Kritik am »Fonds Heimerziehung«

Zum Beispiel ein Kochbuch

Ehemalige Heimkinder können seit Anfang des Jahres Anträge stellen, um Hilfeleistungen zu bekommen. Doch der »Fond Heim­erziehung« von Bund, Ländern und Kirchen steht in der Kritik.

Noch herrscht vielerorts Chaos: Die regionalen Beratungsstellen für ehemalige Heimkinder öffnen im Januar, die meisten mehr oder wenig provisorisch. Zu Beginn des Jahres sollte ein vorzeigbares Ergebnis präsentiert werden, das die Vorschläge des »Runden Tisches Heimerziehung« umsetzt. Der Bund, die westdeutschen Länder und die Kirchen mit ihren Wohlfahrtsverbänden einigten sich schließlich auf die Einrichtung eines Fonds in Höhe von 120 Millionen Euro. Ehemalige Heimkinder, die in westdeutschen Heimen misshandelt wurden, können nun Hilfeleistungen beantragen. 20 Millionen Euro stehen für den Ausgleich entgangener Rentenansprüche zur Verfügung, die übrigen 100 Millionen Euro für »Folgeschäden aus der Heimerziehung«.

Schon dieser Ausdruck macht Dirk Friedrich vom »Verein ehemaliger Heimkinder« (VEH) wütend. »Das sind Almosen«, sagt er, »und so nennen wir das auch.« Der VEH boykottiert den Fonds und fordert stattdessen Entschädigungen in Höhe von 300 Euro monatlich oder eine Einmalzahlung von 54 000 Euro für die Betroffenen. Der Streit um die Aufarbeitung der Heimerziehung dauert seit Jahren an, der »Runde Tisch«, der ihn befrieden sollte, war wenig erfolgreich. In der Zeit von 1949 bis 1975 wurden 700 000 bis 800 000 Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht. Sie galten als »verwahrlost«, dieser unbestimmte Begriff konnte etwa »Bockigkeit«, »Schule schwänzen« oder »unsittliche Kleidung« meinen. Die meisten Heime befanden sich in kirchlicher Trägerschaft. Friedrich hat selbst 14 Jahre in Heimen verbracht, er ist der Sprecher und Vorstand des größten deutschen Betroffenenverbandes. Wenn er über das Thema spricht, holt ihn die Geschichte ein, seine eigene und die, die ihm andere ehemalige Heimkinder erzählt haben.
»Man darf nicht vergessen, was das für eine Zeit war«, sagt Friedrich, »aber das entschuldigt nicht, wie man uns behandelt hat.« Es geht bei der Aufarbeitung der Heimerziehung nicht nur um die rigiden Moralvorstellungen der fünfziger und sechziger Jahre, nicht nur um Kopfnüsse und Ohrfeigen. »Wir wurden mit allem verprügelt, was greifbar war, so lange, bis Blut geflossen ist«, sagt Friedrich. Kinder wurden mit Einzelarrest oder Essensentzug bestraft, gedemütigt und in Heimen oder auf Bauernhöfen zu schwerer Arbeit gezwungen. Es gab Nonnen, die Kinder zwangen, ihr Erbrochenes zu essen. Es gab Ärzte, die Spritzen oder Stromschläge verabreichten, wenn Kinder das Bett nässten. Friedrich weiß von einer Person, die seitdem zeugungsunfähig ist. Etliche Kinder wurden sexuell missbraucht.

In dem Streit um den Hilfsfonds geht es nicht nur um die Höhe der Summe. »Was wir erwartet haben, war eine Entschädigung, die auch im Sinne des Wortes eine ist«, sagt Friedrich. Tatsächlich sieht der Fonds ausdrücklich keine Entschädigungszahlung vor. Möglich sind lediglich Nachzahlungen auf das Rentenkonto und die Bewilligung von Sachleistungen. Dazu soll der »konkrete Bedarf« der Betroffenen in Gesprächen mit den regionalen Beratungsstellen ermittelt werden. Was das heißen soll, ist noch weitgehend unklar. Meist wird die Übernahme von Therapiekosten genannt, das gilt allerdings nur, wenn nicht ohnehin die Krankenkasse zahlt. Der Fonds soll solche Hilfsmaßnahmen ermöglichen, die von den Sozialleistungen nicht abgedeckt werden. Anna Maria Richter, Sprecherin der Beratungsstelle Bayern, bemüht sich, Beispiele dafür zu finden: »Wenn die Krankenkasse eine Kur bewilligt, dann können wir das begleiten, indem wir angemessene Kleidung bezahlen.« Auch die Aufarbeitung der Vergangenheit könne unterstützt werden, etwa die Suche nach Akten, indem Fahrt- und Kopierkosten übernommen werden. »Oder wenn es in den Heimen mangelhafte Ernährung gab und in Folge dessen jetzt ein schwieriges Verhältnis zur Ernährung besteht, könnte man eine Ernährungsberatung finanzieren oder ein Kochbuch«, so Richter. Sie betont, der Katalog sei bewusst weit gefasst, die Beispiele seien nicht abschließend: »Es soll wirklich auf den Einzelfall ankommen.«

Doch gerade das ist für die Betroffenen ein Problem. Einen rechtsverbindlichen Anspruch auf Leistungen aus dem Fond gibt es nicht. Im Gegenteil: Wer Hilfsmaßnahmen erhält, muss eine Verzichtserklärung unterschreiben, in der er sich verpflichtet, auf sämtliche Forderungen gegen die Träger des Fonds zu verzichten. Der Rechtsanwalt Robert Nieporte, der etwa 400 ehemalige Heimkinder in unterschiedlichen Rechtsfragen vertritt, hält das für rechtswidrig: »Die Betroffenen bekommen aus dem Fonds ja gar kein Schmerzensgeld. Warum sollen sie also eine Verzichtserklärung unterschreiben und damit auf alle möglichen Ansprüche verzichten?« Der VEH hat nun Klagen angekündigt. »Der Staat hatte sowohl über das Grundgesetz wie auch unter anderem über das Jugendwohlfahrtsgesetz die Verpflichtung, die Kinder zu schützen, auch wenn er kirchlichen Heimen die Fürsorge übertragen hat«, sagt Nieporte. Doch die Schmerzensgeldansprüche dürften mittlerweile verjährt sein. Nieporte will erreichen, dass die Einzelfälle überprüft werden, er ist der Ansicht, dass die Verjährung bei posttraumatischen Belastungsstörungen der Betroffenen ausgesetzt werden muss. Ob er damit Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten.
Dirk Friedrich ist entschlossen, notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschrechte zu gehen. Doch nicht alle Betroffenen werden sich den unsicheren Gerichtsverfahren aussetzen wollen und nicht alle boykottieren den Fonds. In den ersten zwei Januarwochen haben sich zahlreiche ehemalige Heimkinder bei den Beratungsstellen gemeldet. Eines dürfte ihnen aber gemeinsam sein. Eine »Scheißangst«, wie Friedrich sagt, im Alter wieder in ein Heim zu kommen. »Das ist es, was wir wollen: Wir wollen, dass wir verdammt nochmal, so lange wie nur irgendwie möglich, eigenständig leben können und in Würde alt werden.«