Fordert mehr Materialismus bei der Analyse

Die kleine Freiheit

Die Umbrüche im Nahen Osten haben komplexe Ursachen. Ihre Analyse sollte ebenso materialistisch sein wie die notwendige linke Solidarität mit oppositionellen Kräften.

»Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit« sowie »Würde« waren die Forderungen, mit denen die oppositionellen Jugendbewegungen in verschiedenen arabischen Ländern vor über einem Jahr auf die Straße gingen. Als sie sich dort mit Tausenden anderen Menschen wiederfanden, radikalisierten sie ihre Forderungen. »Das Volk will den Sturz des Regimes!« lautete bald der bekannteste Slogan des Nahen Ostens, der in diesen Tagen auch in Syrien zu hören ist. In Ägypten hat er mittlerweile einen neuen Adressaten. Die Demonstranten fordern nun den Sturz des autoritär und repressiv herrschenden Militärrats.
Die Aufstände des »arabischen Frühlings« waren weder bloße Brotrevolten, wie einige Kommentatoren meinten, noch rein politische Kämpfe für bürgerliche Rechte und Demokratie, wie andere erklärten. Sie waren beides – und noch mehr. Die zentrale Forderung nach »Würde« reagierte auf die unberechenbare, willkürliche Diskriminierung durch korrupte Behörden und Beamte, die Anliegen von Bürgern mal sofort, mal erst nach monatelangem Warten und Dutzenden Amtsgängen erledigten. Sie war die Reaktion auf die von allen, insbesondere den weniger Wohlhabenden, erfahrene Ohnmacht gegenüber der Polizeiwillkür und dem verzweigten Bestechungssystem. Und sie war die Folge des erwachenden Bewusstseins der Akademiker aus der Mittelschicht über ihre eigene Überflüssigkeit, weil sie für Arbeiten im aufgeblähten Staatssektor überqualifiziert und auf dem Arbeitsmarkt ohne Perspektive sind. Diese überwiegend junge, gebildete Mittelschicht will darüber hinaus auch mehr Partizipations- und Einflussmöglichkeiten.
Der Ruf nach »Freiheit« wurde begleitet von dem nach sozialer Gerechtigkeit und »Brot«, »’aish«, im ägyptischen Dialekt ist das Wort gleichbedeutend mit »Leben«. Über 40 Prozent der ägyptischen Bevölkerung leben an oder unter der Armutsgrenze. An der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Mehl und eben Brot hapert es seit langem, ebenso an der Versorgung mit Gas zum Kochen oder Heizen.

Die politisch versierten Oppositionsgruppen erhielten im vorigen Jahr erstmalig Unterstützung aus den großen Armenvierteln und von den vom Hass auf die Polizei getriebenen Jugendlichen, auch von Fußball-Ultras. Nur so konnte der Aufstand in Ägypten die »kritische Masse« erreichen, die Veränderungen im Machtzentrum erzwang – auch wenn die letztgenannten Gruppen eben nur ermutigt durch die etablierten politischen Kräfte auf die Straße gingen, die sich in den Jahren davor und insbesondere nach dem Mord an Khaled Said radikalisiert hatten. Auch zuvor in Tunesien entsprang die – bislang ein­zige erfolgreiche – Revolution der gewaltsamen Selbstermächtigung der deklassierten Jugendlichen aus den ländlichen Gebieten.
Die soziale Misere entschied schließlich die Wahlen, insbesondere im autoritären Ägypten. Ins machtlose Parlament gewählt wurden dort die islamistischen Parteien, an deren Institutionen das Regime seit Jahrzehnten viele Bereiche des Sozialsystems delegiert hat. Insbesondere während des Wahlkampfes erinnerten die Islamisten die Bevölkerung an ihre »Integrität« und die armen Schichten an ihre ganz konkrete Bedeutung – sie verteilten Lebensmittelpakete und Butangasflaschen in großem Stil, hunderte Millionen Dollar aus den Golf-Staaten machten es möglich.

