Das Buch »Figuren des Immunen« von Isabell Lorey

Antiker Ungehorsam

Politische Theorie und alternative Rechtsgeschichte: Isabell Lorey schildert den Kampf der Plebejer um die »gute Ordnung« in der römischen Antike.

Und die Plebejer zogen auf den Berg außerhalb Roms und machten nicht mehr mit. Das geschah im Laufe der vorchristlichen Jahrhunderte drei Mal und war ein bedeutsames Ereignis. Die Auseinandersetzungen zwischen Plebejern und Patriziern sind Urszenen der politischen Theorie. Im Unterschied zur klassischen Altertumswissenschaft deutet die Politologin Isabell Lorey die Kämpfe als Konflikt zweier politischer Ordnungen um eine neue Konstitution.
Ihre Studie »Figuren des Immunen« ist eine faszinierend kleinteilige Neulektüre des römischen Historio­graphen Livius, der den mehrmaligen Auszug der Plebejer ausführlich beschrieben hat. Die Bedeutung der Plebejer, ihre »Aufkündigung der Akzeptanz der patrizischen Herrschaft«, betrifft auch die Grundlagen heutiger Rechtssprechung und vor allem die politische Theorie.
Anders allerdings als in den Auslegungen der griechischen Polis, denen zufolge dort im Wesentlichen alles begonnen habe – moderne Staatlichkeit ebenso wie unabhängige Stadtregierung, kollektive Organisierung, aber auch auf Privilegien beruhende Machtausübung –, geht es Lorey gar nicht um Wesensbestimmungen. Das Modell, das sie in der Auslegung der Quellen herausfiltert, ist genauso dynamisch wie sein Gegenstand. Die Geschichte lautet eben nicht: Plebejer rebellieren gegen Patrizier und erkämpfen sich ihr Recht. Von einem solchen Verständnis der Konstitution, die den Prozess der Konstituierung allein auf ihr Ziel hin in­terpretiert, grenzt sich Lorey ab. Es ist auch nicht durch die Fakten gedeckt. Denn die »Kämpfe um eine politisch-rechtliche Ordnung« seien weder um die souveräne Macht geführt, noch je eindeutig entschieden worden. Vielmehr ließen sich diese Auseinandersetzungen als »Aushandlungsprozesse um eine ›gute Ordnung‹« verstehen.
Solche »Ordnungskämpfe« werden für Lorey zum Modell. Dieses wird einerseits anhand der »gewaltfreien politischen Strategie« der durchaus heterogenen plebejischen Schicht entwickelt, gibt aber andererseits schließlich den Rahmen für die Beschreibung des Politischen schlechthin ab. Hier prallen nicht antagonistische Klassen aufeinander, vielmehr entsteht das Politische durch Brüche mit bestehenden Ordnungen und als Breschen, die durch Gehorsamsverweigerung in diese geschlagen werden. Die Entstehung dieses Modells ist nicht immer ganz leicht nachvollziehbar, das Buch daher auch nicht gerade ein Geschichtshäppchen für Zwischendurch. Das liegt jedoch nicht an der Sprache der Autorin, vielmehr hat es mit der komplizierten historischen Sachlage auf der einen und dem theoretischen Anspruch des Buches auf der anderen Seite zu tun. Das politische Hin und Her im alten Rom erweist sich nämlich keinesfalls als lineare Geschichte, die in den Vorformen von Demokratie, Souveränität und einer Selbstbestimmung des »Volkes« mündet. Statt vom homogenen »Volk« redet Lorey ohnehin eher von verschiedenen Konstellationen der »Vielen«. Das entspringt nicht nur einer wissenschaftlichen Entscheidung, sondern wird auch den tatsächlichen, verworrenen Interessenslagen eher gerecht. Es braucht also offensichtlich auch eine andere Terminologie als die durch die Altertumswissenschaft oder die politische Theorie geprägte Sprache. Auch dafür macht Lorey Vorschläge.
