Das Schweigen der deutschen Linken

Kein Feierabend für den Betriebsfrieden

Während in anderen europäischen Staaten gegen die Krisenpolitik protestiert wird, bleibt es in Deutschland ruhig. Die deutsche Linke hat keine Antworten und vertreibt sich die Zeit mit Beschäftigungstherapie.

Lange haben sie den Zusammenbruch prophezeit, den Untergang beschworen. Nun, da die Krise des Kapitalismus offenbar wird, muss man seine linken Kritiker überaus lange suchen. Zumindest Deutschland erscheint als eine Oase des sozialen Friedens, während im restlichen Eu­ropa die miserable Wirtschaftslage den Alltag bestimmt.

Hierzulande findet die Krise hingegen vorwiegend in den Abendnachrichten statt. Straßenschlachten und Suppenküchen mag es anderswo geben. Im Deutschland Angela Merkels sinken die Arbeitslosenzahlen und steigen die Steuereinnahmen. Die schlechten Neuigkeiten aus dem europäischen Ausland werden wie Botschaften von entfernten Verwandten wahrgenommen, die ihr Vermögen verschleudert haben und nun um Hilfe ersuchen. Selbst Schuld, murmeln die Zuschauer zwischen Flensburg und Freiburg und zappen auf ein anderes Programm.
Die Mehrheit von ihnen hat auch allen Grund, um wegzuschauen. Sie hat ihre Niederlagen schon hinter sich. Da wären etwa die Gewerkschaften, die zwei Jahrzehnte lang fast widerstandslos hinnahmen, dass die Reallöhne in Deutschland fielen, während sie überall in Europa stiegen. Hinzu kommt eine in Europa beispiellose Ausweitung der prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Wer für weniger Geld mehr arbeiten muss, hat kaum noch Kraft, um sich politisch zu organisieren. Dies trifft ebenso auf das akademische Proletariat zu, auch wenn es mittlerweile unter dem Label Kreativwirtschaft firmiert. Sein Elend beginnt bereits in den Schulen und Universitäten, in denen nur noch die beschleunigte Qualifizierung zählt. Als Orte des dissidenten Denkens haben die Hochschulen ausgedient. Viele der drakonischen Sparpläne und Rationalisierungsmaßnahmen, die die Bundesregierung nun so vehement dem verschuldeten Europa verschreiben will, wurden im eigenen Land bereits vorweggenommen.
Der deutschen Betriebsgemeinschaft ist es so gelungen, sich eine ökonomische Vormachtstellung in Europa zu verschaffen. Möglich wurde dies jedoch nur, weil sich die Opfer mit der Nation identifizierten, anstatt sich zu wehren. Wer individuell verliert, will wenigsten im Kollektiv auf der Seite der Gewinner stehen. Auf diese Konstellation kennt die Linke in Deutschland keine Antwort. Zu Beginn der Wirtschaftskrise 2008 sah sie in ihr zunächst noch eine große Gelegenheit für Veranstaltungen und Demonstrationen. Doch schon bald musste sie registrieren, dass es sich um eine merkwürdige Krise handelt, die eskaliert und gleichzeitig zum Dauerzustand wird, die ein ungeheueres Zerstörungspotential offenbart, auf das die Mehrheit apathisch reagiert.
Seitdem verlieren sich die verschiedenen Gruppen der Linken in einer Art Beschäftigungstherapie. Die Aktionisten berufen sich weitgehend unbeschwert von jeder theoretischen Reflexion auf 99 Prozent der Bevölkerung, die angeblich unter der Krise zu leiden habe, und wundern sich, dass sich die Resonanz ihres Handelns nicht einmal im Promillebereich messen lässt. Sie ignorieren dabei geflissentlich, dass die vermeintlichen Opfer durchaus von der deutschen Politik profitieren. Die katastrophale Entwicklung an der europäischen Peripherie wirkt dabei zusätzlich disziplinierend: Wer über seine Verhältnisse lebt, dem drohen eben Armut und soziale Deklassierung.

Die Ideologiekritiker wiederum geißeln zwar zu Recht die Auswüchse einer vulgären Kapitalismusschelte. Doch zur eigentlichen Krise haben sie merkwürdig wenig zu sagen. Die Kritik der politischen Ökonomie gerät so zu einer akademischen Angelegenheit. Auch darin liegt eine deutsche Eigenheit. Eine Theorie ohne Praxis gesellt sich zu einer Praxis ohne Theorie.
Dabei wäre es höchste Zeit, den Betriebsfrieden aufzukündigen und sich mit den europäischen Protesten gegen den wahnhaften deutschen Spar­zwang und seine Herrschaftsallüren zu solidarisieren. Schließlich war es noch nie so einfach, antideutsche Positionen zu vertreten. Verbündete finden sich in Europa dafür zur Genüge. Nur in Deutschland, da sind sie fast verschwunden.