Auf einer »Urban Safari« durch das belgische Charleroi

Belgische Hässlichkeit

Dreck, Verfall und Abgründe. Daraus hat ein belgischer Künstler ein Geschäft gemacht: Er zeigt Besuchern die Schattenseiten der belgischen Stadt Charleroi, deren Industrieruinen zur Kulisse für ein Spiel mit Klischees werden.

Irgendetwas stimmt hier nicht. Da ist ein Fehler im Bild. Über Kilometer breitet sich eine Wüste aus Rost entlang der betonierten Ufer aus. Das Bild sieht aus wie eine postindustrielle Panoramakarte in allen Braunschattierungen, die man sich nur vorstellen kann. Löchrige Fabrikfassaden und Schrotthaufen, durchzogen von stillgelegten Förderbändern und reglosen Brückengerippen. Und dann das: Der Fehler im Bild hat zehn oder elf Köpfe und treibt durch eine dichte Staubschicht, in deren Partikeln sich der Himmel spiegelt, der Metallwald am Ufer und die Armada der Schornsteine: Eine Entenfamilie ist das letzte, womit man hier gerechnet hätte. Geräuschlos paddelt sie auf das Spiegelbild der Kühltürme zu.

Sambre heißt hier der träge Strom. Es gehört nicht viel dazu, sich an seiner Uferpromenade in Wortspielen zu verlieren: Sambre, sombre, was auf Französisch »düster« heißt. Düster, wie die Kulisse und wie es einst Régina Magritte zumute war. Vor 100 Jahren stieg sie ein Stück flussabwärts im Vorort Chatelet in die trübe Brühe und kam nicht wieder heraus. Wie hätte sie ahnen sollen, dass ihr damals halbwüchsiger Sohn René einmal der berühmteste Maler des Landes werden sollte und das kleine Backsteinhaus seiner Jugend eine der wenigen Sehenswürdigkeiten dieses gezeichneten Landstrichs, der wegen seiner schwerindustriellen Narben als »Pays Noir« bekannt ist?
Nun, Sehenswürdigkeiten sind Definitions­sache. Nicolas Buissart, der sich selbst einen »multidisziplinären Künstler« nennt, hat seine eigenen Kriterien für eine Sightseeing-Tour. Jedes Wochenende bringt er seinen Gästen die spektakulärsten Scheußlichkeiten seiner Stadt nahe: die deprimierendste Straße des Landes, gesäumt von einer Kette grauer Schlote, verfallene Metallfabriken, das Haus des Kindervergewaltigers und Mörders Marc Dutroux – in Außenansicht, wohlgemerkt –, oder die halbfertigen Stationen und Tunnelgewölbe der »Ghost Metro«. Diese wurden nie fertig gebaut. In den siebziger Jahren ging das Geld für das Projekt aus, seitdem gammeln sie vor sich hin, friedlich und ungestört, wie das nur hier geht. Charleroi, die Hochburg der wallonischen Bergbauindustrie, liegt tief im Südwesten Belgiens und ist weit über seine Grenzen hinaus als konsequente Verneinung jeglicher Anmut verschrien.
Die Kulisse ist wie geschaffen für Buissarts Tourismuskonzept, das er »Urban Safari« genannt hat und dessen Markenzeichen die abgründigen Superlative sind. Eine dick aufgetragene Schicht Morbidität ist das Erkennungsmerkmal des Einmannunternehmens Charleroi Adventures. Auch der Verweis auf die »hässlichste Stadt der Welt«, einen Titel, der Charleroi vor Jahren von den Lesern einer niederländischen Zeitung verliehen wurde, zählt zu Buissarts Vermarktungsstrategie. Die meisten Leute kennen die Stadt zwar nur von der Durchreise nach Frankreich, doch die flüchtigen Blicke von der Stadtautobahn, die sich in einem futuristischen Brückengewirr erhebt und schwungvoll über die tristen Häuserzeilen windet, genügen auch den meisten.
Wer eine »Urban Safari« bucht, braucht es sich allerdings nicht zu bequem zu machen mit den Klischees, die es über die Stadt gibt. Eher sollte man an den Trick mit dem Garagentor denken, den Buissart erklärt. Als verwalte er das surrealistische Erbe seines Stadtgenossen Magritte, hat der 31jährige an einer Wand vor seinem Haus eine verschiebbare Holzkulisse mit einer falschen Einfahrt angebracht: »Das hält mir den Parkplatz frei«, erzählt er. Seine künstlerische Position umreißt Buissart wie folgt: »Zwischen Kunst und Design, Provokation und Kommunikation.« In diesem Sinn erscheint der Ruf von Charleroi als Geisterbahn unter den Städten so vordergründig wie die Garage. Dahinter warten, so die Website von Charleroi Adventures, »unbekannte Geheimnisse der interessantesten postindustriellen Region Europas«.

