Die Berliner Eisbären

Ossis on Ice

Die Berliner Eisbären sind der erfolgreichste deutsche Eishockeyclub. Die Jungle World hat sie beim Training im »Wellblechpalast« in Hohenschönhausen besucht und mit Trainern und Spielern über die Geschichte und die Zukunft des Vereins gesprochen.

Hier heißt alles noch wie früher. Der »Wellblechpalast« liegt im Sportforum Hohenschönhausen, in dem Teil des Berliner Ostens, der immer noch wie der Berliner Osten aussieht.
Es ist nicht ganz der Ort, an dem man modernes und erfolgreiches Eishockey vermuten würde. Doch genau hier befindet sich das Trainingszentrum der Eisbären Berlin, deutscher Meister in den Jahren 2005, 2006, 2008, 2009 und 2011. Und gerade spielen die Eisbären wieder oben mit. Der Verein steht einerseits mit seinen 15 DDR-Meistertiteln für die Tradition und andererseits für den Profibetrieb mit dem Geld, das der US-Milliardär Philip F. Anschutz in das Team investiert.
Henry Haase ist 18 Jahre alt, er ist nach der Wende geboren, aufgewachsen in Hohenschönhausen, macht gerade sein Abitur und spielt seine erste Saison bei den Profis mit. Er ist unrasiert. »Ich habe noch alle Zähne«, sagt er und klopft auf die oberste Zahnreihe. Haase lümmelt sich auf eine Holzbank in der Vorhalle des »Wellblechpalasts«. Er blickt auf eine Glastür, auf der das Emblem des EHC Dynamo zu sehen ist: ein weinrotes, geschwungenes »D«. »Wellblechpalast« heißt die Halle mittlerweile offiziell. Früher war es ihr Spitzname – wegen ihres nicht sehr schmucken Dachs. »Anders als beim Fußball ist hier einfach mehr Zug drin«, sagt Haase. Und eigentlich hat er nie etwas anderes ausprobiert: »Eishockey spiele ich seit meinem vierten Lebensjahr, also seit 14 Jahren.«
Als Haase in Hohenschönhausen anfing, war Peter-John Lee schon da. »Alles habe ich hier schon gemacht: Spieler, Trainer, Manager, nur ums Eis habe ich mich noch nicht gekümmert«, erinnert sich Lee. Nun ist er Manager und gilt als Macher des Erfolgs. Er sitzt in der obersten Reihe des »Wellblechpalasts« und beobachtet das Training. Nebenher führt er Gespräche, liest Akten und gibt Interviews. Dass der 45jährige in England geborene Kanadier der Chef ist, kann jeder sehen. Gespielt hat Lee hier von 1995 bis 1997, dann war er drei Jahre Cheftrainer, und seit nunmehr elf Jahren führt er als Manager die Geschäfte. »Als ich kam, war es nicht besonders gut organisiert, aber es hatte Potential«, erinnert er sich. »1998 kam dann Anschutz – das war der entscheidende Dreh.«

Dem US-Milliardär Anschutz gehören die Eisbären und zu 70 Prozent auch der Ligakonkurrent Hamburg Freezers. Im US-amerikanischen Eishockey zählt das Team L. A. Kings, das in der National Hockey League (NHL) spielt, zu seinem Besitz. Ihm gehört außerdem der Fußballclub L. A. Galaxy, der immer noch die Rechte an David Beckham besitzt. Der Anschutz Entertainment Group gehört auch die O2-Arena, Berlins größte Veranstaltungshalle und Austragungsort der Heimspiele der Eisbären.
Der »Welli«, so nennt man hier den »Wellblechpalast«, sei schön, sagt Lee, »aber da passen nur etwas weniger als 5 000 Zuschauer rein«. Seit 2008 finden die Heimspiele in der O2-Arena statt, im Schnitt vor bis zu 14 000 Zuschauern. »Wir hatten Angst, ob das klappt«, sagt Lee und blickt über die alte Halle, als suche er dort die Bestätigung. »Aber nicht nur die alten Fans sind mitgezogen, wir haben auch neue gewonnen.«
Lee, der schon in der nordamerikanischen Profiliga NHL gespielt hat und in der Bundesliga bei der Düsseldorfer EG ein Star war, verkörpert die Ruhe bei den Eisbären. »Jetzt läuft es gut, aber wir brauchen Geduld«, sagt er. »Du musst drei, vier, fünf Jahre planen, wenn du Erfolg haben willst.«
Während er das sagt, beobachtet er den Trainingsbetrieb, den Don Jackson etliche Stuhlreihen unter ihm organisiert. »Ich plane so, dass wir in fünf Jahren wieder Meister sind.«
Im Jahr 2000 wurde Lee Manager der Eisbären, und 2005 war der Club erstmals deutscher Meister. Lees Fünfjahresplan hatte Erfolg. An vieren der mittlerweile fünf Titel war Don Jackson beteiligt: einmal als Assistenztrainer, seit 2007 als Cheftrainer.

