Stellt den Arbeitskreis »Postautistische Ökonomie« vor

Ökonomie für Traumtänzer

Junge Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Realitätsvergessenheit ihrer Disziplin.

Als die Rating-Agentur Standard & Poor’s Mitte Januar die Kreditwürdigkeit gut der Hälfte der Euro-Staaten herabstufte, überraschte nicht so sehr die Tatsache selbst, sondern ihre Begründung. Die Sparpolitik in Europa sei selbstzerstörerisch, nun müsse die Konjunktur angekurbelt werden. Nach drei Jahren »Euro-Krise«, unzähligen Sondergipfeln und drastischen Sparprogrammen soll alles halb so wild sein mit den Schulden? Spätestens in der Verschmelzung mit der Politik tritt die gesellschaftliche Bedeutung der Wirtschaftswissenschaften offen zutage. Dies gilt nicht nur für die Makroökonomie, sondern auch für die betriebliche Ebene. Wer erinnert sich nicht an einen der zahlreichen Auftritte Hans-Werner Sinns, des Präsidenten des Münchener Ifo-Instituts, der mit akademischem Nimbus nichts an­deres predigt als Lohnverzicht, Flexibilität und die Aufweichung des Kündigungsschutzes? Dass hinter solchen Analysen Interessen stehen, liegt zwar auf der Hand – aus der Welt geschaffen sind sie damit aber noch nicht.

Unternehmerfreundliche Modellrechnungen zumindest zu relativieren, versucht der »Arbeitskreis Postautistische Ökonomie« (Paecon). Er wirft dem wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream Realitätsferne und mangelnde Selbstre­flexion vor. In der Mehrheit Studierende oder wissenschaftliche Mitarbeiter, fordern die Postautisten mehr »Realitätsbezug der Volkswirtschaftslehre statt ihrer streng mathematisch-modelltheoretischen Ausrichtung, mehr Interdisziplinarität und die Beendigung der Geschichtsvergessenheit«, sagt Arif Rüzgar. Der Finanzwissenschaftler aus Erfurt ist einer der Gründer dieser akademischen Gruppe, die sogar beim Verband deutscher Ingenieure (VDI) auf Interesse stößt. In dessen Wochenzeitung resümiert Silja Graupe, Juniorprofessorin für Philosophie und Wirtschaft an der Alanus-Hochschule in Bonn, der Kritik von Paecon aufgeschlossen gegenüberstehend: Auch eine Volkswirtschaftslehre, die sich als Naturwissenschaft begreift, »prägt Welt- und Menschenbilder«. Dabei komme die VWL nicht darüber hinaus, »das ingenieurswissenschaftliche Formelinstrumentarium des 19. Jahrhunderts auf die soziale Welt zu übertragen«. Gegenüber der Jungle World erklärt Graupe: »Modelle schaffen Wirklichkeit.«

