Retrospektive über die »rote Traumfabrik« auf der Berlinale

Traumfabrik im Arbeiterparadies

Der russische Filmproduzent Moisej Alejnikow und der deutsche Kommunist Willi Münzenberg taten sich 1922 zusammen, um das deutsch-russische Filmstudio Meschrabpom-Film aufzubauen. Die Retrospektive der 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin entdeckt die »rote Traumfabrik« wieder und zeigt Stumm- und Tonfilme, die in den Jahren 1922 bis 1936 dort entstanden sind.

Der Begriff »Traumfabrik« ist kaum zu trennen vom Eskapismus, von der ikonischen Überhöhung des Stars, dem Umherschweifen in parallelen Realitäten bis hin zum Abdriften in traumähnliche Zustände. Zumindest gilt das für das Hollywood-Kino. Die deutsch-russische Filmkooperation Meschrabpom-Film – oder die »rote Traumfabrik«, wie sie in der Retrospektive der diesjährigen Berlinale genannt wird – stand dagegen für etwas ganz anderes, für Aufklärung und Dokumentation, für den Realismus also, zugleich aber auch für die Wirklichkeit übersteigernde Bilder und filmische Utopien.
Nikolai Ekks Film »Der Weg ins Leben« (1931) etwa erzählt, wie eine in Moskau lebende Gruppe jugendlicher Obdachloser, darunter Diebe und Bandenmitglieder, vom Staat in ein Arbeitslager geschickt wird. Der Erzieher der »Kommune« ist ein sympathischer und humorvoller Typ, der anstelle militärischer Strenge eine aufgeklärte Pädagogik vertritt. Er setzt auf Selbstverwaltung, verinnerlichte Disziplin und das Glück schweißtreibender Arbeit, auch wenn es immer wieder Rückfälle in alte Gewohnheiten gibt und äußere Einflüsse den Erfolg des Erziehungsprozesses gefährden. Trotz aller Widerstände werden am Ende aus verwahrlosten Kleinkriminellen disziplinierte und verantwortungsbewusste Menschen. Oder wie es im Themenplan der Meschrabpom-Film formuliert wurde: »Arbeitserziehung obdachloser Kinder. Verwandlung diebischer Kniffe in technische Fertigkeiten«. Filme wie »Der Weg ins Leben« propagierten auf ihre Weise auch einen Traum: Nicht die Flucht vor der gesellschaftlichen Realität, sondern vielmehr die hartnäckige Arbeit an ihrer Gestaltung.
Tatsächlich entwickelte sich die »rote Traumfabrik« aus einer gesellschaftlichen Notwendigkeit heraus. Als Reaktion auf die katastrophale Hungersnot an der Wolga hatte Lenin 1921 die Einrichtung der in Berlin ansässigen Internationalen Arbeiterhilfe (russisch abgekürzt Meschrabpom) in Auftrag gegeben, deren Arbeitsgebiet neben der finanziellen Unterstützung von Arbeitern und der Streikhilfe auch die filmische Propaganda umfasste. Ihr Ziel war es zunächst, die Situation in Russland filmisch zu dokumentieren und damit die Spendenbereitschaft in Europa zu aktivieren. Der kurze Dokumentarfilm »Hunger in Sowjet-Russland« (1921) war einer von mehreren russischen »Hungerfilmen«, dem im selben Jahr ein eigener deutscher Beitrag über das neue Russland und die Hungerhilfe folgte (»Hunger an der Wolga«). Dass aus diesen Anfängen schließlich das – nach dem Staatskonzern Goskino – zweitgrößte Filmstudio hervorging, wäre jedoch ohne die Allianz zweier hochambitionierter Medienprofis nicht möglich gewesen, die Geschäftssinn und politischen Auftrag mit dem leidenschaftlichen Interesse für das Medium Film geschickt zu verbinden wussten: Willi Münzenberg, der Leiter der Arbeiterhilfe, war ein deutscher Kommunist, Moisej Alejnikow war Produzent und künstlerischer Direktor des letzten privaten russischen Filmstudios Rus, das als Künstlerkollektiv gegründet worden war und deshalb clever die Verstaatlichung umgangen hatte. Aus der Fusion der proletarischen Organisation der internationalen Arbeiterhilfe mit dem familienähnlich strukturierten Privatunternehmen entstand 1922 ein gemeinsames Studio in Moskau, Meschrabpom-Rus (später Meschrabpom-Film). Drei Jahre später folgte die Gründung der deutschen Prometheus, einer Firma für Verleih, Vertrieb und Produktion in Berlin, die Filme wie »Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?« (Slátan Dudow, 1931/32) und »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« (Phil Jutzi, 1929) produzierte.