Jackson hat kleine Augen, die eng zusammenstehen. So aufmerksam fixiert er seinen Gesprächspartner, dass man glauben könnte, die Augen seien im Laufe seines Trainerlebens enger aneinandergerückt. »Ich war ein Meistermacher, und in diesem Jahr will ich wieder einer werden«, sagt er und grinst.
Peter-John Lee ist der Stratege, der in Jahren denkt. Don Jackson ist der Taktiker, dem das nächste Spiel immer das wichtigste ist. »Man kann nie sagen, wie die Zukunft im Sport aussieht«, sagt Jackson, der in der NHL mit den Edmonton Oilers neben dem legendären Wayne Gretzky zweimal den Stanley Cup gewann. »Man kann nur jeden Tag arbeiten.«
Auf dem Eis, bei der täglichen Trainingsarbeit, nimmt sich Jackson seine Spieler genau so vor: Er baut sich vor ihnen auf, schaut sie eindringlich an und fordert alles von ihnen. Jede Geste verrät den Profi, da stört auch Jacksons holpriges Deutsch nicht. »Wir ham fünf Tor geschießen«, sagt er. Oder »Pipi«, wenn er »Powerplay« meint.

Sollte Jackson mal zu streng zu den Jungs sein, gibt es immer noch Hartmut Nickel. »Ich bin so eine Hausmeistertype«, sagt der 67jährige. Sein rundes Gesicht bestätigt die Selbsteinschätzung. Offiziell ist Nickel Co-Trainer, »aber ich mache auch ein bisschen Management mit«. Seit 1963 ist er im Verein, und er hat Zeiten erlebt, die selbst ein Peter-John Lee nicht planen könnte.
Als es mit der DDR zu Ende ging und sich die Wiedervereinigung abzeichnete, war Hartmut Nickel Cheftrainer des EHC Dynamo in der DDR-Oberliga. Diese bestand nur aus Dynamo Berlin und Dynamo Weißwasser und war die kleinste Liga der Welt. »Am 9. November 1989 haben wir hier in der Halle ein Meisterschaftsspiel gegen Weißwasser gehabt«, erinnert sich Nickel an den historischen Tag, »danach sind wir in die Kantine gegangen, wir wollten was essen und haben erfahren, dass die Grenze auf war.«
Noch als die DDR existierte, im Mai 1990, beschloss der westdeutsche Verband, dass die zwei DDR-Clubs in der ersten Bundesliga mitspielen durften. »Wir waren talentiert, hatten eine junge Mannschaft, das wussten wir«, sagt Nickel. »Aber die Wettkampfhärte, zwei Spiele am Wochenende, die hatten wir nicht.« Nickels Dynamos stiegen ab. Für sie war kein Platz im Deutschland der frühen Neunziger.
»Es gab immer ›Stasi‹-Rufe, und wir spielten ja anfangs auch ziemlich erfolglos.« Die Sportvereinigung Dynamo gehörte in der DDR zur Polizei und zur Staatssicherheit. Der DTSB, der Sportdachverband der DDR, hätte die Eishockeyspieler am liebsten aus der Förderung geworfen: Zu teuer und zu erfolglos seien sie, und sie würden die Eisfläche belegen, auf der die Schnellläufer und die Tänzer trainieren sollten, die wenigstens mit Olympiamedaillen den Ruhm der Republik vermehrten. Doch der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, war ein großer Eishockeyfan und sorgte dafür, dass der Sport halbwegs gut gefördert wurde. Als die beiden Dynamo-Clubs in die Bundesliga aufgenommen wurden, wurden die Spieler- und Trainergehälter noch vom DDR-Innenministerium bezahlt. Die ostdeutsche Tageszeitung Sport-Echo lästerte damals, »dass die Ausrüstung der Spieler aus einem Sportmuseum oder gar dem Kostümverleih« stammen könne.

