Die Tarifverhandlungen der kommenden Monate

Billiger geht’s nicht

In den kommenden Monaten wird es in zahlreichen Branchen Tarifverhandlungen geben. Es stehen nicht nur Lohnerhöhungen, sondern auch die Beschäftigungsverhältnisse von Auszubildenden und Leiharbeitern zur Debatte.

Ende Februar laufen die Tarifverträge für die knapp zwei Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Länder und Kommunen aus, bei den 3,6 Millionen Arbeitern in der Metall- und Elektroindustrie wird das Ende März der Fall sein. Der Haustarifvertrag bei VW endet im Mai und auch in der Chemiebranche stehen für eine halbe Million Lohnabhängige Tarifverhandlungen an. Was in den Jahrzehnten der »Sozialpartnerschaft« des »rheinischen Kapitalismus« oft nicht mehr als ein leeres Ritual war, gewinnt nun wieder an Bedeutung. Die globale Krise des Kapitals ist noch lange nicht überwunden, zugleich wird immer offensichtlicher, dass deutsche Unternehmen mit Armutslöhnen und Flexibilisierung die europäischen Nachbarn niederkonkurrieren. Und mit der wirtschaftlichen wird auch die politische Macht des deutschen Kapitals in Europa immer deutlicher spürbar.

Ein Blick auf die Daten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) macht deutlich, dass die Lohnarbeiter in Deutschland ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich haben: Die Löhne fielen im Vergleich zum Jahr 2000 inflationsbereinigt um durchschnittlich 4,5 Prozent – während die Produktivität erheblich stieg. In Deutschland ist damit die Lage unter den 26 entwickelten Industrieländern am schlechtesten. Nur in Israel und Japan gab es ebenfalls Reallohnverluste, aber sie fallen geringer aus als hierzulande. In den übrigen untersuchten Industrieländern stiegen die Reallöhne, in Norwegen nahmen sie seit 2000 gar um 25 Prozent zu. Dagegen schnellten die Profite der Unternehmen deutlich in die Höhe, in den vergangenen zehn Jahren stiegen die Unternehmens- und Vermögensgewinne preisbereinigt um 36 Prozent, während die Industrieproduktion in Deutschland um über 20 Prozent zunahm. Das Handelsblatt stellte bereits im Spätherbst fest: »Deutschlands 30 größte börsennotierte Unternehmen dürften in den abgelaufenen drei Monaten knapp 16 Milliarden Euro verdient haben. Das wäre der höchste Nettogewinn in einem dritten Quartal in der Geschichte der deutschen Großkonzerne.« Dem Finanzdienstleister Bloomberg zufolge kommen die Dax-Konzerne für das Jahr 2011 auf einen Nettogewinn von 70 Milliarden Euro. Nur während des Wirtschaftsbooms 2007 waren es mit 78 Milliarden Euro noch mehr.
Besonders deutlich zu beobachten ist diese Tendenz an der Entwicklung der Lohnstückkosten, also dem Anteil der Lohnkosten an einer produzierten Wareneinheit: Zwischen 2000 und 2010 stiegen diese im Durchschnitt der Euro-Zone um 20 Prozent und in den Euro-Ländern ohne Deutschland um 27 Prozent. In Deutschland jedoch betrug der Zuwachs lediglich sechs Prozent, ein weiteres Indiz dafür, dass Deutschland innerhalb der Euro-Zone inzwischen zum Billiglohnland geworden ist. Wären die Löhne im vergangenen Jahrzehnt gemäß der Produktivitäts-und Preisentwicklung gestiegen, müssten die Lohnstückkosten etwa 26 Prozent höher ausfallen. In den entscheidenden Jahren der wachsenden Konkurrenz nach der Einführung des Euro hat es also eine ständige Enteignung der Lohnarbeiter zugunsten des Kapitals gegeben. Auf diese Weise haben die Beschäftigten für die Expansion des deutschen Kapitals in der EU und auf dem Weltmarkt gezahlt, für das Niederkonkurrieren der südlichen Euro-Länder und den relativen ökonomischen und in der Konsequenz auch politischen Bedeutungsverlust Großbritanniens und Frankreichs innerhalb der EU.

