Die Konservativen und ihre Nazis

Der dunkle Fleck des Antifaschismus

Lange herrschte in der BRD ein nationalistischer common sense, der den Antifaschismus delegitimierte. Die Rede Richard von Weizsäckers 1984 sollte das Ende der offiziellen Doktrin markieren, wonach der 8. Mai 1945 eine Niederlage für die Deutschen gewesen sei. Verschwunden ist die alte Haltung bei den Konservativen jedoch nicht.

Das Verhältnis des westdeutschen Konservatismus zum Nationalsozialismus war schon immer von Duldsamkeit geprägt. Auf ihre Weise – individuell mehr oder weniger verschieden – reagierten die Konservativen damit auf die Behandlung, die ihnen durch die Nazis zwischen 1933 und 1945 selbst widerfahren war. Die Nazis bedurften der konservativen Eliten aus der Weimarer Republik nicht nur in der Industrie und der Wehrmacht. Der Nationalsozialismus hatte weder eine »deutsche« Physik oder Chemie, noch eine spezifisch nationalsozialistische Rechts- und Verwaltungswissenschaft, eine eigene Philosophie oder eine andere Geisteswissenschaft hervorgebracht.
Vielmehr erwies sich der Nationalsozialismus gegenüber vielen konservativen Strömungen aus den genannten Bereichen als aufnahmefähig.
Illustrieren ließe sich das am Lessing-, Goethe- und Hegel-Kult oder an der Adaption der dumpfen konservativen Antimodernismus. Die Nazis übernahmen aus den konservativen Strömungen Weimars, was sie gebrauchen konnten, und den Rest duldeten sie, solange sich dessen Vertreter nicht offen gegen die Nazis aussprachen. Das einzige für die konservativen Eliten relevante Ausschlußkriterium, nämlich vom Nationalsozialismus als Jude identifiziert worden zu sein, betraf nur eine Minderheit. Erwähnt sei hier nur Max Plancks Versuch, den Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber vor den Auswirkungen der Rassegesetze der Nazis zu schützen. Haber war im ersten Weltkrieg als streng Deutschnationaler und zudem noch als Mitentwickler des Giftgases ein kriegswichtiger Wissenschaftler gewesen, war aber jüdischer Herkunft und somit nicht im Amt zu halten. Planck hinderte diese persönliche Niederlage aber auch nicht daran, unter den ­Nazis weiter seiner Arbeit unter für seine wissenschaftlichen Zwecke herausragenden Bedingungen nachzugehen.
Das war der Normalfall unter den konservativen Eliten. Ihre kontinuierliche Gegenwart in den verschiedenen Institutionen von Weimar über Berlin bis Bonn ist mittlerweile reich dokumentiert, etwa in der Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« des Jurastudenten und Mitgliedes des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), Reinhard Strecker, die 1959 zuerst in Karlsruhe gezeigt wurde, oder in der Wehrmachtsaustellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung und nicht zuletzt durch das 1997 begonnene Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, in dem die Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ihre auch grausame Forschungsgeschichte aufgearbeitet hat.

Trotzdem lässt sich die Geschichte des westdeutschen Konservatismus nicht als ein Kontinuum des Verdrängens, Lügens und Weitermachens unter veränderten Vorzeichen beschreiben. Genauso wenig kann man den Konservatismus im Parteienspektrum der BRD nur der CDU/CSU zuschreiben. Der bis heute aktivste und populärste Vertreter der »Wir haben nichts gewußt«-Genera­tion ist der sozialdemokratische Altkanzler Helmut Schmidt, der immer noch meint, mitteilen zu müssen, dass er von der Judenvernichtung und den Massenerschießungen erst nach dem Krieg erfahren habe. Für einen Offizier an der Ostfront, der Schmidt war, und der zudem unweit der belagerten Stadt Leningrad seinen Dienst versah, ist das eine erstaunliche Wahrnehmungsleistung.
Ihr steht die bereits Ende Mai 1945 ausgesprochene Warnung des Ökonomen Wilhelm Röpke an die Deutschen gegenüber, die lautete: »Hütet Euch, Eure schwere Verantwortung zu leicht zu nehmen, und glaubt nicht, dass es genüge, die Nationalsozialisten als eine Verbrecherbande zu bezeichnen, mit der ihr nichts zu tun habt!« Es mag sein, dass es Röpke leichter fiel, seine Warnung so deutlich auszusprechen, weil er sie in seinem Genfer Exil formulieren konnte, in dem er die Nazizeit verbracht hatte und auch später blieb. Zur deutschen Geschichte gehört er aber, weil er einer der wichtigsten wissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Berater der Regierung Adenauer wurde, ohne auch nur einen Millimeter von seiner Forderung nach dem Bekenntnis der Mitschuld all derer abzurücken, die in Deutschland lebten, ohne Widerstand geleistet zu haben. Für Röpke galt in der Schuldfrage das Verursacherprinzip: Wer etwas getan hatte, musste dafür auch die Verantwortung übernehmen und konnte sich nicht mit dem »Schicksal«, einem »Dämon«, der sich des deutschen Volkes bemächtigt habe, oder seiner »Unwissenheit« herausreden. Dies muss ausdrücklich gesagt werden, weil Röpke mittlerweile nicht mehr nur von linken Leserbriefschreibern, sondern auch von universitären Mainstream-Politologen dem strammen Konservatismus zugerechnet wird.
Doch Röpke gehörte zu denen, die den 8. Mai 1945 nicht zuerst als Niederlage empfanden, sondern als Befreiung. Und auch wenn es nur we­nige waren, die so dachten, brachten sie doch einen anderen Ton in die Diskussionen als die sich besiegt Fühlenden. Der Gründungsstudent der Freien Universität Berlin und spätere Religionsphilosoph Klaus Heinrich beschreibt die Jahre kurz nach der Befreiung als eine Aufbruchszeit, in der das Leben, der Geist und die Gesellschaft verändert werden sollten, in dem der alte Lebens-, Geist- und Gesellschaftsbegriff einem »zersetzenden analytischen Unternehmen« unterzogen werden sollte. Ein Unternehmen, an dem sich in den ersten Jahren tatsächlich zumindest die Mehrzahl der Intellektuellen beteiligte. Die ebenfalls an der FU lehrende sozialistische Philosophin Margherita von Brentano sprach im Rückblick von der ersten Nachkriegszeit als einer kurzen Zeit »beinahe der Gerechtigkeit«. Eine Zeit, in der zum Beispiel auch das Ahlener Programm der CDU von 1947 entstand.