Also dann doch eher eine Bildungsreise? Denn wer hat schließlich schon mal auf einer Kohlehalde Picknick gemacht? Die Kohle allerdings sieht man nicht, seit drei Jahrzehnten schon sind die Minen dicht, und längst hat die Natur zum Gegenschlag aus- und sich das Terrain zurückgeholt. Kniehoch stehen die Gräser, an Beerensträuchern und Apfelbäumen geht es vorbei. Dann ein Aufstieg, steil und knackig, unter Blumen in lila, gelb und weiß schimmert schwarzes Geröll. Unten liegt der Fluss, wie auf einem staubigen Gemälde, eingerahmt von Fabrikruinen und kleinen Siedlungen mit Backsteinhäusern in Grau und Braun, den Farben, die hier immer Saison haben. Unterbrochen werden sie von weiteren bewachsenen Halden: Das Pays Noir begrünt sich selbst.
In einem afrikanischen Nationalpark würde der Guide jetzt ein blütenweißes Tuch über den Tisch legen und ihn mit exquisiten Speisen bedecken. Dort unten aber liegt nicht der Fluss Sambesi, sondern die belgische Sambre. Während sich die Touristen ringsum ihre Kameras der den Förderbändern, den Schornsteinen und den Transportbrücken widmen, schneidet Nicolas Buissart mit Hingabe Baguettes auf, drapiert Käse, Schinken, verschiedene Dips und Bananen, auf dass seine neun Gäste sich ihre Stullen belegen können. Wasserflaschen, Coladosen, Bier in Sixpacks: »Lunchtime!« Buissarts Assistent, Fabrice, ein schweigsamer Metalhead, kredenzt derweil eine Schale marinierter Oliven, so viel Stil muss sein.

Geblieben sind in Charleroi nicht nur die steilen Hügel. Auch manche der dazu gehörigen Minen gibt es noch. Im grasigen Ödland bei Chatelet, ein paar Kilometer vor der Stadt entfernt, liegt etwa die Ruine der Charbonnage du Gouffre. Grobe, zweigeschossige Klinkerbauten mit geschwungenen Dächern tauchen mit einem Mal aus den Büschen auf, ursprünglich waren sie grau, mittlerweile sind sie großflächig vogelkotgeweißelt. Wo einst runde fenster waren, klaffen heute riesige Löcher. Die Wände teilen sich bunte Tags und Holunder-Pflanzen, die Vegetation reicht bis in die Ecken der Werkhallen. Viele Mauern sind eingefallen, in der Mitte des Geländes hat man hellgrauen Beton aufgeschüttet und den Eingang versiegelt.
Die Kohleförderung in dieser Mine begann 1916. Zuerst kamen Arbeiter aus dem Norden Belgiens, der damals eine arme Agrarregion war. Noch heute wird in den Altenheimen Charlerois viel Flämisch gesprochen. Auch Seeleute, die in Antwerpen an Land gingen und Arbeit suchten, fanden den Weg hierher. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Zeit der italienischen Arbeiter. 1956 brach in der Mine von Marcinelle ein Feuer aus, das 262 Arbeitern das Leben kostete. 136 von ihnen kamen aus Italien. Wie so viele Minen schloss auch die von Chatelet in den sechziger Jahren. Die letzte Welle der Minenmigranten bildeten Arbeiter aus der Türkei. Als 1984 der letzte Tagebau abgewickelt wurde, tönten durch die Charbonnage du Gouffre schon ganz andere Geräusche: In den achtziger Jahren war hier ein Zoo untergebracht. Noch immer hängen Holzbalken und Gittertore von Käfigen schief zwischen den brüchigen Mauern.