Für Westprofis war die Berlin-Weißwasser-Dynamo-Oberliga ein bizarrer Kosmos. Trainer Jackson, der die große Eishockey-Welt der NHL kennt, erzählt von einem Besuch im sächsischen Weißwasser. »Ein Open-Air-Stadion für 12 000 Zuschauer!« grinst er und schüttelt den Kopf. »Very beeindruckend.« Dass es bis zu seinem Abriss 2011 »Wilhelm-Pieck-Kunsteisstadion« hieß, benannt nach dem ersten Präsidenten der DDR, erwähnt Jackson gar nicht. Aber seine Erfahrung im frisch wiedervereinigten Deutschland möchte er, der aus Minnesota stammt, nicht missen. »Ich bin sehr glücklich, dass ich mit den Eisbären noch die großen Zeiten im ›Welli‹ erlebt habe.« Und dann erzählt er von einem Artikel, den er vor drei Jahren in der New York Times gelesen habe. »Da stand, wie Eishockey geholfen hat, die Mauer in den Köpfen abzureißen und die deutsche Einheit zu verbessern.«
Damit Mielkes Lieblingssportler aber diese gesamtdeutsche Mission erledigen konnten, musste Dynamo erstmal wieder aufsteigen. Nickel und den Eisbären, wie sie seither heißen, gelang 1992 der direkte Wiederaufstieg. Und als 1994 die Bundesliga zur DEL wurde, zur Liga der Proficlubs, waren die Eisbären wie selbstverständlich dabei. Dem alten DDR-Konkurrenten aus Weißwasser hingegen wurde die Lizenz entzogen.
Ausgerechnet der neoliberale Kapitalismus hat den Eisbären geholfen, und zwar in Gestalt des Bosman-Urteils von 1995. »Dadurch kam unser Erfolg«, sagt Hartmut Nickel. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, dass Ablösesummen nach Vertragsende ungültig sind, konnten die Eisbären plötzlich gute Ausländer verpflichten. »Die waren nicht mehr so teuer wie vorher«, sagt Nickel.
Am Image der Eisbären als Ost- oder gar als Stasiclub änderte das aber nichts. »Ost-, Ost-, Ostdeutschland!« riefen die Fans, oder »Wir holen den FDGB-Pokal«. Wenn es gegen den Westberliner Club ging, die »Preussen«, die sich später »Capitals« nannten, kam es sogar zu Schlägereien. »Klassenkampf im Berliner Eishockey«, diagnostizierte 1992 sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Im Westen, bei den »Preussen«, stünden »Luxuslimousinen Stoßstange an Stoßstange«, doch im Osten, da »rumpeln die Fans noch mit der Straßenbahn« zu ihren Stars.
Doch mit Anschutz kam das Geld, mit dem Geld der Erfolg, und mit dem Erfolg wurde die DDR-Folklore weniger wichtig. Heutzutage achten die Fans auf verbale Mäßigung. »Alle Anwesenden waren sich einig, dass eine der vorrangigsten Aufgaben dieser Saison ist, die unsäglichen ›Scheiß-West-Berliner‹-Rufe aus der Kurve wieder rauszukriegen«, heißt es im Protokoll des Fan-Stammtischs vom September 2011.
Seit 2003 spielt Stefan Ustorf bei den Eisbären. »Dass ich damals zu einem kleinen Ostclub gekommen wäre, kann man wirklich nicht sagen«, meint er unwirsch. »Diese Zeiten sind doch wohl schon längst vorbei.« Mit dem gebürtigen Berliner Sven Felski zusammen gehört der 37jährige Ustorf zu den Publikumslieblingen bei den Eisbären. Und wenn er lacht, errät man schnell seinen Beruf. Nicht nur wegen seiner fehlenden vorderen Zahnreihe gehört Ustorf zu denen, die schon manchmal auf der Straße erkannt werden. »Mich fasziniert die Stadt Berlin«, sagt er, der schon in der NHL, bei den Washington Capitals, gespielt hat. Erst vor einem Jahr ist er vom Stadtrand in die City gezogen. Ustorfs Kollegen passiert es hingegen selten, dass sie auf der Straße oder im Restaurant angesprochen werden. Florian Busch, immerhin auch Nationalspieler, war neulich ganz begeistert, als ihn ein Wärter kostenlos ins Alte Museum schleuste – der Mann war Fan der Eisbären und hatte ihn erkannt.
Buschs kostenloser Ausflug in die Berliner Hochkultur bedeutet aber nicht, dass Eishockey zum sicheren Bestand der Stadt gehören würde. Der deutsche Meister hat trotz Besucherrekorden und der großen Popularität Schulden. Pro Saison macht er ein Minus von 2,1 Millionen Euro. Das hat jüngst die Berliner Morgenpost behauptet, und so richtig glaubwürdig dementieren kann dies beim Club niemand. »Die Eisbären haben den Vorteil, dass die Halle den Eisbären gehört«, sagt Manager Lee, doch das ist nicht ganz die Wahrheit. Denn nicht dem Verein, sondern Philip Anschutz gehört die O2-Arena. Diesen Einwand wischt Lee weg: »Hauptsache, es bleibt in der Familie.« Und er fügt eine Regel hinzu, die er aus dem amerikanischen Eishockey kennt: »Die Halle verdient das Geld, nicht der Club.«

