Strategien der Elendsselbstverwaltung

Abfall für alle

Wer vom Müll lebt, muss kein Punk sein. In den Zeiten der Krise containert in Deutschland auch das linke Bürgertum mit Leidenschaft.

Raphael Fellmer ist die neudeutsche Version des ideellen Gesamtlinken. Er entstammt einer gutsituierten Akademikerfamilie, ist im bürgerlichen Berliner Stadtteil Zehlendorf aufgewachsen und hat ein Europa-Studium an der Universität Den Haag absolviert. Obwohl ökonomisch abgesichert und mit Aussicht auf eine vielversprechende Karriere, entdeckte er bald, dass es kein erfülltes Leben ohne ethischen Überbau gibt. Daher hat er sich schon in jugendlichen Jahren ein ra­biates soziales Gewissen zugelegt. Sein Vorbild ist Mahatma Gandhi, dessen Maxime »Du musst der Wandel sein, den du in der Welt sehen möchtest« auf einem Zettel über seiner Küchentür geschrieben steht. Weil auch er mit Haut und Haaren das Gute verkörpern will, das sich in der Welt allererst verwirklichen soll, hat Fellmer sich und seiner jungen Familie ein rigides Verzichtprogramm verordnet. Gemeinsam mit seiner Freundin Nives und der wenige Monate alten Tochter Alma Lucia lebt er in Berlin ganz ohne Geld. Um keine Miete zahlen zu müssen, übernimmt er als Gegenleistung fürs unentgeltliche Wohnen Handwerks- und Reparaturarbeiten. Ihr Essen findet die Familie in den Mülltonnen von Bio-Supermärkten, die Fellmer mit Vorliebe nachts durchforstet, ausgestattet mit einer Kopftaschenlampe und einem Rucksack. Glaubt man der Welt, die ihm im vergangenen Monat ein begeistertes Porträt gewidmet hat, ernährt er sich auf diese Weise gesünder als die Mehrheitsbevölkerung, die der Krise zum Trotz noch immer dem Geldfetisch verfallen ist: »Bio-Edamer aus einer Molkerei im Allgäu. Ein Glas Pesto, ›das Gold Liguriens‹, wie das Etikett verspricht. Ein Pfund gemahlener Hochlandkaffee aus Nicaragua, fair gehandelt.«

Fellmer legt Wert darauf, dass er nicht aus Not, sondern aus Überzeugung containert: »Ich finde es gut, dafür zu sorgen, dass möglichst wenig weggeschmissen wird«, erklärt er in etwas windschiefer Logik der Welt, »angesichts von Hunger auf der Erde, angesichts vom Klimawandel, angesichts von den riesigen Mengen an Energie und Wasser, die verbraucht werden, damit diese Lebensmittel produziert werden können.« Dem Moderator der Sendung »Nachtcafé« im SWR, in der Fellmer zum Thema »Ohne Moos nichts los?« zu Gast war, versicherte er: »Geld schränkt die Menschen ein, erst ohne ist man wirklich frei.« Obwohl er als bunter Vogel durch die Medien gereicht wird, steht Fellmer mit seinen Überzeugungen nicht allein. Vielmehr verkörpert er einen Trend zur Tonne, der sich insbesondere beim flügge gewordenen Nachwuchs des grünen Bürgertums immer größerer Beliebtheit erfreut. Die sogenannten Mülltaucher, die sich ausschließlich aus den Abfallcontainern von Lebensmittelkonzernen und Supermärkten ernähren, organisieren sich mittlerweile im Internet und über diverse Tauschbörsen. Ausdrücklich sollen diese keine bloß karitative Funktion erfüllen oder gar der Armenspeisung dienen, wie es die gleichfalls immer zahlreicheren Tafeln, Kleiderkammern und Suppenküchen der Kirchen und Wohlfahrtsverbände tun. Im Gegenteil sind die Mülltaucher der Ansicht, mit solchem Sozialpaternalismus würden die Armen in Unselbständigkeit und Passivität gehalten. Statt die vorhandenen Güter nur gerechter zu verteilen, gelte es, die Wegwerfmentalität der westlichen Gesellschaften an ihrem Fundament anzugreifen.

Vorbild für die deutschen Mülltaucher ist die Bewegung der »Dumpdiver« in den Vereinigten Staaten, die sich selbst auch Freegans nennen. Das Wort ist eine Verbindung von »free« und »vegan« und verweist bereits auf die ökologische Ethik, die der kulinarischen Selbsteinschränkung zugrunde liegt. Die Mehrheit der Mülltaucher ist bei ihrer Jagd nach verwendbarem Abfall durchaus anspruchsvoll, sucht bevorzugt nach hochwertigen Bioprodukten und verzichtet nicht allein aus hy­gienischen, sondern aus Gewissensgründen auf den Verzehr tierischer Erzeugnisse. Traditionelle Motive linker Kapitalismuskritik wie die ungleiche Reichtumsverteilung oder die Forderung nach freiem und gleichem Zugang zu allen Konsumgütern spielen in ihrem Selbstverständnis eher eine untergeordnete Rolle. Ziel ihrer »praktischen Konsumkritik« ist es vielmehr, das Prinzip des Recycling nicht nur auf die Abfall­entsorgung zu beschränken, sondern es sich als Lebensform zuzueignen. Die Ermahnung, nichts verkommen zu lassen, die ihre kriegsfolgengeschädigte Groß­elterngeneration in Deutschland als posttraumatischen Tic zu kultivieren pflegte, fungiert bei den Enkeln nicht mehr als Verzichtsappell angesichts von Notstand und Mangelwirtschaft, sondern als Ausdruck »nachhaltigen« Wirtschaftens, ja als besonders avancierte Form von Luxus. Vom Müll zu leben, gilt ihnen nicht als Symptom eines erbärmlichen, eingeschränkten Daseins, das abzuschaffen wäre, sondern als Ernährungswellness, die sich jeder gönnen kann. Containern wird so zu einer Form des demonstrativen Konsums.

