Das Patriarchat verschwindet nicht über Nacht

Avantgarde wider Willen

Der Sturz des Herrschers beseitigt nicht die Folgen jahrzehntelanger autoritärer Sozialisation, und die arabische Demokratiebewegung hat noch keine angemessene Organisationsform gefunden.

Lenin sagte den Deutschen nach, sie würden, wenn sie während einer Revolution einen Bahnhof stürmen, erst einmal Bahnsteigkarten kaufen. Da die Deutschen heutzutage höchstens versuchen zu verhindern, dass ein neuer Bahnhof gebaut wird, kann es vorläufig nur darum gehen, wie sie eine Revolution aus der Zuschauerperspektive beurteilen. Die Urteile »Gefällt mir« und »Gefällt mir nicht« mögen bei oftmals als Facebook-Revolutionen bezeichneten Umstürzen zwar naheliegend erscheinen, dennoch ist es sinnvoll, zunächst danach zu fragen, warum das alles eigentlich passiert ist.
Eine revolutionäre Situation entstehe, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen, urteilte Lenin. Wenn Armut und Unterdückung allein eine Revolution auslösen würden, hätte sich nie eine Klassengesellschaft stabilisieren können. Für die Bevölkerung muss erkennbar sein, dass man ohne »die da oben« besser leben könnte. Die materielle Not in der arabischen Welt war im Jahr 2008, als die Nahrungsmittelpreise immens anstiegen, größer, damals gab es jedoch kaum Proteste. Die Revolten haben soziale Ursachen, aber, anders als die Brotaufstände der siebziger und achtziger Jahre, einen explizit politischen Charakter. Historische Parallelen gibt es kaum. Im Hinblick auf das Ziel handelt es sich um eine bürgerliche Revolution, doch die Bourgeoisie spielte keine Rolle.
Für Marxisten ist offensichtlich, dass die Produktionsverhältnisse, die meist den bürokatischen Stumpfsinn einer autoritären Kontrollgesellschaft mit der Rücksichtslosigkeit eines durch keine gewerkschaftliche Gegenmacht gebremsten privaten Unternehmertums verbanden, zum Hindernis für die Entfaltung der Produktivkräfte geworden waren. Auch ohne Marx-Lektüre kamen Millionen Araber zu einer ähnlichen Schlussfolgerung.

Ägypten kannte den Beruf des Schreibers 4 000 Jahre, bevor der europäische Adel begann, lesen zu lernen. Doch heute sind ein Drittel, vielleicht sogar die Hälfte der Ägypter Analphabeten. Keine Region weist eine so hohe Monarchiedichte auf wie die arabische Welt, und in vielen Republiken wurde eine dynastische Erbfolge vorbereitet, sofern sie nicht, wie in Syrien, schon stattgefunden hatte. Der Entwicklungsrückstand wurde von der Uno im Arab Human Development Report wissenschaftlich dokumentiert. Für informierte Araber war nicht mehr zu übersehen, dass ihre Länder hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben und die Hauptursache hierfür die rückständigen politischen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnisse sind.
Die Rolle der sozialen Medien wird zwar oft überbewertet – die Revolution findet weiterhin auf der Straße statt –, doch ist es nicht gänzlich falsch, von einer »Facebook-Generation« zu sprechen. Denn im Internet, und vorläufig nur dort, können die Araber einander als Gleiche gegenübertreten. Altershierarchie, Patriarchat, Geschlechtertrennung und konfessionelle Segregation, die im Alltag eine freie Kommunikation auch dann fast unmöglich machen, wenn ausnahmsweise kein Agent des Mukhabarat in der Nähe ist, sind im Internet keine Hindernisse mehr. Deshalb wurden die wichtigsten revolutionären Organisationen online gegründet, während die traditionellen Oppositionsparteien allenfalls eine marginale Rolle spielten.
Doch auch die Revolution ist ein Produkt der alten Gesellschaft. Dass sich nach dem 25. Januar 2011 Millionen Ägypter der kleinen Gruppe von Revolutionären anschlossen, war für diese selbst eine Überraschung. »Die Ägypter glauben, die Forderung nach freien Wahlen sei eine amerikanische Verschwörung gegen ihr Land«, hatte der ägyptische Blogger Sandmonkey noch im Oktober 2007 gesagt (Jungle World, 43/07). Kaum mehr als drei Jahre später hatte sich das grundlegend geändert. Allein hätte der harte Kern der Demokratiebewegung den Sturz Hosni Mubaraks nicht erkämpfen können.