Beendet wurde diese Periode mit der Gründung der Bundesrepublik 1949. Der neue Staat brauchte in seinen Institutionen Eliten, die sich nicht mehr allein aus den wenigen Überlebenden oder aus der Emigration zurückgekehrten Gegnern des Naziregimes rekrutieren ließen. Sie waren einfach zu wenige. Mitläufer und viele alte Nazis kamen zurück in die Institutionen oder bauten sie erst auf, wie zum Beispiel den späteren Bundesnachrichtendienst, der fast vollständig mit alten Nazis besetzt war. Und die alten neuen Würdenträger hatten im Rechtswesen oder in der Medizin etwas anderes zu tun, als ihre Praktiken während des Nationalsozialismus aufzuarbeiten.
Trotzdem trifft die vor allem von der Studentenbewegung vertretene Restaurationsthese für die fünfziger Jahre nicht in jeder Hinsicht zu. Es hatte vor allem durch den wirtschaftlichen Aufschwung eine Verschiebung der Prioritäten in der Bevölkerung stattgefunden, die eine weitreichende Entpolitisierung mit sich brachte. Als Garanten gesellschaftlicher und vor allem wirtschaftlicher Sicherheit galten nun eine berufliche Qualifikation und technische Bildung und nicht die radikalen Entwürfen eines neuen Lebens oder Denkens.
Der ebenfalls den Konservativen zugerechnete Philosoph Hermann Lübbe, der vor seiner Professorenkarriere in der SPD wirkte, hat versucht, diese Jahre als mentalitätsgeschichtlichen Transformationsprozess zu beschreiben. Das Schweigen über die vergangenen Verbrechen oder die Weigerung, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, deutete Lübbe als Rezept für die Heilung. »Diese gewisse Stille«, schrieb er, sei das »sozialpsychologisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland gewesen«.

Als der Weltöffenlichkeit präsentiertes Zeichen dieser Wandlung gilt vielen Richard von Weiz­säckers Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges am 8. Mai 1985, sowie – in einem kleineren Rahmen – die Rede des Verteidigungsminsiteres Volker Rühe am 17. November 1995 auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr in München. Rühe teilte damals mit, dass die Wehrmacht als Institution keine Tradition begründen könne, weil sie »als Organisation des Dritten Reiches in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt« gewesen sei. Eine Feststellung, der man sich genauso anschließen kann wie dem Tenor von Weizsäckers Rede, in der er nicht nur die Schuld der Deutschen anerkannte, sondern auch von Befreiung anstatt von Niederlage sprach. Problematisch bleibt Weizsäckers Rede trotzdem. Denn auch wenn er den Kommunisten ausdrücklich für ihren Widerstand dankte, spielte darin der Antifaschismus als politisches Konzept keine Rolle. Dabei bleibt der Antifaschismus der dunkle Fleck auch der weitesten Definition des Konservatismus. Von den Wahlkämpfen der fünfziger Jahre über die Verunglimpfung von Emigranten wie Willy Brandt bis zu Ernst Noltes Thesen vom Nationalsozialismus als bloßer Reaktionsform auf den Kommunismus zieht sich eine antikommunistische Tradition der Feindbestimmung durch die westdeutsche Geschichte, die nach wie vor wirkt.