Im Westen wie im Osten
Im Verlauf des vergangenen Jahres hat sich das Leben im niedersächsischen Bückeburg für einige Menschen zu einem Albtraum entwickelt. In der im Landkreis Schaumburg gelegenen Stadt mit 20 000 Einwohnern ist seit dem Beginn des Jahres 2011 die Anzahl von Propaganda- und Gewaltdelikten der Neonaziszene sprunghaft angestiegen. Im vergangenen April wurde deshalb die antifaschistische Bündniskampagne »Copy & Paste« begonnen. Diese rief zusammen mit zivilgesellschaftlichen Gruppen für den Samstag vergangener Woche zu einer Demonstration gegen die anhaltende Nazigewalt in der Stadt auf, etwa 600 Menschen folgten dem Aufruf. Vor der Demonstration sagte Felix Imfeld, der Sprecher der Kampagne, dass man verschiedene Gruppen im Kampf gegen Rechts zusammenführen und »mit einem guten Signal in das Jahr starten« wolle.
Zu diesem Zeitpunkt zählte eine Chronik auf der Internetseite der Kampagne rund 50 Vorfälle, wovon sich die meisten im Jahr 2011 ereignet hatten. Imfeld spricht von einer »Explosion« nazistischer Gewalt. 13 Menschen sollen verletzt worden sein. In der Bilanz enthalten sind ein achtfacher Schädelbruch, ausgeschlagene Zähne und Kopfverletzungen durch einen Teleskopschlagstock. Aber auch Hetzjagden, eingeworfene Fensterscheiben und Einschüchterungsversuche gehören zum Alltag in Bückeburg.
Das Bündnis macht eine äußerst aggressive neue Generation von Nazis für die Zunahme der Gewalt verantwortlich. Bereits 2008 hatten Antifaschisten aus Bückeburg versucht, auf die sich abzeichnende Entwicklung aufmerksam zu machen. Von den Behörden und der lokalen Presse seien die Angriffe jedoch lange Zeit nicht ernst genommen und als Gewalt unter rivalisierenden Jugendlichen oder von auswärtigen Rechten verharmlost worden, schreibt »Copy & Paste«. Erst im Verlauf des vergangenen halben Jahres habe sich die Stadt dazu durchringen können, die Existenz einer lokalen Naziszene einzugestehen.
Inzwischen haben sich die »Autonomen Nationalisten« in der Gegend aufgelöst, deren Zahl von »Copy & Paste« auf etwa 20 Personen und 30 Sympathisanten geschätzt wird. Sie gründeten sich jedoch anschließend als »Nationale Sozialisten« neu. Dabei fusionierte die Gruppe mit dem vormaligen »Widerstand Wunstorf«. Nach Einschätzung des antifaschistischen Bündnisses versucht die Naziszene sich neu zu formieren, um ihren Aktionsradius zu erweitern – eine Entwicklung, die das Bündnis Imfeld zufolge »mit Besorgnis« beobachtet. Der Jungle World sagt er, dass man eine »Zuzugsstrategie« in der regionalen Neonaziszene vermute. So habe man etwa herausgefunden, dass ein aktiver und bekannter Nazi aus Wunstorf demnächst aus politischen Motiven nach Bückeburg ziehen soll. Imfeld zufolge könnten weitere folgen. Die Neuformierung der regionalen Szene könnte auch damit zu tun haben, dass sie zuletzt unter Druck geraten war. So hatte die Polizei im November die Wohnungen von drei Nazis durchsucht. Gegenüber den Schaumburger Nachrichten gab die Polizei an, dabei osteuropäische Knallkörper sowie eine Präzisionsschleuder und Stahlkugeln gefunden zu haben.
Viele Opfer der Nazigewalt fühlen sich nicht ernstgenommen. Michelle* etwa spricht von einer »konsequenten Verharmlosung«, die lange Zeit die Berichterstattung der Presse bestimmt habe. Sie erzählt, dass sich viele Jugendliche »nahezu alltäglich in einer misslichen Lage« wiederfänden. Es verlange ihnen einiges ab, dass diejenigen, die sich »gegen diese menschenverachtende Ideologie stellen«, sich auch noch »mit dieser gleichstellen lassen« müssten. Reiner Brombach (SPD), der Bürgermeister von Bückeburg, beteuert auf Nachfrage der Jungle World, dass man »linke und rechte Ideologie niemals gleichgesetzt« habe. Die Polizei habe das Bild einer rivalisierenden Jugendgewalt »so dargestellt«, so Brambach.
Glaubt man den Schilderung des Betroffenen Nick*, dann scheint sich die Verharmlosung und Gleichsetzung der Nazigewalt seitens der Polizei fortzusetzen. Als er und sein Vater Anzeige wegen eines Angriffs erstatten wollten und den diensthabenden Beamten auf die Webseite der Neonazis aufmerksam machten, soll dieser geäußert haben, dass man darüber nichts wisse und sich eher »um die Kommunisten in Bückeburg« kümmere. Auf Nachfrage bei der Polizei und unter Verweis, dass die Aussagen bezeugt werden können, hieß es, dass man so etwas »nicht ausschließen« könne.
Die Schülerin Nele* wurde mehrfach von Neonazis attackiert. Gleich dreimal griffen Nazis im vergangenen Jahr die Wohnung an, die sie sich mit ihrem Freund teilte – mit Steinen und Zwillengeschossen. Als nach dem ersten Vorfall die Kriminalpolizei erschien, sollen sich die Beamten Nele zufolge primär an Informationen über die lokale Antifa-Szene interessiert gezeigt haben. Auf die eingeworfenen Scheiben seien die Beamten »kaum eingegangen«. Auch ein Umzug in die Nähe des Polizeireviers half nicht. Die Nazis attackierten die Wohnung erneut, einmal im Sommer und wiederholt im Oktober, während die Schülerin am offenen Fenster saß. Hätte die in beiden Fällen mit einer Zwille verschossene Stahlkugel sie getroffen, hätte dies schwerste Verletzungen zur Folge haben können. Erst im Zuge der Hausdurchsuchungen im November wurde das noch in einem Doppelglasfenster steckende Geschoss von der Polizei sichergestellt. »Weil wir halt links sind«, vermutet Nele, würden sie und ihr Freund von der Polizei nicht ernstgenommen. Auch die Wohnung eines Freundes von Nele soll von Nazis angegriffen worden sein. »Da waren die Beamten noch lustloser«, sagt die Schülerin. Ihr zufolge sei es nicht unüblich, dass nach solchen Angriffen die Beamten erst Stunden nach der Tatmeldung am Tatort einträfen.
Viele junge Menschen, mit denen man in Bückeburg spricht, fühlen sich stigmatisiert und selbst zu »Tätern« gemacht, weil sie mit ihrer antifaschistischen Haltung die Gewalt ja provozieren würden. Eine Sprecherin der »Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt« in Sachsen-Anhalt, die ebenfalls mit den Problemen in Bückeburg vertraut ist, sagte der Jungle World, dass »das Beispiel Bückeburg zeigt, wie notwendig und überfällig eine Etablierung von unabhängigen Beratungsstellen für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt auch in Niedersachsen ist«. Die Förderung entsprechender Projekte sei notwendig, »um Betroffenen und ihrem Umfeld Zugang zu professioneller Beratung zu ermöglichen und sie gemäß ihrer Problemlagen und Bedürfnisse angemessen zu unterstützen«. Nur so könnte die notwendige Aufklärung im Ort gefördert werden. Zurzeit aber scheint es, als werde die aggressive Naziszene die dortigen Antifaschisten noch lange beschäftigen.
* Namen von der Redaktion geändert