Neue Ausschreitungen in Ägypten

Massaker im Stadion

Nach einem organisierten Angriff auf Fussballfans gingen in Ägypten wieder Zehntausende auf die Straße. Das herrschende Militär wird immer schärfer attackiert, gleichzeitig präsentiert es sich als unverzichtbarer Sicherheitsgarant.

»Dies ist keine Fussballausschreitung, sondern ein Militärmassaker«, ruft eine aufgebrachte Menge in Port Said. Ein Video, das während dieser Demonstration wenige Stunden nach Ende des Spiels zwischen den Erzrivalen al-Masry aus Port Said und al-Ahly aus Kairo aufgenommen wurde, kursiert dieser Tage in Ägypten. Unmittelbar nach Spielende am Mittwoch vergangener Woche hatten Tausende Fans aus den Blöcken des Gastgebers al-Masry das Spielfeld gestürmt, Hunderte teils bewaffnete Personen griffen die Spieler aus Kairo und ihre Fans brutal an. Mindestens 74 Menschen, überwiegend Fans des ägyptischen Rekordmeisters al-Ahly, wurden nach offiziellen Angaben getötet und etwa 1000 verletzt, aus Kreisen der Ultras wurden sogar fast 150 Tote gemeldet.
Noch in derselben Nacht versammelten sich Hunderte trauernde Fans und Angehörige der Opfer am Bahnhof und vor dem Clubgelände in Kairo, um die Heimkehrenden zu empfangen. Sie riefen Parolen gegen das herrschende Militär, und in allen Diskussionen wurden die Sicherheitskräfte zumindest als Komplizen der »Mörder von Port Said« ausgemacht. Abu Treika, der berühmteste Fussballer Ägyptens, gab mit einigen Mitspielern noch während des Rücktransports in Militärflugzeugen sein sofortiges Karriereende bekannt, wenige Stunden nachdem die Sportler telefonisch aus den verbarrikadierten Kabinen um Hilfe gerufen hatten. Bei der Ankunft in Kairo verweigerte Treika die Begrüßung durch Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi, den Vorsitzenden des herrschenden Obersten Militärrats.
Am Sonntag sagte der Fußballer in einem Interview mit der unabhängigen Zeitung al-Shorouk: »Ich schließe die Existenz einer Verschwörung, von Planungen nicht aus, denn was geschehen ist, war auf keinen Fall ein Zufall. Ich glaube, dass Männer aus dem Sicherheitsapparat die Urheber des Ganzen sind, wie sonst können wir erklären, dass niemand von den Sicherheitskräften eingegriffen hat? Ja, ich habe mich geweigert, den Feldmarschall zu treffen. Ich hatte das Gefühl, dass der Militärrat an dem Verbrechen beteiligt ist.« Zum Zeitpunkt des Interviews hatten Blogger, Journalisten und Aktivisten bereits auf diverse Ungereimtheiten hingewiesen. So gab es keinerlei Einlasskontrollen, während die Zuschauer gewöhnlich gründlich durchsucht werden. Hunderte Unbekannte sollen deshalb – ohne Ticket, dafür mit Knüppeln, Messern, Schwertern und sogar Handfeuerwaffen bewaffnet – ins Stadion gelangt sein. Polizisten sollen die Ankunft der Bewaffneten teilnahmslos beobachtet haben, berichten Augenzeugen. Andere wollen sogar Polizisten in Zivil unter den Angreifern gesehen haben, auf Fernsehbildern sind zahlreiche weiße Schlagstöcke zu erkennen.