Die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften hat dazu beigetragen, dass es während der Krisenjahre 2008 und 2009 in Deutschland zu relativ wenigen Jobverlusten bei den Kernbelegschaften gekommen ist, wie etwa die Führung der IG-Metall durchaus zutreffend argumentiert. Bisher hat die deutsche Wirtschaft den globalen Konjunktureinbruch relativ glimpflich überstanden, gegenüber den konkurrierenden Wirtschaftsstandorten konnte sie sogar an Boden gewinnen. Der Preis dafür bestand jedoch in einer deutlich beschleunigten ökonomischen Entrechtung und Entmachtung der Arbeiter: durch Billiglöhne, tarifvertragliche Öffnungsklauseln und vielfältige Formen ungeschützter Beschäftigung. Beträchtliche Teile der Gewerkschaften ließen sich durch Hinnahme oder gar Mitgestaltung dieser Politik zu einem Instrument der Standortkonkurrenz des deutschen Kapitals machen, in der Hoffnung, damit die Arbeitsplätze in Deutschland auf Kosten der Kollegen in den unterlegenen Standorten zu sichern. Immerhin bleibt festzuhalten, dass dort, wo gewerkschaftlich ausgehandelte Tariflöhne existieren, die Bruttolöhne in den vergangenen zehn Jahren um 6,7 Prozent gestiegen sind, während sie in den nicht tarifgebundenen Sektoren um durchschnittlich vier Prozent sanken.
In Belgien betreiben Gewerkschaften seit dem Sommer eine Kampagne, die die deutschen Niedriglöhne zum Thema macht. Ihr Engagement resultiert auch aus der Erkenntnis, dass mit deutlichen Lohnerhöhungen in Deutschland zugleich der Druck auf die Lohnabhängigen in anderen Ländern verringert würde. Die DGB-Gewerkschaften stehen hingegen vor der Wahl, entweder Standortnationalismus und Niedriglohn zu akzeptieren oder zumindest in denjenigen Sektoren, die überhaupt noch von Flächentarifverträgen erfasst werden, die Konfrontation zu suchen.
Gerade in der Metall- und Elektroindustrie, dem Leitsektor der deutschen Wirtschaft, wären die Bedingungen dafür eigentlich gar nicht schlecht. Gemessen an der durchschnittlichen Lohnentwicklung fiel der Anstieg der Tariflöhne etwas weniger spärlich aus, den gewerkschaftlichen Organisationsgrad kann man als relativ stabil bezeichnen. Gewerkschaftsangaben zufolge verbuchten die Unternehmen dieser Branchen bis September 2011 eine Auftragssteigerung von knapp 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es wurden Produktionszuwächse von 15,4 Prozent erzielt. Während die Krisenjahre 2008 und 2009 die Branche fast 300 000 Arbeitsplätze gekostet haben, sind zwischen Frühjahr 2010 und Herbst 2011 dort wieder etwa 177 000 neue Jobs entstanden, die allerdings überwiegend der Leiharbeit zuzurechnen sind. Nach Angaben des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall konnte die Metall- und Elektroindustrie im letzten Quartal des Jahres 2011 die krisenbedingten Einbrüche ausgleichen und wieder das Niveau vor der Krise erreichen. Zugleich tritt in dieser Branche besonders deutlich zutage, dass es in den vergangenen Jahren nicht nur Produktionssteigerungen, sondern vor allem auch einen besonders starken Anstieg der Arbeitsproduktivität gegeben hat. Während es in der Gesamtwirtschaft einen Zuwachs von 10,4 Prozent gab, lag er in der Metall- und Elektroindustrie bei 30,3 Prozent. Eine Folge dieser Entwicklung ist die deutlich gestiegene Arbeitsintensität. Für die Beschäftigten bedeutet das mehr Stress und Leistungsdruck. Die Lohnstückkosten sind im gleichen Zeitraum um neun Prozent gesunken.