Die Arena wirtschaftet wirklich erfolgreich: Es kommen Stars wie Herbert Grönemeyer, Rihanna oder Bob Dylan. Die Basketballer von Alba Berlin tragen hier ihre Heimspiele aus, und Vitali Klitschko hat hier auch schon geboxt. Diese gute Bilanz beruht jedoch auch darauf, dass die Eisbären eine überhöhte Miete an die Betreiber zahlen. So können diese ihre Kredite bedienen, und das schneller erwirtschaftete Geld fließt über die Anschutz Entertainment Group wieder in den Club zurück.
Alle könnten zufrieden sein, wären da nicht die Fans. Die hatten sich im Januar 2009 sogar zu einer Demonstration gegen die hohen Preise und das schlechte Essen in der Arena zusammengefunden. »Ohne Fans keine Stimmung«, schrieben sie auf Transparente – und hatten damit Recht: Die Eishockey-Fans sind es, die für regelmäßige Einnahmen sorgen. Und sie geben der Arena auch ein Profil: Dort spielt der beste deutsche Eishockeyclub, dort war die Ost-West-Grenze, und ganz in der Nähe ist die Warschauer Brücke, wo Abend für Abend und Nacht für Nacht Horden feiernder junger Leuten entlangziehen. Die Lage der Arena zeigt, dass das Image der Eisbären nicht mehr so eindeutig ist, wie noch zu den Zeiten des »Wellblechpalasts«. Jung, urban, szenig? Ostig, prollig, piefig? Oder reich, aufgesetzt und ein profitabler Teil der Anschutz Entertainment Group?
Hartmut Nickel sagt: »Wir sind eine ostdeutsche Marke. Es kommen auch Berliner aus dem Westteil, aber die werden keine Fans der Eisbären, die wollen nur gutes Eishockey sehen.« Die meisten Tickets verkauft der Club in Ostberlin, in Brandenburg, in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Viele gehen über die Lidl-Discounter weg. Auf den Rängen hängen Transparente, auf denen »Ost-Block Stendal« oder »Böse Ossis« steht. Und das Eisbärenlied kommt von der DDR-Band Puhdys.
Sascha ist Eisbären-Fan und kommt aus dem Westen der Stadt. »Ich brülle da nicht mit, aber mich stört’s auch nicht«, sagt er zu den »Dynamo«-Sprechchören. Sabine, ein anderer Fan, ergänzt: »Mich stört’s auch nicht, aber ich bin ja auch Ossi.«
Die Zukunft der Eisbären sind Spieler wie Henry Haase, geboren nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung. »Gute deutsche Profis sind wichtig für ein Team«, sagt Don Jackson. Doch Haase sagt: »Mein Ziel ist die NHL.« Auch sein Trainer Jackson attestiert ihm NHL-Potential. »Er hat einen guten Überblick im Spiel, große Spielstärke und ist ein großes Talent.« Aber, fügt Jackson hinzu, das hätten viele. »Die NHL sucht von der Einstellung her große Typen.« Doch die Frage ist: Wie viele große Typen gibt es eigentlich noch in Hohenschönhausen?