Andererseits wird die soziale Frage fast immer vernachlässigt, von politischen Kräften im Nahen Osten in ihrer Praxis ebenso wie von den Betrachtern »im Westen« in der Theorie – auch innerhalb der Linken. Sicherlich ist die Armuts- und Versorgungskrise in Ägypten und Nordafrika insgesamt das Resultat der Politik der Regimes. Doch sie ist auch das Resultat der Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt und seine globale Arbeitsteilung seit fast 200 Jahren. Was in Ägypten mit den Reformen des »Modernisierers« Pascha Muhammad Ali begann und hier wie in anderen Reichen oder Ländern der Re­gion mit Handels-, Kredit- oder schließlich Kolonialregimen forciert wurde, war die Zementierung einer randständigen Position als Rohstofflieferant für die westliche, im 19. Jahrhundert insbesondere britische professionelle Weiterverarbeitung. Die Agrarwirtschaft wurde unter Großgrundbesitzern zentralisiert und auf Monokul­turen umgestellt – berühmtestes Beispiel ist die Baumwolle.
Die Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre und die kapitalistische industrielle Moderne bilden den Hintergrund der Entstehung nicht nur der Arbeiterbewegung, sondern auch der islamistischen Ideologie. Nach einer nicht weniger gewaltsamen Phase »nachholender Entwicklung« unter Gamal Abd al-Nassers »arabischem Sozialismus« öffnete Anwar al-Sadat Ägypten in den siebziger Jahren für streng marktliberale Diktate des IWF und der Weltbank. Die Folge dieser »Politik der offenen Tür« war nicht nur eine Welle von Privatisierungen, die Zerschlagung des nasseristischen Sozialstaats und die weitere Verarmung der Bevölkerung. Schon Mitte der siebziger Jahre verfügten die reichsten zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung über mehr als ein Drittel des Nationaleinkommens – mehr, als die obersten zehn Prozent in den USA oder in Großbritannien besitzen. Landwirtschaftliche Flächen wurden für Investmentprojekte etwa im Tourismusbereich verwendet, die Bodenproduktivität sank weiter und Ägypten blieb abhängig vom Weltmarkt. In den vergangenen Jahren importierte Ägypten etwa 55 Prozent des benötigten Getreides.
In vielen Medien, auch in linken wie der Jungle World, war die Freude der Kommentatoren groß, dass Oppositionelle im Nahen Osten nicht nur »Brot«, sondern gerade auch freie Wahlen und die bürgerliche Demokratie einforderten. Doch letztlich werden freie Wahlen dem Großteil der ägyptischen Bevölkerung wohl genauso wenig helfen, wie Sozialhilfeempfängern in dritter Generation in Deutschland. Der Ruf nach Freiheit transzendierte schon immer die Programme bürgerlicher Revolutionen. Es ist unreflektiert und naiv, immer wieder Solidarität mit »der iranischen Freiheitsbewegung«, »der Frauenbewegung« oder den »Säkularisten im Nahen Osten« zu proklamieren, ohne die untrennbare Verstrickung der dortigen Regimes und ihrer Volkswirtschaften in das kapitalistische Weltsystem zu analysieren. Die »Demokratisierung« im Nahen Osten wird begleitet sein von strengen Kreditregimes und Direktiven der Weltbank und des IWF.

Selbstverständlich muss der Kampf für individuelle Freiheit vor Willkür und Repression gegen diejenigen verteidigt werden, die ihn diffamieren, darunter auch viele Linke, welche die progressiven Kräfte im Nahen Osten ihrer verstaubten antiimperialistischen Ideologie opfern. Doch deren erklärte Gegner ignorieren oder affirmieren im Gegenzug oft das globale kapitalistische Elend. Das bloße Gerede von bürgerlichen Freiheiten und Demokratie, die es für die Menschen zu erkämpfen gelte, fällt weit hinter jede materialistische Kritik zurück. Von Privateigentum und Kapitalismus redet niemand mehr, fast scheint es, man habe Angst vor der Radikalität einer Theorie, die es nicht möglich macht, sich auf »unsere Werte« und »die Aufklärung« zurückzuziehen. Die oft wohlfeil bemühte »Dialektik der Aufklärung« wird verdreht, das eigene Vorgehen zuweilen als »Ideologiekritik« gerechtfertigt. Doch Ideologiekritik muss historisch-materialistisch sein, also heute wieder im Marxschen Sinne »vom Kopf auf die Füße gestellt« werden.
Der Reichtum des europäischen Bürgertums, die Grundlage der »Öffentlichkeit«, der fran­zösischen Revolution und britischen Zivilität, stammte aus den Handelskolonien, den Sklavenkolonien in der Karibik und der Rohstoffe liefernden Peripherie anderswo. Heutzutage handeln und kooperieren die Staaten Europas noch mit jedem Regime, dass ihnen Profit und stra­tegische Vorteile verheißt, sei es Libyen, Syrien oder der Iran. Sie decken noch jeden Massenmord, der sie nicht tangiert, sei es in Ruanda oder im Sudan. Die Gesellschaftsordnung Europas beruht auf dem globalen Kapitalismus der Neuzeit. Die gesellschaftliche Lage im Nahen Osten beruht auf derselben kapitalistischen Geschichte, die Kapital­akkumulation produziert notwenidg Verlierer.
Wenn heutzutage statt von der komplexen kapitalistischen Moderne von »Tradition« und kulturellen bzw. religiösen Gründen für die »Rückständigkeit« gesprochen wird, ohne diesen Zusammenhang aufzuzeigen, ist die Affirmation perfekt. Der Ruf nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit muss im Gegenteil mit einer materialis­tischen Analyse der Geschichte von Freiheit und Elend einhergehen. Dies wäre nicht nur die Grundlage einer tatsächlichen Revolution im Nahen Osten, sondern auch die Aufgabe einer Linken, die tatsächlich die Ideen der Aufklärung verteidigen will.