Omar Radi im Gespräch über Meinungsfreiheit und die Protestbewegung in Marokko

»Keine Chance auf Befriedung«

Vor einem Jahr protestierten in Marokko Tausende Menschen gegen das autoritäre Regime von König Mohammed VI., für eine Verfassungsreform und mehr bürgerliche Rechte. Zum ersten Jahrestag der Proteste vom 20. Februar gegen die politischen und sozialen Missstände, die vor ­allem vom Mouvement du 20 Février (M20F) getragen wurden, sind Demons­trationen und ein Generalstreik geplant. Omar Radi ist freier Journalist und engagiert sich im M20F. Der 25jährige ist Mitglied von Attac und der Menschenrechtsorganisation Association Marocaine des Droits de l’Homme (AMDH). Er studierte Wirtschaftswissenschaften und Soziologie und wohnt in der Hauptstadt Rabat. Mit ihm sprach die Jungle World über die Einschränkung der Pressefreiheit unter dem Regime von Mohammed VI. und die Zukunft der Protestbewegung.

Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) urteilt, Marokko sei noch weit entfernt »vom Weg hin zur Demokratisierung«. Was sagen Sie dazu?
Ich denke, dass die internationalen NGO in ihren Einschätzungen sogar noch zu vorsichtig sind. Menschenrechtsaktivisten und Demonstranten, die die Wahrung der Menschenrechte fordern, Journalisten oder Künstler müssen noch immer ins Gefängnis und bekommen keine fairen Prozesse. Die Zahl der politischen Prozesse ist sogar weiter angestiegen.
Unter König Hassan II. in den neunziger Jahren war die ohnehin geringe Pressefreiheit sogar größer als jetzt. Das spürt man als Journalist, aber auch als Leser tagtäglich. Die marokkanische Presse wurde gezähmt und dem politischen Regime nutzbar gemacht.
Human Rights Watch schreibt, dass Journalisten nach wie vor Schikanen und Verfolgungen ausgesetzt sind, wenn sie gewisse Grenzen überschreiten. Sind Sie auch davon betroffen?
Wenn es beispielsweise um die Berichterstattung über soziale Bewegungen geht, werden marrokkanische wie ausländische Journalisten – ich mit eingeschlossen – von der Polizei belästigt, man verunmöglicht unsere Arbeit. Erstens hält man uns vom Geschehen fern, zweitens wird unser Material konfisziert und drittens werden wir belästigt. Ich erinnere mich an den 13. März vergangenen Jahres, anlässlich einer Demonstration des Mouvement du 20 Février in Casablanca: Viele Journalisten wurden geschlagen und von der Polizei angehalten. Das andere ist die Zensur, die in marokkanischen Presseerzeugnissen an der Tagesordnung ist. Heutzutage haben die Entscheidungsträger der Medienunternehmen so viel Angst um das Überleben ihres Magazins, ihres Radios oder ihrer Zeitung, dass sie ihre Journalisten davon abhalten, ihre Arbeit richtig zu verrichten. Sie ziehen es manchmal vor, über gewisse wichtige oder sensible Themen einfach zu schweigen.
Wurde die polizeiliche Repression gegen die Protestbewegung M20F intensiviert?
Das Ausmaß an Repression, mit dem wir beispielsweise im Mai des vergangenen Jahres als Aktivistinnen und Aktivisten des M20F in ganz Marokko konfrontiert waren, hatte man während des gesamten Jahrzehnts unter Mohammed VI. nicht gesehen. Antiterrorbrigaden wurden gegen junge pazifistische, unbewaffnete Aktivisten eingesetzt, um sie zu verprügeln. Zudem wurde versucht, die Aktivisten als Homosexuelle, Atheisten oder Anhänger der Frente Polisario (Widerstandsorganisation in der von Marokko besetzten Westsahara, Anm. d. Red.) zu diffamieren. Auch bezahlte Schläger, die Baltajis, werden gegen Aktivisten des M20F aufgehetzt. Es wird versucht, den Protest auf der Straße zu spalten.
