Die Konflikte in Ägypten

Höchste Zeit, dass sich was ändert

In Ägypten rief die Opposition am vergangenen Wochenende zu einem Streik und zu zivilem Ungehorsam auf. Die politische und soziale Polarisierung der ägyptischen Gesellschaft war noch nie so offenkundig.

»Das größte Problem der Ägypter ist, dass sie an einem Ort leben, aber nicht in einer Zeit.« Das waren die letzten Worte, die der bekannte linke Satiriker und Schriftsteller Galal Amer auf Twitter veröffentlichte. Amer, einer der bekanntesten politischen Publizisten Ägyptens, starb am Samstag. Einen Tag zuvor hatte er während gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Sympathisanten des Militärregimes in Alexandria eine Herzattacke erlitten. Für Zehntausende Ägypterinnen und Ägypter, die seinen Tod im Internet oder in Alexandrias Qa’ed Ibrahim-Moschee betrauerten, stehen seine Worte und sein Tod symbolisch für die Situation ihres Landes. Tiefe Konflikte prägen die Gesellschaft, nicht nur politische, sondern auch soziale oder religiöse, und alle bedingen sich gegenseitig. Das Regime nutzt sie seit Jahrzehnten geschickt zur Sicherung und Stärkung seiner Machtstrukturen.

Als über 50 oppositionelle Gruppen, Koalitionen, Parteien und unabhängige Gewerkschaften nach dem Stadionmassaker von Port Said (Jungle World 06/12) und den folgenden Straßenkämpfen für das vergangene Wochenende zu Streiks oder Aktionen des zivilen Ungehorsams aufriefen, kam es zum bisher deutlichsten Bruch. Zum ersten Mal seit dem Sturz Hosni Mubaraks vor einem Jahr und dem damit verbundenen Militärputsch standen sich progressive und konservative Kräfte offen gegenüber. Auf der einen Seite befanden sich säkulare, liberale und traditionssozialistische Gruppen, unabhängige Gewerkschaften sowie die Studierendenorganisationen fast aller Universitäten des Landes. Sie kritisieren seit Monaten den herrschenden Militärrat, in dessen Amtszeit schon mehr als 10 000 Ägypter von Militärgerichten zu Haftstrafen verurteilt und mehr als 1 000 Menschen getötet wurden. Die Opposition fordert daher die sofortige Machtübergabe an eine zivile Regierung.
Auf der anderen Seite standen das herrschende Militär, die Übergangsregierung und andere Institutionen des alten Regimes, zudem deren traditionelle Verbündete, die islamistischen Parteien, die koptische Kirchenobrigkeit und die staatstreuen Medien. In einer beispiellosen Propaganda­kam­pagne wurde der Aufruf der Opposition diskreditiert. Der Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi meldete sich aus Katar zu Wort, um den Streikaufruf zu verdammen, gleiches tat die islamische Universität al-Azhar. Auch der koptische Papst Shenouda III. verurteilte die Pläne. Den Begriff »ziviler Ungehorsam« verstehe er nicht, es handele sich um Hirngespinste. Er verwies auf »zahlreiche Verse der Bibel, die den Gehorsam gegenüber dem Herrscher gebieten«. In Moscheen und Kirchen wurde gegen Streiks und »Ungehorsam« gepredigt.
Meist ging es um die angebliche Gefahr für die ägyptische Wirtschaft, doch Vertreter des Militärs, der Regierung und der Muslimbrüder beschuldigten die Oppositionellen auch des Verrats an den Interessen des Landes. Sie würden Chaos stiften und strebten den »Sturz des Staates« an. Der seit Jahrzehnten beliebte, in letzter Zeit in vielen Kommuniques des Militärs verwendete Vorwurf der Agententätigkeit für fremde Mächte wurde in den staatlichen Medien geschickt mit den Ermittlungen gegen ausländische NGO verknüpft.