Die Führung der IG-Metall dürfte bei den Tarifverhandlungen unter einem hohen Erwartungsdruck ihrer Mitgliedschaft stehen. Inzwischen hat die Debatte um die anzustrebende Lohnerhöhung in den Großbetrieben und Verwaltungsstellen der Gewerkschaft begonnen, die ersten Bezirke haben ihre Vorstellungen bekanntgegeben. So empfahl die Tarifkommission der IG Metall Baden-Württemberg, bis zu 6,5 Prozent mehr Gehalt zu verlangen. Baden-Württemberg gilt als Pilotbezirk, der wegen der Dichte von Automobilkonzernen und einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad eine Leitfunktion für die Gewerkschaft hat. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall reagierte ablehnend. »Wir sehen in einer derartigen Größenordnung ein Stück Leichtfertigkeit. Übermut tut selten gut«, teilte Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser mit. Aus der Höhe der Forderung folgerte er, die IG Metall wolle einen »Nachschlag« für die Krisenjahre erstreiten. Kannegiesser zufolge liege der Verteilungsspielraum bei knapp unter drei Prozent. In der diesjährigen Metalltarifrunde stehen jedoch nicht nur Lohnerhöhungen zur Debatte, sondern auch die schon im vorigen Jahr beschlossenen Forderungen der IG-Metall-Tarifkommission nach »Übernahme aller Auszubildenden« und nach einer »fairen Regelung der Leiharbeit«. In immer mehr Betrieben wächst der Unmut über die Dumpinglöhne und die Spaltung der Belegschaften durch die Ausweitung der Leiharbeit, aber auch darüber, dass die Auszubildenden immer häufiger nach dem Ende der Ausbildung entlassen und als Leiharbeiter zu Niedriglöhnen wieder eingestellt werden.
Präventiv scheint man beim Management von Opel zu handeln. Bereits Anfang des Jahres soll das Management von General Motors von der IG Metall gefordert haben, auf Lohnerhöhungen im Gesamtwert von bis zu 1,1 Milliarden Euro im laufenden Jahr zu verzichten. »Ich kann bestätigen, dass das Unternehmen an uns herangetreten ist, um zu eruieren, ob wir zu Verhandlungen bereit sind«, sagte der Frankfurter IG-Metall-Bezirksvorsitzende Armin Schild, der im Aufsichtsrat von Opel sitzt. »Wir haben geantwortet, dass wir keine Veranlassung zu Verhandlungen sehen.« Es gebe einen bis 2014 geltenden Vertrag, der auch vom Management von General Motors (GM) unterzeichnet worden sei. Gerade die Beschäftigten des angeschlagenen GM-Tochterkonzerns haben in den vergangenen Jahren erhebliche Zugeständnisse gemacht, um ihre Arbeitsplätze zu retten. So war 2010 in einem »Zukunftsvertrag« vereinbart worden, dass die Beschäftigten bis 2014 jährlich einen Beitrag von 265 Millionen Euro zur Rettung des Autoherstellers leisten. Knapp 177 Millionen Euro davon entfielen auf die Beschäftigten in den vier deutschen Werken. So wurden etwa Weihnachts- und Urlaubsgeld nur zur Hälfte ausbezahlt, eine Tariferhöhung um 2,7 Prozent wurde im Jahr 2011 ausgesetzt. Wie der Beitrag in den kommenden drei Jahren geleistet werden könne, müsse nun – so das Management – verhandelt werden. Und die Unternehmensführung scheint bei ihren Sparplänen auf Kosten der Beschäftigten bleiben zu wollen.