Das Pressegesetz in Marokko untersagt unter anderem Äusserungen, die »den Islam als Re­ligion, das monarchische Regime oder die territoriale Integrität« gefährden. Rachid Nini, der meistgelesene Journalist in Marokko, sitzt seit Frühling 2011 im Gefängnis, weil er den Geheimdienst in Marokko kritisiert und dem Königshaus nahestehenden Personen Korruption vorgeworfen hat. Ist das ein Beispiel dafür, dass Kritik nach wie vor unmöglich ist?
In der konservativen marokkanischen Gesellschaft war es lange Zeit schwierig, Tabus wie sexuelle Orientierung, sexuelle Belästigung oder Gewalt gegen Frauen anzusprechen. Das wird jetzt mehr oder weniger toleriert, weil es viel gefähr­licher für das Regime ist, wenn das politische System kritisiert wird. Aber es gibt nach wie vor eine starke Überwachung und Zensur. Die journalistische Arbeit bleibt schwierig, manchmal ist sie unmöglich, weil Vergeltungsmaßnahmen zu befürchten sind.
Die marokkanische Pressegewerkschaft zeigt sich optimistisch, dass dank des neuen Kommunikationsministers Mostafa Khalfi, eines ehemaligen Journalisten, ein neues Presse­gesetz entstehen könnte. Sind Sie auch so optimistisch?
Es geht nicht darum, das Pressegesetz zu reformieren, das ganze Land muss reformiert werden. Diese Gewerkschaft ist keine Referenz in Sachen Meinungsfreiheit oder Verteidigung von Journalisten. Sie macht sich dem politischen Regime nutzbar.
Derzeit werden Journalisten nach dem Strafgesetzbuch und nicht nach dem Pressegesetz juristisch verfolgt. Eine echte Reform des Pressegesetzes setzt meiner Meinung nach eine politische Unabhängigkeit der Presseerzeugnisse inklusive Gewaltenteilung voraus. Zuerst muss das System richtig funktionieren. Ein kleine Reform des Pressegesetzes reicht also nicht, es braucht umfassende politische Reformen.
Sie schreiben oft für das Wochenmagazin Telquel, das als unabhängigstes Journal in Marokko gilt. Wie unabhängig ist Telquel denn wirklich?
Ich weiß es nicht. Da ich nicht an so etwas wie Objektivität glaube, denke ich, dass es etwas Unabhängiges nicht gibt. Telquel ist ziemlich unabhängig von Finanziers, dem politischen Regime und so weiter. Die Unabhängigkeit einer Zeitung, die sich als unabhängig betrachtet, kann man aber nicht messen, indem man ihre Taten betrachtet, die dem Regime missfallen. Ich als Leser möchte, dass ein Magazin wie Telquel beschreibt, was mir in diesem Land nicht gefällt. Und das ist nicht immer der Fall. Ein Magazin wie Telquel umgeht manches oder schweigt auch manchmal bei gewissen Affären. Das ist nicht sehr heroisch und auch kein Avantgardekampf, wie ihn die aktuelle Situation vielleicht verlangen würde. Doch grundsätzlich ist das, was die sogenannten unabhängigen Publikationen im Moment machen, nicht schlecht. Was die Journalisten betrifft, die versuchen, darüber hinauszugehen: Sie müssen ihre Arbeit als Kampf sehen, um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Und letztendlich muss man in einem Land wie Marokko als Journalist auch ein wenig Aktivist sein.
Sie sind auch Aktivist des M20F. Ist das Schreiben und Publizieren für Sie eine Art zu kämpfen?
In einem Land wie Marokko, in dem es viele Missstände, Probleme und Korruptionsfälle gibt, muss der Journalist dies anprangern.
In Telquel schrieben sie kürzlich die Titelgeschichte über Mouad al-Haked, den Rapper und Aktivisten des M20F, der wegen seiner politischen Meinung im Gefängnis war. Nun ist er wieder frei. Was bedeutet diese Haftentlassung für die Meinungsfreiheit in Marokko?