Was sind nun also die titelgebenden »Figuren des Immunen«? Immun sind nicht nur heutige Parlamentarier oder Geimpfte. Aber der Status politischer Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie die Körper aller spielen auch in der Verwendung des Begriffs bei Lorey eine zentrale Rolle. Der Begriff stammt vom Lateinischen »munus« und meint einerseits »schützen« und »sichern«, andererseits aber auch »Abgabe« und »Pflicht«. Immunisierung ist daher nicht nur eine Absicherung, sondern auch ein Weg­geben. Beide Prozesse gemeinsam und im Wechselspiel machen die »Dynamik der Konstituierung« aus. Konstituiert werden politische Gemeinschaften, und zwar in diesem Modell gerade nicht über eine wie auch immer bestimmte, gemeinsame Identität. Das wäre die Abschottungsversion: Die Worte »Kommune« und »Community« stammen auch von »munus« ab. Sie basieren nicht selten auf der Abgrenzung nach außen und dem Schließen der Reihen nach innen. Stattdessen nimmt Lorey auch hier die Kämpfe selbst ernst. Sie betont damit die Prozesshaftigkeit des Geschehens und geht nicht von Identitätsmerkmalen aus. Immunisierungen sind aber auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Diese sind weder fixiert, noch gibt es ein Außerhalb. Entfliehen kann man ihnen trotzdem.
Wenn Lorey abschließend vorschlägt, »das Plebejische« neu zu denken, nämlich mit Michel Foucault als eine »allgemeine theoretische Figuration von Widerstand als Flucht und Umkehr«, dann geht auch dieser Vorschlag von einem Primat der Kämpfe aus. Die »Vielen« konstituieren sich permanent neu. Manchmal mündet das in Konstitutionen, wie die moderne Verfassungsgeschichte sie beschreibt. Manchmal aber auch nicht, und eigentlich führt es immer zu neuen Kämpfen.
An diesem Punkt hat man dann nicht nur die römische Rechtsgeschichte nachvollzogen, sondern auch allerlei Einwände gegenüber den angesagten philosophisch-politischen Theorien der Gegenwart gestreift: Denn Loreys »homo sacer« ist ein anderer als der von Giorgio Agamben. Auch hier liegt der Fokus auf Prozessen und Kämpfen: Während der Philosoph Agamben den »homo sacer«, eine heilige und zugleich verfluchte Person, als relativ isolierte rechtliche Ausnahme beschreibt, stellt Lorey ihn in den Kontext der Ordnungskämpfe. Sie sozialisiert ihn gewissermaßen. Und anders als der wie Agamben in der politischen Philosophie stark rezipierte Rancière, der die Plebejer als die ganz Anderen der sozialen Ordnung schildert, die nicht nur politisch nicht zählen, sondern letztlich sprachlos sind, analysiert Lorey ihre Selbstartikulation.
Und schließlich entwickelt sie ihre Gemeinschaftskonzeption nahe am Konzept Roberto Espositos, differenziert es aber. Es gibt demnach zwei Formen der Immunisierung. Die eine, die juridische Immunisierung, definiert Ausnahmen, wie die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die vor Gefahren geschützt werden. Die andere integriert und nimmt die Gefahrenquelle auf wie bei der Impfung. Lorey nennt sie die biopolitische Immunisierung.
Dass es sich bei all dem nicht nur um Metaphern handelt, sondern um materielle Strukturen und soziale Mechanismen, wird nicht nur am vorchristlichen Beispiel deutlich. Aber auch. Damit hat Lorey nicht nur einen neuen Blick auf gewaltfreie Kämpfe in der Geschichte ermöglicht. Sie hat unter anderem auch ein eindrucksvolles Beispiel dafür geliefert, dass poststrukturalistische Theoriebildung nicht nur im Himmel der Ideen stattfindet.

Isabell Lorey: Figuren des Immunen. Diaphanes-Verlag, Zürich 2011, 336 Seiten, 26,90 Euro