Die staatliche Zeitung al-Ahram titelte am Freitag: »Das Volk lehnt den zivilen Ungehorsam ab!« Die schadenfrohe Schlagzeile am nächsten Tag traf dann durchaus die Realität: » … und der Streik ist gescheitert«. Das lag allerdings nicht nur an der Gegenpropaganda. Wegen ihrer ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse bei schlechten Arbeitsbedingungen sind die Arbeiterinnen und Arbeiter in der ägyptischen Industrie – von deren Betrieben sich nach Angaben von Regimekritikern 30 bis 40 Prozent in den Händen des Militärs befinden – auf jedes Pfund angewiesen. Nur in wenigen Fabriken, Minen und Behörden kam es zu vereinzelten Arbeitsniederlegungen, die U-Bahnen in Kairo fuhren nur mit halber Geschwindigkeit.
Lediglich die Demonstrationen, die als Auftakt des Streikwochenendes gedacht waren, waren erfolgreich. In den größeren Städten Ägyptens gingen Zehntausende oppositionelle Aktivistinnen und Aktivisten, Studierende und Schülerinnen und Schüler auf die Straße. In Kairo zogen Zehntausende in Sternmärschen zum Verteidigungsministerium. Das Militär hatte zwar zahlreiche Straßensperren errichtet, doch die meisten Demonstrationszüge konnten ihr Ziel erreichen. Das lag auch daran, dass Oppositionelle die Märsche von einem Lagezentrum aus koordinierten und von dort per Telefon und Mikroblogging mit den Protestierenden auf den Straßen Kontakt hielten. Bis in die Nacht riefen diese Parolen gegen den herrschenden Militärrat und die Muslimbrüder und forderten die Machtübergabe an eine zivile Regierung. Als hinter den massiven Absperrungen vor dem Verteidigungsministerium eine Militärkapelle versuchte, die Sprechchöre mithilfe von Trompeten, Trommeln und patriotischen Liedern zu übertönen, kreierten die Demonstrierenden neue Parolen: »Der Feldmarschall (Mohammed Hussein Tantawi, der Vorsitzende des herrschenden Militärrats) ist verrückt geworden!«

»Verrückt« nannte die Situation in Ägypten zuletzt auch Galal Amer. Er erlitt seinen Herzanfall, als eine Demonstration in Alexandria von Sympathisanten des Regimes angegriffen wurde. Wenige Stunden zuvor war ein linker Politiker einem Mordversuch entgangen. Der Militärrat hatte zuvor nochmals indirekt die »Verteidigung« der Ordnung und der »Ehre der Armee« angemahnt, einige konservative Gruppen riefen offen zur Konfrontation auf. Mancherorts hingen Transparente, die zum »Schutz Ägyptens vor dem israelisch-amerikanischen Teilungsplan« aufforderten. In mehreren Städten wurden Mitglieder der »Revolutionären Sozialisten«, Gewerkschaftsmitglieder und Journalistinnen und Journalisten von Zivilpersonen angegriffen und anschließend von Sicherheitskräften verhaftet. Auch in Kairo kam es an verschiedenen Orten zu kleineren Auseinandersetzungen und zu Festnahmen. Dabei wurde auch die einzige weibliche Präsidentschaftskandidatin, Bothaina Kamel, attackiert.
Noch vergangene Woche hatte die unabhängige Zeitung al-Masry al-Youm eine Kolumne Amers veröffentlicht, die grundsätzliche Fragen aufwarf. Die Debatten über eine neue Verfassung und Reformen des politischen Systems verfehlten den Kern des eigentlichen Problems, schrieb Amer. Was die Menschen bräuchten, sei »ein neuer Gesellschaftsvertrag, in dem der Beamte für Gehalt arbeitet, nicht für Bestechungsgelder. In dem der Richter das Volk vertritt und nicht seine Angehörigen. In dem der Wähler nach Kompetenz entscheidet und nicht nach der Größe des (vom Kandidaten erhaltenen) Fleischstücks. Nach dem wir in Universitäten und Schulen Politik machen, nicht in Moscheen und Kirchen.« Von diesem Gesellschaftsvertrag ist Ägypten jedoch weit entfernt, noch leben die Ägypter nicht »in einer Zeit«. Das, so sagte ein Aktivist aus Kairo gegenüber der Jungle World, sei auch der Grund für das Scheitern des Aufrufs zum Streik und zu zivilem Ungehorsam: »Man kann nicht die Weltsicht oder die Meinungen der Menschen ändern, wenn sie seit Jahrzehnten zur Denkfaulheit erzogen worden sind und die großen Medien Lügen und Verschwörungstheorien verbreiten.«