Das bedeutet nichts, außer dass die Meinungsfreiheit noch immer mit Füßen getreten wird und dass man noch immer dafür kämpfen muss. Es war einzig der gesellschaftliche und internationale Druck, der al-Haked aus dem Gefängnis holte. Und nicht etwa, dass sich das Regime seines Fehlers bewusst geworden wäre und sich dafür entschuldigen wollte. Dieses autoritäre Regime überlebt nur, wenn es die Bevölkerung ruhig hält, denn falls sie zu reden beginnt, gefährdet sie sein Überleben. Insofern wäre es widersinnig, wenn sich dieses Regime in eine demokratische Richtung entwickeln würde.
Ein Kampf, der sich schließlich radikalisierte, ist derjenige der diplomierten Arbeitslosen. Es werden immer mehr Selbstverbrennungsversuche verzeichnet, kürzlich gab es einen Toten in Rabat. Welche Perspektiven sehen Sie für diesen Kampf?
Die Selbstverbrennung ist nur eine von vielen Formen des verzweifelten Suizids. Wenn die Selbstverbrennung zu einer alltäglichen Protesttat wird, heißt das, dass die Verzweiflung größer wird, und Verzweiflung kann sich schnell in Wut wandeln.
Zwischen dem 20. Februar vorigen und diesen Jahres hat das M20F beispielsweise eindeutig an Größe, Effektivität und Kraft verloren, doch die Zahl der Kämpfe und Proteste in Marokko hat insgesamt zugenommen. Wir haben deutlich mehr Konfrontationen und Aufstände in den Regionen und Dörfern als in den Jahren vor 2011. Wir sehen eine kollektive Wut und die Zunahme der Solidarität zwischen den Bürgern und den Leuten auf der Straße, wie in Taza, Sidi Ifni oder im Rif. Alle haben ihr persönliches Motiv für Protest. Der Protest auf der Straße radikalisiert sich derzeit, weil sich der Autoritarismus des Regimes radikalisiert.
Zum einjährigen Jubiläum des M20F wird für den 19. Februar zu einem nationalen Marsch in Rabat aufgerufen. Ein Generalstreik ist für den 20. Februar vorgesehen. Nimmt der Protest in den nächsten Wochen weiter zu?
Auch wenn im Februar nichts Nennenswertes passiert und die Aktionen symbolisch bleiben, ist ein erneutes Anwachsen der Proteste zu verzeichnen. Die Leute werden sich immer mehr darüber klar, dass man sie durch das, was »da oben« passiert, betrügt, beraubt und demütigt. Das Regime macht derzeit nicht den Eindruck, als wolle es wirklich etwas verbessern, auch wenn die angekündigten Reformen die Bevölkerung vielleicht etwas beruhigen könnten.
Doch wenn dieses Jahr die Trockenheit anhält, dann wird die Situation eskalieren. Neben der Finanzierung durch den Internationalen Währungsfonds hängt das ökonomische Wachstum Marokkos von zwei Faktoren ab, von der Landwirtschaft und vom Tourismus. Die Touristen drohen dieses Jahr wegen der Krise auszubleiben. Und wenn es nicht regnet, dann bleibt auch die landwirtschaftliche Wertschöpfung aus. Wenn wir ein Wachstum von nur drei oder vier Prozent haben, dann ist das nicht genug, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dem IWF zufolge braucht Marokko die nächsten fünf Jahre ein Wachstum von mindestens sieben Prozent, um seine Probleme zu lösen. Das ist schlicht unmöglich.
All die Proteste, die wir derzeit in Marokko haben, der fehlende Wille seitens des Regimes, die Reichtümer gerecht zu verteilen und eine soziale Politik zu betreiben, und noch dazu die Weltwirtschaftskrise – ich denke nicht, dass das marokkanische Regime eine Chance hat, die Bevölkerung in absehbarer Zeit zu befrieden.