Der Gouverneur und der Sicherheitsleiter von Port Said waren nicht unter den Zuschauern, was unüblich ist. Ein Mann, den Demonstranten in Port Said als Angreifer identifizierten und verprügelten, beschuldigte vier mächtige Geschäftsleute und Politiker. Sie sollen Arme für umgerechnet 19 Euro als Schläger angeheuert haben. Nichtsdestotrotz ist ein Großteil der Täter auch bei den Ultras von al-Masry zu suchen. Sie nutzten die Situation, um in der ägyptischen Tradition brutaler, gewalttätiger Fanrivalität an den gegnerischen Ultras, den »Ahlawys«, Rache zu üben.
Die größte Empörung löste allerdings die auch in der Fernsehübertragung zu beobachtende Untätigkeit der Sicherheitskräfte aus, deren Zahl für Ligaverhältnisse ungewöhnlich gering war. Nach Beginn des Angriffs rührten sie sich nicht von der Stelle. Auf Fernsehbildern sieht man sie inmitten der Massen auf ihren Plätzen verharren, einige lächeln, Augenzeugen wollen von Polizisten die Worte »Schlagt die Hundesöhne tot« vernommen haben. Nach Beginn des Angriffs wurde zudem die Stadionbeleuchtung abgeschaltet. Die Ausgänge des Fanblocks waren verriegelt worden, so dass sich die panisch fliehenden Fans im Ausgangsbereich erdrückten und niedertrampelten. Andere wurden erschlagen oder erstochen.
Nicht nur Abu Treika vermutet daher eine Komplizenschaft der Sicherheitskräfte. Fangruppen, Aktivisten und Politiker von der radikalen Linken bis zu den Islamisten erklärten in den folgenden Tagen, dass das Militär das »Massaker von Port Said« zu verantworten habe. Wenn es nicht in der Lage sei, ein normales Fussballspiel zu sichern, wie wolle es dann ein ganzes Land regieren? Viele gingen jedoch angesichts zahlreicher Überfälle auf Banken und Polizeistationen im Land in ihrer Kritik noch weiter. Der Militärrat schaffe ein Sicherheitsvakuum, um sich dann als einzige Ordnungsmacht und Beschützer der Bevölkerung darstellen zu können. Manche unabhängige Journalisten verwiesen auf die Ereignisse während des Aufstands vor einem Jahr. Damals waren Gefängnisse geöffnet und bewaffnete Banden angeheuert, gleichzeitig alle Polizeikräfte abgezogen worden. Das folgende Chaos sollte den Aufstand gegen Hosni Mubarak diskreditieren.

Die jüngsten Erklärungen des Militärrates deuten auf Ähnliches hin. Angesichts der Bedrohungen im Inneren und von außen, so heißt es, solle die Bevölkerung wachsam sein und zusammenstehen. Feindliche Elemente wollten durch Demonstrationen Chaos verbreiten. Ende vergangener Woche ging Tantawi sogar noch einen Schritt weiter. »Es gibt eine Gruppe in der Bevölkerung, die diese Taten zu verantworten hat«, behauptete er. »Das ganze Volk kennt sie, und ich verstehe nicht, wieso das Volk ihnen gegenüber schweigt.« Ein weiteres Mal versucht das Militärregime, die Bevölkerung gegen die politisch aktive Minderheit auf den Straßen aufzubringen und so das eigene repressive Vorgehen zu rechtfertigen.
»Ausschreitungen zwischen Hooligans« hätten dem Machtapparat also durchaus in die Hände gespielt. Die Angegriffenen, die die meisten Todesopfer zu beklagen haben, entstammen zudem der Ultragruppe »Ahlawy«, die in Kairo während des Aufstands nach dem 25. Januar an fast allen militanten Kämpfen gegen die Sicherheitskräfte beteiligt war. Die Vermutung, dass hier geschickt ein Racheakt mit der Erzeugung von Unsicherheitsgefühl verbunden werden sollte, liegt daher nicht so fern. Es ist wohl kein Zufall, dass die Internetseite der »Ahlawy«-Ultras kurze Zeit später gehackt wurde, um eine falsche Selbstbezichtigung und Auflösungserklärung zu verbreiten.

Der Verlauf der Angriffe und die enorm hohe Zahl der Opfer waren jedoch sicherlich von niemandem intendiert. Das »Massaker von Port Said« schlägt nun auf das Regime zurück. 16 Bürger- und Menschenrechtsorganisationen bezichtigten Tantawi der »direkten Aufstachelung zum Bürgerkrieg«. Die in Bezug auf die öffentliche Meinung sensible Muslimbruderschaft war gezwungen, sich vom Militär zu distanzieren.
In den vergangenen Wochen sah es danach aus, als wollten beide sich die Macht teilen und die Opposition marginalisieren. Nun lud das von den Muslimbrüdern dominierte Parlament auf Druck der kleinen Oppositionsparteien und der Aktivisten auf der Straße hochrangige Militärs vor einen Ausschuss. In Kairo kam es im Bereich des Innenministeriums schon am Freitag zu schweren Straßenkämpfen, die bis zum Beginn dieser Woche nicht nachließen. In Suez, Alexandria, Port Said und anderen Städten gab es Protestdemonstrationen. Bis Montag wurden bei Ausschreitungen in Suez und Kairo 20 Menschen getötet und über 2 000 verletzt. Zahlreiche Oppositionsgruppen, Gewerkschaften und Studierendenorganisationen rufen für den 11. Februar, den Jahrestag des Rücktritts Mubaraks, zum Generalstreik auf – »bis zum Sturz des Militärregimes«.

Siehe auch Dschungel-Seiten 16/17