In bester studentischer Manier begann der Arbeitskreis seine Aktivitäten mit autonomen Bildungsveranstaltungen – und betreibt diese seit acht Jahren. Der eigentliche Anstoß aber kam aus Frankreich: An der Sorbonne, der Universität, die im Mai 1968 das Zentrum der Pariser Revolte war, wandten Studierende sich bereits im Jahr 2000 gegen eine herrschende Lehrmeinung, die sie als »autistisch« bezeichneten: Das Bild, das die Wirtschaftswissenschaften von der Welt zeichneten, sei eine »Traumwelt«. Insbesondere kritisierten sie eine »unkontrollierte Anwendung der Mathematik und formaler Modelle« und forderten die Lehrpläne zu überarbeiten. Bald schlossen Studierende und Lehrende in anderen Ländern sich dem an. So forderte eine Doktorandengruppe der Cambridge University einen »Pluralismus der Methoden und Ansätze, die in der Debatte gerechtfertigt werden« müssten. Nicht zuletzt die Krisenjahre 2008 und 2009 wirkten als Katalysator der Debatte und verschafften ihr auch in der Bundesrepublik großes Interesse: Die Wirklichkeit war in die Modellwelt eingebrochen. Man fragte sich, warum niemand die Krise kommen sah. Was nützt eine »Wissenschaft«, die als diagnostischees Instrument versagt? Es geht also um mehr als nur einen akademischen Methodenstreit.
»Die Zunft der Ökonomen steht nun vor der Frage, ob sich ihre Forschungsstrategien nicht überlebt haben«, sagt Thomas Dürmeier, Volkswirt an der Universität Kassel, der Jungle World. Im Deutschlandfunk attestierte Dürmeier der Wissenschaft, dass sie der Wirklichkeit hinterherhinke. »Wirtschaftspolitisch hat die Krise eine Wende gebracht hin zu einer stärkeren Öffnung, dass staatliches Handeln eine Rolle spielt.« Aber in der Wissenschaft bestehe weiterhin »eine massive Verengung auf ein herrschendes Paradigma« potentiell perfekter Märkte. In der Bundesrepublik werde die Postautistische Ökonomie inzwischen, so Dürmeier, von einem Netzwerk von etwa 50 aktiven Mitgliedern und einigen ähnlichen Initiativen vertreten. Weltweit verfolgten mehr als 10 000 Akademiker die Debatte der »Real World Economics«, wie der neuere Begriff lautet.
Augenfällig sind die Parallelen zwischen der Paecon und der »Occupy«-Bewegung in Ziel und Zusammensetzung. Beide werfen grundlegende Fragen auf, ohne sich einer kohärenten und konstruktiven Kritik zu verpflichten. Inhaltlich scheint sich die Paecon in Deutschland stark auf die Wachstumskritik zu konzentrieren. Sowohl Rüzgar als auch Dürmeier weisen diesen Eindruck jedoch zurück: Sie seien »theoretisch so unterschiedlich aufgestellt, dass wir gar keine eindeutige Position beziehen könnten«, sagt Rüzgar. Dürmeier gibt an, man befasse sich im Wesentlichen mit drei Gebieten: der »Postwachstumsökonomie«, den normativen Grundlagen des Fachs und der Finanzwirtschaft. Das Thema Privatrente beispielsweise veranschauliche, wie wohlüberlegt die Vorannahmen von Modellen und Schaubildern sein wollen: Während die konventionellen Modelle linear aufgebaut seien und ein sicheres und stetiges Wachstum erwarten ließen, stelle sich das Bild mit nichtlinearer Mathematik ganz anders dar: Da passiert es, dass Funktionen »überschießen«. So bildet dann auch die Theorie ab, was empirisch schon klar war: Blasenbildung ist kein Fehler, sondern Normalität. Die Probleme der Wirtschaftswissenschaften lassen sich nur fächer- und branchenübergreifend angehen. Das verdeutlicht Dürmeier mit einem Verweis auf die Rezeptionsproblematik: Einfache Antworten sind nicht nur leichter vermittelbar, sondern auch politisch praktikabel. Die Hürde der Simplifizierung müssen die Postautisten erst noch nehmen. Einen bis heute andauernden Feldversuch, die »Unzufriedenheit mit dem Ist-Zustand der Zunft« produktiv zu wenden, unternimmt seit Mitte der siebziger Jahre die keynesianisch orientierte Memorandum-Gruppe, die ­alljährlich ein Gegengutachten zu dem des amt­lichen Sachverständigenrats erstellt.

Die akademische Jugend wird sich auf eine lange Auseinandersetzung einstellen müssen. Glaubt man jedoch den Fachzeitschriften, so wird an einer Revolutionierung der Wirtschaftswissenschaften kein Weg vorbeiführen. Und die Postautisten sind keineswegs die einzigen Akteure. Der Direktor des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, räumt ein, dass »die Dominanz der neoklassischen Finanzmarktökonomik« überprüft werden müsse. Der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, Dennis Snower, meint: »Wir stehen am Anfang einer Revolution«, auch wenn hierzulande von ­einem Neuanfang in den Wirtschaftswissenschaften bisher wenig zu spüren sei. Doch fortschritt­liche Forschungsansätze gibt es in Gestalt der Institutionenökonomik und Verhaltensökonomik, auch wenn sie für Rüzgar nicht grundlegend und weitreichend genug sind. Nicht weitreichend genug ist derzeit allerdings auch der Einfluss der Postautisten. Den schätzt Sebastian Dullien, Professor für Volkswirtschaft an der HTW Berlin, als nicht sehr groß ein, »weder in orthodoxen Kreisen noch in linken Domänen«. Er selbst sehe die »völlige Methodengleichgültigkeit« der Postautisten als problematisch an. Der kritische Impuls sei jedoch vollkommen richtig. Und: Der Wandel in den Wirtschaftswissenschaften finde statt, nur eben kaum in Deutschland.