Die Zusammenarbeit von Münzenberg und Alejnikow war höchst erfolgreich. Schon im ersten Jahr seines Bestehens brachte das Studio vier Spielfilme heraus. Die Auswahl zeigt, dass keineswegs nur das Genre des Revolutionsfilms vertreten war, der im Grunde bis heute das westliche Bild des Sowjetfilms dominiert – nicht zuletzt durch die Rezeption des sowjetischen Films in den zwanziger Jahren in Deutschland, die sich geradezu enthusiastisch auf alles stürzte, was formal und inhaltlich radikal war, also vor allem auf den Montagefilm und das Revolutionssujet. Dabei bestanden zwischen dem Science-Fiction-Film »Aelita – Der Flug zum Mars« (Jakow Protasanow, 1924), der Komödie »Das Zigarettenmädchen von Moskau« (Juri Scheljabuschski, 1924) – beide waren Kassenschlager –, dem Märchen »Morosko« (Juri Scheljabuschski, 1924) und dem Abenteuerfilm »Zwischen Himmel und Erde« (Wladimir Gardin, 1924) nicht nur thematisch, sondern auch gen­respezifisch wie ästhetisch große Unterschiede.
Die Verschiedenheit der Filmemacher zeigte sich auch bei der Einführung des Tonfilms. Während der Regisseur und Theoretiker Wsewolod Pudowkin, der 1928 gemeinsam mit Sergej Eisenstein und Grigorij Aleksandrow das Manifest »Die Zukunft des Tonfilms« verfasst hatte, an den Montagetechniken der zwanziger Jahren festhielt und für die Asynchronität von Bild und Ton plädierte, verfolgte Ekk in »Der Weg ins Leben« einen antiformalistischen Kurs. So verleihen die direkt aufgezeichneten Stimmen dem ersten sowjetischen Tonfilm eine ungewöhnlich realistische Atmosphäre. Wie ein theatraler Bruch wirken hingegen die mitten im Film platzierten Ankündigungen von Schauspielern durch dynamisch gestaltete Texttafeln und der antinaturalistische Einsatz der Musik.
Auch wenn Meschrabpom-Rus innerhalb der nationalisierten russischen Filmwirtschaft eine privilegierte Position genoss – durch die Geschäftsform einer deutsch-russischen Aktiengesellschaft hatte das halbprivate Studio mehr Freiheiten als andere sowjetische Firmen, die im Staatsbesitz waren –, führte an der Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Regime kein Weg vorbei. Filme wie »Sein Mahnruf« von Jakow Protasanow (1925), Wsewolod Pudowkins »Die Mutter« (1926) oder »Das Ende von Sankt Petersburg« (1927) von Pudowkin und Michail Doller machten aber nur einen kleinen Teil der Gesamtproduktion aus. Häufig dienten diese Filme auch als Schutz vor Angriffen seitens der Parteibürokratie, die dem Studio »ideologische Verfehlungen« und einen »Hang zum Kleinbürgerlichen« vorwarf. Eine andere Strategie, den Anforderungen der Partei zu begegnen und sich dadurch die Legitimation für die populäre Spielfilmproduktion zu verschaffen, war die Einrichtung einer wissenschaftlichen Produktionsabteilung.