Krater im scherbenübersäten Boden machen das Laufen durch das Gelände ein wenig riskant. Weil die Haftung bei Unfällen bei einem Start-up-Unternehmen, welches sich selbst »zwischen Kunst und Tourismus« verortet, nicht eindeutig geklärt ist, ist Nicolas Buissart immer etwas besorgt, wenn er mit seinen Gästen hier ankommt. Denn wo die Urban- zu einer Fotosafari wird, kann man sich, wenn man nicht aufpasst, schnell eine Etage tiefer wiederfinden. Also muss die Fotografengruppe aus Antwerpen auf jeden Schritt achten, gerade jetzt, wo hinter jeder Ecke neue Motive warten.
Luc de With und seine drei Freunde kennen sich von der Fotoakademie. 30 Jahre ist das her. Seitdem gehen sie regelmäßig mit ihren Kameras gemeinsam auf Reisen. Sie waren schon in Island und in Bolivien, nun ist Charleroi dran. »Das Schöne im Hässlichen« erhofft sich Luc de With.
Das Hässliche, das gibt es ist hier, keine Frage. Der Name der Stadt löst etwas aus, bevor man überhaupt ankommt. Ihr Anblick schockiert und zieht Besucher auf eine abstoßende Weise doch in ihren Bann. »Ich bin hier, um mich am Elend anderer zu weiden«, sagt die Niederländerin Petra selbstironisch. Die Carolos, wie die Bewohner der Stadt genannt werden, arbeiten in Fabriken, und wenn sie ihren Job verlieren, wenden sie sich vollends dem Saufen zu, so zumindest lautet das Klischee.
»Als ich nach Antwerpen kam, um Kunst zu studieren, wurde ich wie ein Exot behandelt«, erzählt Buissart. »Die anderen Studenten sagten: ›Oh, du kommst aus einem armen Land!‹«
Charleroi, das ist das Andere. Als sei die Industrialisierung etwas regional Begrenztes gewesen. Den Elendstouristen schaudert es, und zwar desto wohliger, je schneller er wieder wegfährt. Kopfschüttelnd läuft er noch durch die Fußgängerzone, die gerade renoviert wird. Die Erwartungen werden bestätigt: Offenes Erdreich lädt ein zum Flanieren, rote Leerrohre ragen in alle möglichen Richtungen. Auch Petra war hier, sie hat vor der Safari einen kleinen Spaziergang gemacht. Und was hat sie erlebt? »Keine Spur von Geselligkeit.«
Nirgendwo sonst in Westeuropa begegnet man den Spuren des Verfalls mit mehr laissez-faire als in Belgien. In Charleroi allerdings hat man den Verfall zur Kunstform erhoben. Leerstand allenthalben gibt es in der Passage de Bourse, einem holzvertäfelten Wandelgang im Zentrum der Stadt, wo die meisten Schaufenster verwaist und die Rolladen heruntergelassen sind. Auch die Lokale und Wohnhäuser im Bahnhofsviertel sind verlassen, in den offenstehenden Briefkästen stellt die Laufkundschaft der Nacht ihren Müll ab.
»Et la précarité?« steht in schwarzen Blockbuchstaben auf einem verrammelten Eingang. Gute Frage: Mehr als ein Viertel der Menschen hier sind arbeitslos. Auf den Bänken des Place Charles II. in der Oberstadt sieht man viele Leute, die mit ihren Pilsdosen den ganzen Tag herumsitzen.
Nicolas Buissart macht all das nichts aus. Er hat sich hier für wenig Geld ein Haus gekauft, und auch als Künstler kann er sich im kreativen Entwicklungsland eher einen Namen machen als in Brüssel. Ab und an weist er auf versteckte Ecken, die er mag. Es sind die wenigen Orte, wo Charleroi ihm richtig gefällt. Doch verklärend ist sein Blick nicht. Ebenso wenig, wie er ein Geheimnis daraus macht, dass er die Urban Safaris eigentlich als Performance Art ansieht. Man könnte das als Punkrock-Sightseeing beschreiben: Die zwei wichtigsten Akkorde sind Dreck und Verfall, der Rest ist improvisiert. Sein Wissen hat er aus Wikipedia und Urban Legends. Als Buissart 2009 mit den Safaris anfing, konnte er über einen Freund billig einen Kleinbus mieten. Seit das nicht mehr geht, hängt die Route davon ab, wie viele Gäste ein Auto haben. Im Übrigen finden die Touren sonntags statt, weil dann das Parken umsonst ist.
Weil es an diesem Tag drei Fahrzeuge gibt, steht noch ein Besuch im »Rockerill« an, ein Kulturzentrum in einer stillgelegten Stahlküche. Vor sechs Jahren besetzte ein Künstlerkollektiv das Gelände, kaufte es dem Besitzer ab und restaurierte es. Heute finden DJs und Bands den Weg dorthin, es gibt Ausstellungen und Veranstaltungen für Kinder, und jeden Donnerstag findet hier die lokale Variante der hippen, urbanen After-work-Parties statt: Les aperos indus heißen diese Veranstaltungen hier, »die industriellen Aperitifs«, die zwischen düsteren Stahlrohren stattfinden und eine Form von zuversichtlichen Hedonismus zum Ausdruck bringen, den man hier wirklich nicht erwarten würde. Der Name »Rockerill« bezieht sich auf den englischen Ingenieur Cockerill, der Charleroi einst zu einem Zentrum der Industrialisierung gemacht hat.
Dass Buissart nun das Erbe Cockerills auf seiner eigenen Art und Weise verwaltet, missfällt einigen in der Stadt. Wallonische Zeitungen waren pikiert ob der »unheimlichen Safaris«. Und bei der Touristeninformation im Bahnhof verdreht man beim Namen »Charleroi Adventures« die Augen. »Char­leroi verdient mehr, als dass jemand zehn Minuten an einen Ort geht und ein bisschen was erzählt«, findet Christophe Janssens, der wegen seiner Haldenexpertise auch als Mr. Terril bekannt ist. Und sein Kollege Jerome Verardo empört sich über das Kunstprojekt der Safaris. Dumm findet er sie, sensationsheischend und unprofessionell: »Die meisten Journalisten und Touristen gehen dorthin und fragen uns nicht.« Das wiederum sieht Buissart ganz anders: »Seit all die Artikel über mich geschrieben wurden, hat die Touristeninformation am Banhof auch ein bisschen was zu tun.«