Rückwärts Dessau
Den »Alltagsrassismus der Mitte« zu benennen – das war das Anliegen von etwa 30 jugendlichen Mitgliedern der Initiative »Aufklärung und Transparenz«, die am Dienstag vergangener Woche das Rathaus von Dessau-Roßlau für mehrere Stunden besetzten. Als »falschen Weg für öffentliche Aufmerksamkeit« und »völlig inakzeptabel« bezeichnete der parteilose Oberbürgermeister Klemens Koschig die Besetzung in einer Pressemitteilung, der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht (CDU), verurteilte sie gar »aufs Schärfste«. Erklärtes Ziel der Besetzer war es, eine Aufklärung des Angriffs der Polizei auf die Demonstration im Gedenken an Oury Jalloh Anfang Januar zu erzwingen und rassistische Zustände in der Stadt zu thematisieren.
Die Besetzer forderten unter anderem die Veröffentlichung der Polizeivideos von der Demonstration sowie die Anhörung der verletzten Demonstranten vor dem Innenausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt. Letzteres wurde bisher von den Ausschussmitgliedern mehrheitlich abgelehnt. Immerhin sollen die Videos nun auf der nächsten Sitzung des Ausschusses behandelt werden, wie Gudrun Tiedge (Linkspartei), Mitglied des Ausschusses, auf Nachfrage der Jungle World mitteilte. Frank Hoffmann, Landtagsabgeordneter der Linkspartei aus Dessau-Roßlau, äußerte in einer Mitteilung Verständnis für die Besetzung und prangerte »die Halbherzigkeit im Umgang mit dem Thema« an. Die Initiative resümierte in einer Nachbetrachtung, dass mit »Kundgebungen, Demonstrationen oder einer Aktion vor der Friedensglocke« diese Aufmerksamkeit »niemals erreicht« worden wäre.
Die Demonstration am 7. Januar stand am Anfang einer Kette von Ereignissen, die der Stadt erneut ungewollte Aufmerksamkeit bescherten. Seit sieben Jahren findet an diesem Tag in Dessau die Demonstration zum Gedenken an Jalloh statt, einen Asylbewerber, der im Jahr 2005 in einer Polizeizelle verbrannte. Dem Polizeibericht zufolge entzündete Jalloh, der an den Gliedmaßen fixiert war, seine Matratze selbst – eine Darstellung, die viele für unglaubwürdig halten. »Oury Jalloh, das war Mord« lautet deshalb schon seit Jahren die zentrale Parole einer Kampagne für die Aufklärung des Falls.
In diesem Jahr jedoch teilte die Polizei dem Anmelder der jährlichen Demonstration, Mouctar Bah, mit, dass diese Aussage nicht mehr geduldet werde. Dafür suchte sie ihn bereits zwei Tage zuvor an seinem Arbeitsplatz auf. »In Sachsen-Anhalt gibt es ein Bedrohungspotential für Migranten durch die Polizei«, empört sich Komi Edzro von der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh«. Er berichtet der Jungle World von rassistischen Polizeischikanen, die er und sein Freund Bah in Sachsen-Anhalt erlebten. Die jährliche Gedenkdemonstration am 7. Januar war zwar bisher immer friedlich verlaufen, in diesem Jahr eskalierte die Situation aber: Beamte versuchten, das Tragen von Transparenten mit der unerwünschten Parole zu verhindern und griffen die Demonstranten an. Unter den Angegriffenen war auch der Anmelder Bah, der von Polizisten so schwer verletzt wurde, dass er vier Tage im Krankenhaus verbringen musste. Edzro spricht von einem »Barbarismus« der Polizei, seine Initiative fordert wegen der Vorfälle den Rücktritt des Dessauer Polizeipräsidenten Kurt Schnieber.
Nach der Demonstration kam eine Diskussion um die Parole in Gang. Mit einem Brief wandte sich Innenminister Stahlknecht Mitte Januar an die Beamten in Sachsen-Anhalt. Darin äußerte er allgemeines Verständnis für sie, erklärte jedoch auch, man sei »verpflichtet, diese freie Meinungsäußerung zuzulassen und hinzunehmen«. Die Beamten dürften sich »nicht provozieren lassen«, so Stahlknecht. Eine Parole als Provokation der Polizei? Dirk Vogelskamp vom »Komitee für Grundrechte und Demokratie« bezweifelt dies, seines Erachtens ging die Gewalt von der Polizei aus.