Als demonstrativen Konsum oder Geltungskonsum (»conspicuous consumption«) bezeichnete der US-amerikanische Soziologe Thorstein Veblen in seiner 1899 erschienenen Studie »Theory Of The Leisure Class« eine Spielart des Konsums, die vor allem auf öffentliche Wirksamkeit zielt und den eigenen sozialen Status symbolisch erhöhen soll. Veblen dachte bei diesem Begriff freilich an den Luxuskonsum der gehobenen Schichten und versuchte mit seiner Hilfe ein positives Verständnis gesellschaftlicher Verschwendung zu erarbeiten. Bei den Mülltauchern dagegen wird gerade die Verteufelung der »Wegwerfgesellschaft« und der demonstrative Verzicht auf Geld, Warentausch und überflüssige Güter selbst zur gesellschaftlichen Distinktionsstrategie, mit der Teile eines sich politisch und ethisch überlegen dünkenden Bürgertums sich sowohl gegen die verschwenderische Oberschicht wie gegen die auf Fast Food oder Notgroschen angewiesenen Armen abgrenzen. Von den Punks, die das Bekenntnis zum Müll mit trotzigem Stolz im Namen führten und dem Leben von der Tonne in den Mund gleichsam subkulturelle Weihen verliehen haben, unterscheiden sich die Mülltaucher darin, dass sie ihren Lebensstil als Ausweis fortgeschrittenen Bewusstseins und gesellschaftlicher Integration auf der Höhe der Zeit begreifen. Während Punks und Penner, die an fremden Türen ihre Arbeitskraft anbieten, um kostenlos wohnen zu dürfen, oder fremde Mülltonnen durchsuchen, mit Beschimpfungen, Verhaftungen oder körperlicher Gewalt rechnen müssen, wird den politisch korrekten Mülltauchern denn auch in der Regel mit einer Mischung aus Befremdung und Begeisterung begegnet. Wer nicht aus Not, sondern aus Prinzip im Mist wühlt, kann kein ganz schlechter Volksgenosse sein.
Eine ähnliche Verbindung aus Verzichtsethik und Selbsterhöhung liegt den »Umsonstläden«, »Schenkläden« und »Giveboxes« zugrunde, die seit einigen Jahren, gegründet meist von lokalen Ini­tiativen, in fast allen Bundesländern wie Pilze aus dem Boden schießen und in denen man ohne geldvermittelten Tausch Dinge des täglichen Bedarfs, aber auch CDs, Bücher, Kosmetika, Computer und allerlei Trödel abgeben oder mitnehmen kann. Diese Läden, die sich als Vorposten ­einer auf der Basis »gegenseitiger Hilfe« organisierten, vermeintlich antikapitalistischen »Gratisökonomie« verstehen, binden die Mitnahme von Gegenständen ausdrücklich an keinerlei Bedürftigkeitsprüfung. »Wir geben die Sachen ohne Prüfung von Bedürftigkeit kostenlos ab, quasi an den Tellerwäscher genauso wie an den Millionär«, fasst etwa der »Umsonstladen Halle« dieses Selbstverständnis auf seiner Internetseite zusammen und kommentiert: »So wechseln Gegenstände den Besitzer/die Besitzerin, die sonst vielleicht weggeworfen oder neu gekauft werden müssten. Das spart Geld und Material.« Der unfreiwillig komische Lapsus – es geht nicht einmal mehr darum, das Geld, auf wie fragwürdige Weise auch immer, abzuschaffen, sondern es zu »sparen« – verweist nicht nur auf das genuin bürgerliche Bedürfnis, das diese Läden ihrem alternativen Flair zum Trotz bedienen. Er macht auch deutlich, dass es bei der »Gratisökonomie« in der Hauptsache gar nicht um die ohne Vermittlung durch den Tausch sichergestellte Erfüllung grundlegender Bedürfnisse geht, sondern um die Herstellung eines »nachhaltigen« Verwertungszusammenhangs. Ob die einzelnen Individuen davon wirklich profitieren, ist zweitrangig, fällt ihnen doch vor allem die Aufgabe zu, die lückenlose Materialverwertung durch ihren eigenen Lebensstil am Laufen zu halten. So schrumpfen die Menschen, um die es angeblich geht, zu Funktionen einer sich selbst genügenden Nachhaltigkeitsökonomie zusammen.

Doch die Begeisterung für Mülltaucher, Gratismieter und Umsonstladennutzer gerade in den bürgerlichen Medien dürfte sich nicht allein aus dem Bedürfnis erklären, die eigene drohende Deklassierung in symbolisches Kapital umzumünzen. Sie zeigt auch eine Veränderung des disziplinierenden Zugriffs auf die Armen an, denen die Mülltaucher politisch korrekte Konkurrenz machen. Aus Perspektive der »Gratisökonomie« nämlich ist den Armen nicht so sehr ihre vermeint­liche Faulheit als ihre Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen Lage anzulasten. Indem sie vorführen, dass das Leben vom Abfall dem falschen Luxus vorzuziehen ist, propagieren die Mülltaucher die Identifikation mit der Misere als Erhöhung der Lebensqualität und exponieren sich als Avantgarde einer Gesellschaft, die das Elend nicht einfach als nauturgegeben, sondern als attraktive Option für die Zukunft begreift.