Zur neusten Studie über Antisemitismus in der Bundesrepublik

Verzwickter Antisemitismus

Bereits seit Herbst 2011 liegt der Bericht des Expertenkreises Antisemitismus vor. Nachdem das rechte Terrornetzwerk »Nationalsozialistischer Untergrund« aufgeflogen ist, möchte die Bundesregierung nun Entschlossenheit demonstrieren und stellte die Studie nun auf einer Konferenz vor.

Zwischen zwei geschichtsträchtigen Daten, dem 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz und dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, wurde vergangene Woche der Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus vorgestellt. Das Gremium aus Wissenschaftlern war vor über zwei Jahren vom Deutschen Bundestag eingesetzt worden.
20 Prozent – diese Zahl steht im Mittelpunkt der Medienberichte über die Studie. So groß ist nämlich laut der »durch den Expertenkreis ausgewerteten demoskopischen Untersuchungen« der Anteil »latenter Antisemiten« in der deutschen Bevölkerung. Pflichtschuldig wurde dieser Befund von Spiegel bis Bild als »erschreckend«, »alarmierend« und »schockierend« bezeichnet.
Die Statistik muss bei näherer Betrachtung jedoch als durchaus fragwürdig gelten, der Prozentsatz könnte wohl auch deutlich höher liegen. Die Antworten auf einzelne Fragen der Erhebung ergeben zumindest weitaus höhere Werte. So vertreten etwa 38,4 Prozent der Deutschen die Ansicht: »Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.« Noch mehr, nämlich 39,5 Prozent, sind der Meinung: »Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.« Sogar 57,3 Prozent stimmen folgender These zu: »Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser.«
Laut der »EU-Arbeitsdefinition Antisemitismus« gelten die »Anwendung doppelter Standards« auf den Staat Israel oder »Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten« als Beispiele »von Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Staat Israel«. Zwar zitiert der Report diese Definition – die keine offizielle EU-Position darstellt, aber von diversen offiziellen Stellen benutzt wird –, verzichtet aber auf die erläutertenden Passagen, in denen unter anderem beschrieben wird, in welchem Zusammenhang Antisemitismus und »Israelkritik« stehen. Stattdessen behauptet das Expertengremium: »Nicht jede einseitige oder undifferenzierte Kritik an Israel ist jedoch antisemitisch.«
Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung, die neben dem Historiker und Direktor des Londoner »Research Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History«, Peter Longerich, Sprecherin des Expertenkreises ist, räumte bei der Vorstellung des Berichts ein, dass im Bereich von antisemitischer Israelkritik der Prozentsatz von Antisemiten »bei 40 bis 50 Prozent« liege.
Obwohl sich die Autoren des Berichts über mehrere Seiten um eine eigene Definition von Antisemitismus bemühen, bleibt ihre Bestimmung am Ende reichlich unscharf. Es ist wohl diese begriffliche Unschärfe, die es ermöglicht, den weit verbreiteten »israelkritischen« Antisemitismus aus dem Gesamtdarstellung auszublenden. Fragwürdig ist zudem, dass die »Begriffe Stereotyp, Klischee, Vorurteil und Ressentiment« in dem Bericht »weitgehend synonym Verwendung finden« – ganz so, als bezeichneten diese Begriffe ein und dasselbe Phänomen.
Besonders problematisch ist dabei wohl die Verwendung des Begriffs des Vorurteils. Der Begriff suggeriert, dass der Urteilende über seinen Gegenstand ein vorschnelles Urteil gefällt, also geurteilt habe, bevor er sich gründlich informiert hat. Folgerichtig basiert laut der Studie der Antisemitismus »auf weitverbreiteten Vorurteilen und tief verwurzelten Klischees beziehungsweise auf schlichtem Unwissen über Juden und Judentum«. Der Publizist Henryk M. Broder merkte dazu spöttisch an, diese Behauptung gehöre »ihrerseits in das Reich der Vorurteile und Klischees. Viele Antisemiten, von Voltaire bis Goebbels, waren gebildete Leute und wussten über das Judentum gut Bescheid.«
Erstaunlich ist auch, dass der Bericht schon seit Herbst vergangenen Jahres vorliegt. Seitdem kann er von der Website des Bundesinnenministeriums heruntergeladen oder als Printversion bestellt werden. Doch seinerzeit fanden sich in der Presse »nur vereinzelte Wortmeldungen«, wie Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) nun beklagte. Nach den Enthüllungen über die Mordtaten der Zwickauer Terrorzelle habe das Thema aber eine »fatale Aktualität« gewonnen.
Deswegen wurde im Beisein von Politikern aller Bundestagsfraktionen und der Mitglieder des Expertengremiums der Bericht nun noch einmal vorgestellt. Mit anderen Worten: Die Präsentation soll vor allem der Öffentlichkeit suggerieren: Regierung und Parlament tun etwas.
Kaum verwunderlich, dass der Antisemitismus von dem von der Bundesregierung eingesetzten Expertengremium zwar als in allen Gesellschaftsschichten und allen politischen Lagern virulent bezeichnet wird, das Hauptproblem aber vor allem im »Rechtsextremismus« gesehen wird. Etwa 90 Prozent der antisemitisch motivierten Straftaten würden von Nazis begangen. »Eindeutig hat dieser Bericht das rechtsextremistische Lager als nach wie vor wichtigsten Träger des Antisemitismus in Deutschland benannt«, lautet das Fazit.
Doch selbst im Bereich des Rechtsextremismus wird relativiert. Ganz im Sinne der »Vorurteilsforschung« behauptetete der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Hans-Peter Uhl, bei der Präsentation des Berichts, nicht jede antisemitische Straftat sei auch »inhaltlicher Antisemitismus«. Bei manchen Vorfällen handele es sich auch um eine »Provokation von pubertierenden Jugendlichen«.
Die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) beantwortete die Frage, ob bei einem Anteil von 20 Prozent Antisemiten in der bundesdeutschen Gesellschaft nicht auch von einem entsprechenden Anteil im Bundestag auszugehen sei, mit »Nein«. Ihre Begründung: »Es gibt wohl eine höhere Sensibilität und ein höheres Wissen.« Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse wiegelte ab, das seien bloße Vermutungen, das müsse jeder Abgeordnete als »Gewissenserforschung« für sich betreiben. Er selbst gehörte 2010 zu den Unterzeichnern, die die antisemitische »Free Gaza«-Flotille unterstützt hatten.
Schon im November 2011 war verschiedentlich kritisiert worden, dass der Antisemitismus von Muslimen in dem Bericht nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. So wurde im Unterschied zu anderen Feldern keine gesonderte Expertise zu islamistischem Antisemitismus angefordert. Die Feststellung des Berichts, »islamistische Gruppen in Deutschland« seien »verhältnismäßig schwach organisiert« und würden »weitgehend nicht offen agieren«, grenzt jedenfalls angesichts zahlreicher Demonstrationen etwa während des Gaza-Kriegs 2009, auf denen Tausende Islamisten »Tötet die Juden« und ähnliche antisemitische Parolen skandierten, an Realitätsverweigerung.
Manchmal ist die treffendste Form der Kritik die Satire. Die Titanic kommentierte die Ergebnisse des Antisemitismusberichts so: »Etwa 20 Prozent der Deutschen sind demnach ›latent antisemitisch‹. Die übrigen 80 Prozent will man beim nächsten Mal befragen – wahrscheinlich wird sich aber ohnehin bestätigen, dass solche Studienergebnisse in der Regel von Juden manipuliert sind, nicht wahr?«