Der sogenannte Kulturfilm war politisiertes Bildungs- und Aufklärungskino, folgte aber dennoch den ästhetischen und formalen Ansprüchen des spektakulären Kinos. Zwar hatten sich die Regisseure von Meschrabpom den genrespezifischen Vorgaben des Kulturfilms zu stellen, sie mussten dabei aber ihren eigenen Stil verleugnen, wie man etwa an Pudowkins recht drastischem Film über Pawlows Lehre vom bedingten Reflex sehen kann (»Die Mechanik des Gehirns«, 1926). Bisweilen wurden die damals beherrschenden Themen wie Elektrifizierung, Modernisierung und Industrialisierung mittels spektakulärer technischer Effekte visualisiert. So war etwa Lew Kuleschows »40 Herzen« (1930) über die Elektrifizierung der UdSSR auch eine Innovation im Bereich der Animation. 40 geplante Kraftwerke werden darin als vierzig leuchtende Herzen gezeigt – ein eingängiges Bild für das Pulsieren der Modernität. Auch der Film »Zwei Ozeane« (1933) von Wladimir Schnejderow und Jakow Kuper gilt vordergründig der stolzen Demonstration sozialistischer Planerfüllung. Der Film dokumentiert eine Expedition des kohlebetriebenen Eisbrechers Sibirjakow durch den Arktischen Ozean bis zum Pazifik. Eher am Rande wird auf der Reise durch die klirrende Kälte die staatstragende Rhetorik abgehandelt. »Zwei Ozeane« ist weniger ein Propaganda- als ein Abenteuerfilm. So setzen die Filmemacher die Reparatur einer gebrochenen Schiffsschraube und die Begegnung der »Polar-Bolschewiken« mit ein paar Eisbären spannungsvoll in Szene oder stellen den Seegang auf dramatische Weise kameratechnisch nach. Zwischendurch fällt der Blick immer wieder auf das Wasser und die wogenden Wellen, es entstehen kontemplative Bilder, die sich fast aus der Narration herauszulösen scheinen.
Mitunter sind die Genres Kultur- und Spielfilm gar nicht mehr sauber zu trennen. Auffällig ist auch, wie beide Genres immer wieder und sehr extensiv auf die gleichen Motive zurückgreifen. Einen Topos, der gleichermaßen für Agita­tion und Film prägend ist, bildet die Demonstration, die Zusammenrottung und Bewegung von Menschenmassen – in den Revolutionsfilmen bekommen diese Sequenzen geradezu zeichenhaften Charakter, sie werden zur bloßen Chiffre für Aufstand und Propaganda. Andere wiederkehrende Motive sind Maschinen und die extensive Darstellung von Arbeit, seien es physische Verrichtungen von Menschen, technische Abläufe oder die Mechanik von Vorgängen, die meist mit den dynamisierenden Mitteln der Montage ins Bild gesetzt werden. In Ekks »Der Weg ins Leben« werden die Themen Arbeit und Maschine auch ideologisch miteinander verknüpft. Da die stockende Materialzufuhr die Arbeit der Kommune gefährdet, werden Eisenbahnschienen verlegt – der Anschluss an die europäische Moderne ist somit gewährleistet, zudem sorgt die Arbeit für den gewünschten erzieherischen Effekt.
Bis das internationale Experiment von den Diktaturen Hitlers und Stalins beendet wurde, entstanden während des knapp sechzehnjährigen Bestehens von Meschrabpom-Film fast 600 Filme. Da viele von ihnen noch nie in Deutschland zu sehen waren oder zumindest seit den frühen dreißiger Jahren nicht mehr aufgeführt wurden, leistet die von Alexander Schwarz und Günter Agde kuratierte Retrospektive film­historische Pionierarbeit. Unter den mehr als 40 Stumm- und Tonfilmen präsentiert die Ber­linale neben den weniger bekannten Komödien und Kulturfilmen auch die kanonisierten russischen Revolutionsfilme wie Eisensteins »Oktober«, Pudowkins »Das Ende von Sankt Petersburg« und den Film »Aelita«, in dem der Sturm auf das Winterpalais als Zukunftsvision nachgestellt wird. Auch Aleksandr Andrijewskis »Der Untergang der Sensation« (1935), einer der ersten Roboterfilme, wird gezeigt. Erzählt wird die klassische Geschichte des Kontrollverlusts über die Maschine: Eine Roboterarmee, die mit einem Saxophon ferngesteuert wird, gerät dabei zwischen die Fronten des Klassenkampfes, am Ende kann sie keine der beiden Seite mehr bändigen. Eine vergleichbare Entfesselung der Kräfte konnte das Sowjetregime bei Meschrabpom-Film nicht zulassen.

Die Rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prome­theus 1921–1936. www.berlinale.de