Soziale Proteste in Tunesien und Algerien

Umsonst arbeiten für den neuen Staat

In Tunesien gab es im Januar wieder eine Selbstverbrennung mit tödlichen Folgen. Die Proteste gegen die Sozialpolitik der Regierung breiten sich aus. Auch in Algerien eskalieren derzeit die sozialen Proteste.

Mit göttlicher Hilfe lassen sich soziale Konflikte nicht wegzaubern. Das mussten die regierenden Islamisten in Tunesien feststellen, nachdem in den vergangenen Tagen und Wochen viele Menschen in verschiedenen Teilen des Landes gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierungspartei Ennahdha auf die Straße gegangen waren. So hatte die neue Regierung im Dezember die Idee, die Staatsbediensteten im Jahr 2012 als »Sonderbeitrag« für die Konsolidierung des Staatshaushaltes vier Tage umsonst arbeiten zu lassen.
Der wichtigste tunesische Gewerkschaftsdachverband, die UGTT – deren Spitze früher häufig eine staatsgewerkschaftliche Politik betrieb, die jedoch stets auch linke und oppositionelle Frak­tionen aufwies – erklärte sich offiziell sogar bereit, über den Vorschlag zu verhandeln, »unter gewissen Bedingungen« sei man im Prinzip damit einverstanden. Einer der beiden neuen Gewerkschaftsdachverbände, die in den vergangenen Monaten der UGTT ungewohnte Konkurrenz machten, erklärte hingegen, nicht einen einzigen unbezahlten Arbeitstag im öffentlichen Dienst werde es mit ihrem Einverständnis geben.
Für Unmut sorgte auch die Ankündigung aus Regierungskreisen, manche Lohnerhöhungen, die unmittelbar nach der demokratischen Revolution und dem Sturz von Zine al-Abidine Ben Ali beschlossen worden waren, zurückzunehmen, da sie der Nationalökonomie schadeten. Anfang Januar wurde zudem bekannt, dass die Führung der UGTT, die sich in diesem Punkt weniger zu faulen Kompromissen bereit zeigte, einen offenen Brief an den Premierminister geschickt hatte. Darin wurde Hamadi Jebali vor den Konsequenzen gewarnt, sollte die Regierung versuchen, die Tarifabkommen anzutasten, die in der ersten Jahreshälfte 2011 unter dem Druck der damaligen sozialen Proteste abgeschlossen worden waren.

Vor allem aber rumort es in den ärmeren zentraltunesischen Provinzen, die auch zu Beginn der Revolution im vergangenen Winter eine wichtige Rolle spielten, insbesondere in der Bergbauregion von Gafsa. Dort hatte bereits von Januar bis Juli 2008 eine regional begrenzte, aber breite Massenrevolte gegen die von Korruption und Klientelpolitik geprägte Einstellungspraxis im Phosphatbergbau stattgefunden. Die Region um Gafsa war seit Jahren eine Ausnahme in Tunesien, wo die soziale und politische Opposition, Gewerkschafter, linke Anwältinnen, Frauenrechtlerinnen und Menschenrechtsaktivisten eine gut etablierte Gegenöffentlichkeit bildeten.
In der ersten Januarwoche 2012 kam es in Gafsa erneut zu einer tragischen Protestbekundung wie vor 13 Monaten in Sidi Bouzid, als der Tod von Mohamed Bouazizi den Aufstand auslöste. Ein arbeitsloser Mann, Ammar Gharsalla, verbrannte sich in der Öffentlichkeit und starb am 10. Januar an den erlittenen Verletzungen. Als drei Minister der Zentralregierung Gafsa besuchten, um ihre Anteilnahme zu bekunden, bekamen sie den Unmut der Menschen zu spüren.
Nicht nur wegen der sozialen Kämpfe ist es derzeit unruhig in Tunesien. Auch Journalistinnen und Journalisten protestieren gegen die Regierung. Jebali hatte im Dezember verkündet, tunesische Medien sollten sich wie Sprecher der Regierung verhalten. Darüber hinaus ernannte er im Januar Mohamed Nejib Ouerghi zum neuen Direktor der staatlichen Pressefirma Snipe, die für Druckereien, den Vertrieb und den Inhalt der staatseigenen Zeitungen verantwortlich ist. Ouerghi hatte während der Diktatur, von 2003 bis 2010, die Regierungszeitung Le Renouveau geleitet, ein plumpes Verlautbarungsorgans des ­alten Regimes. Hunderte von Journalistinnen und Journalisten demonstrierten in der Kasbah von Tunis gegen die Ernennung, weitere Proteste sind bereits angekündigt worden. Die Regierung gab unterdessen bekannt, die umstrittene Personalentscheidung zu »überdenken«.

Auch in den Nachbarländern, vor allem in Algerien, spitzen sich die sozialen Konflikte zu. Anfang Januar gab es in den Wüstenstädten Laghouat und Ouargla, in Skikda an der Mittelmeerküste sowie in den Armenvierteln von Oran und Algier eine Woche lang heftige Proteste. Grund dafür war die Klientelpolitik bei der Zuteilung von Wohnungen in diesen Städten. In den meisten Fällen handelte es sich um spontane Ausschreitungen, wie sie in Algerien oft stattfinden. Doch im traditionell aufsässigen Larghouat wurden die Proteste von lokalen Initiativen wie der Liga für Menschenrechte organisiert, die auch im ­Internet um Unterstützung warben.
Das wirft die Frage auf, ob Algerien, ein Land, das von den Umbrüchen in den nordafrikanischen Ländern im vergangenen Jahr wenig berührt wurde – unter anderem, weil die Bevölkerung dort nach dem Bürgerkrieg der neunziger Jahre konfliktmüde ist – derzeit auch vor politischen Unruhen steht.