die jungen Leute. Aber denjenigen, die ihr ganzes Leben in der Abfallverwertung gearbeitet haben, nimmt man etwas weg, was sie gut kennen, sie haben Angst vor neuen Aufgaben«, kritisiert Perez. Der Gewerkschafter Rodriguez vermutet hinter dem Engagement der Stadtverwaltung noch andere Motive: »Der Staat hat gar kein Interesse daran, dass wir weiter diese Tätigkeit ausüben. Er will, dass wir verschwinden, und die Führung der Müllwirtschaft übernehmen oder sie einer multinationalen Firma übergeben, da er erkannt hat, dass der Müll ein Millionengeschäft ist.«