Während der ägyptischen Revolution verloren die Klassenunterschiede kurzzeitig an Bedeutung, nun kommen sie wieder zur Geltung. Am Hauptbahnhof von Kairo werden keine Bahnsteigkarten verkauft, obwohl sich angesichts der ständigen Überfüllung auf diese Weise viel Geld verdienen ließe. Denn neben den Reisenden trifft hier, meist aus Dörfern und Kleinstädten kommend, ein beachtlicher Teil der Menschen ein, die sich in Kairo niederlassen wollen. Es sind etwa 3 000 – pro Tag.
»Der Macht gehorcht man, man vertraut ihr nicht«, fasst die Historikerin Amira Sonbol die traditionelle Haltung zusammen. »Man greift sie an, wenn sie schwach erscheint.« Nun, da das neue Regime sich gefestigt hat, ziehen viele Ägypter sich wieder aus der Politik zurück. Oft aus nachvollziehbaren Gründen, denn ein Tagelöhner im Transportgewerbe, der wegen der Unruhen nicht arbeiten kann, legt sich abends hungrig auf seine Matratze.
Dass auf dem Tahrir-Platz ein von Muslimen geschützter christlicher Gottesdienst stattfand und die Geschlechtertrennung teilweise aufgehoben wurde, gehörte zu den ermutigenden Zeichen, die auch mich dazu brachten, den Einfluss der Demokratiebewegung zu über- und der der Islamisten und Reaktionäre zu unterschätzen. Obwohl die Wahlen in Ägypten angesichts der fortdauernden Militärherrschaft und des Boykotts der revolutionären Bewegung nicht als repräsentativ gelten könne, ist nun klar: Mehr als 5 000 Jahre autoritärer Tradition lassen sich nicht in ein paar Wochen abschütteln.
So ist für viele Ägypter das Militär auch eine moralische Autorität. Als im Jahr 2008 das subventionierte Brot knapp wurde, sprang die Armee ein und verteilte die Erzeugnisse ihrer Bäckereien. Über die beim Militärdienst erlittenen ­Demütigungen zu sprechen, verbietet den meisten Ägyptern ihr traditionelles Männlichkeitsbild. Doch muss man davon ausgehen, dass der Kasernenhof in den Köpfen ein noch größeres Hindernis für die Demokratisierung darstellt als die Gewalt des Militärs.

Für Männer ist der Militärdienst der Abschluss einer autoritären Sozialisation in Familie, Schule und Moschee oder Kirche (die koptischen Geistlichen sind nicht weniger reaktionär als ihre muslimischen Kollegen). Für Frauen ist die meist noch arrangierte Heirat der Abschluss ihrer gesellschaftlichen Integration. Ihr Dienst endet erst mit dem Tod. Dass Frauen sich für den Islamismus begeistern können, verwundert weniger, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass eine Liebesheirat im islamistischen Milieu eher möglich ist als unter den gesellschaftlichen Normalbedingungen. Wenn etwa der Bruder einen Heiratswilligen kennt, wird die propagierte Geschlechtertrennung umgangen, indem ein »zufälliges« Treffen an einem Ort arrangiert wird, der als halal gilt, etwa in einem von anerkannt Strenggläubigen geführten Restaurant. Männliche Verwandte spielen bei dieser Art Dating eine Rolle, doch wird die väterliche Autorität umgangen, ohne dass dies eine gesellschaftliche Ächtung nach sich zieht. Die Islamisten sind so erfolgreich, weil sie eine oppositionelle Haltung mit dem Bezug auf konservative Werte verbinden und zudem konkrete Hilfsleistungen anbieten.
Angesichts der Bedingungen ist es umso bemerkenswerter, dass die arabischen Revolten in einer Hinsicht die fortschrittlichsten Aufstände in der Geschichte der Menschheit sind. Sie haben keine charismatischen Führer hervorgebracht. Es gibt keinen ägyptischen Lenin oder Danton. Im derzeitigen Machtkampf ist dies allerdings eine Schwäche, denn Islamisten und andere Reaktionäre verfügen über effizientere Organisationen. Die Demokratiebewegung ist eine Avantgarde wider Willen, sie will nicht führen, sondern die Gesellschaft verändern. Eine angemessene Organisationsform hat sie noch nicht gefunden.
Dennoch haben in Tunesien bei den bislang einzigen freien nachrevolutionären Wahlen 60 Prozent der Bevölkerung für explizit säkulare und demokratische Parteien gestimmt. Eine soziale Gegenmacht entsteht, der noch nicht einmal ein Jahr alte unabhängige ägyptische Gewerkschaftsverband hat bereits 1,6 Millionen Mitglieder. Obwohl es in den meisten arabischen Staaten noch keine Meinungsfreiheit gibt, lassen sich kritische Debatten nicht mehr stoppen.
Revolutionäre geben nicht gerne zu, dass viele ihrer fortschrittlichen Ideen zunächst die Position einer Minderheit bleiben, auch wenn die Mehrheit an ihrer Seite für den Sturz des Regimes gekämpft hat. Nach der Französischen und der Russischen Revolution war das nicht anders. Dass niemand in der Demokratiebewegung Ambitionen erkennen lässt, dieses Problem im Stil Robespierres oder Dserschinskijs zu lösen, kann ebenfalls als Fortschritt gelten. Auf die ersten schnellen Erfolge in Tunesien, Ägypten und Libyen folgen nun zähe gesellschaftliche Konflikte. In den meisten arabischen Staaten steht der regime change noch aus. Nicht anders als während der Demokratisierung Europas, die zwei Jahrhunderte in Anspruch nahm, bleibt die extreme Rechte eine Bedrohung, es wird Rückschläge und wohl auch Bürgerkriege geben. Aber billiger ist der gesellschaftliche Fortschritt leider nicht zu haben.