Vogelskamp verfolgt die Auseinandersetzungen um den Fall seit mehreren Jahren. Sein Komitee wandte sich nach der Polizeigewalt gegen die Demonstration am 7. Januar mit einem offenen Brief an den Innenminister und forderte eine Aufklärung der Ereignisse. Die Rathausbesetzung findet Vogelskamp »okay«, er stört sich vielmehr an der öffentlichen Fokussierung auf eine Gewaltdebatte, mit der antirassistische Initiativen in einen »Gewaltnebel hineingedrängt« würden. Die Rathausbesetzer wiederum weisen darauf hin, dass neonazistische Umtriebe in der Stadt weitestgehend geduldet würden, sie fordern eine Distanzierung der Stadt von rassistischen Demonstrationen und ein Ende der Kriminalisierung von Migranten. Zu den Geschehnissen und Forderungen wollte sich der Dessauer Integrationskoordinator Daniel Müller nicht äußern.
In dieser angespannten Atmosphäre kam es am 16. Januar zu einer folgenschweren Messerattacke auf Andreas Schubert, einen Fußballspieler und Jugendtrainer beim ASG Vorwärts Dessau. Schubert wurde von einem Asylbewerber lebensgefährlich verletzt. Durch dieses Ereignis wurde die rassistische Stimmung in Dessau-Roßlau weiter angeheizt. Noch am selben Abend demonstrierten etwa 300 Personen, vorwiegend aus dem Umfeld des Fußballvereins, das in Antifa-Kreisen einschlägig für Überschneidungen mit der rechtsextremen Szene bekannt ist. Nicht nur in der Fangemeinde finden sich viele rechte Hooligans und Neonazis, sondern ebenso im Verein selbst. Die Gruppe »No Nazis Dessau« benennt auf ihrer Website gleich mehrere Rechtsextreme, die in dem Verein aktiv waren oder sind.
Für den 21. Januar wurde dann erneut über soziale Netzwerke und rechte Internetseiten zu einer Demonstration aufgerufen. Diesmal distanzierten sich der Verein wie auch Schubert selbst von dem Aufmarsch und rieten von einer Teilnahme ab. Bis zuletzt blieb unklar, ob die Demonstration stattfinden würde, da keine Anmeldung vorlag. Schließlich sammelten sich erneut etwa 350 Menschen, darunter mindestens 70 »autonome Nationalisten« und Neonazis. Der Aufmarsch, der an die rassistische Hetze der vorangegangen Demonstration anknüpfte, wurde von Ronny B. angemeldet, einem ehemaligen Mitglied von Vorwärts Dessau, der wegen eines brutalen Angriffs auf vier Menschen bereits einmal zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war. An diesem Angriff war auch Mike M. beteiligt, der »No Nazis Dessau« zufolge noch heute beim Verein spielt.
Als »traurige Realsatire« bezeichnet Steffen Andersch vom Netzwerk »Gelebte Demokratie« die Tatsache, dass Ronny B. eine Demonstration »gegen Gewalt« angemeldet habe. Andersch berichtet, dass dieser sich während seiner Zeit in Österreich für die neonazistische FPÖ engagiert habe und noch heute in Fankreisen des Vereins aktiv sei. Die Distanzierung des Vereins bewertet Andersch als »reines Lippenbekenntnis«, seines Erachtens habe eine »konsequente Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus« niemals stattgefunden. Doch auch das Netzwerk musste sich Kritik aus der linken Szene gefallen lassen, nachdem es eine Gegenveranstaltung auf Anraten der Stadt abgesagt hatte und damit eine hektische Demobilisierung auf antifaschistischer Seite auslöste. Dabei erfolgte die Absage unter der Zusicherung der Stadt, dass auch die Demonstration der Neonazis nicht stattfinden werde. Letztlich begann die Demonstration der Nazis jedoch an dem Ort, an dem die abgesagte Gegenveranstaltung geplant gewesen war.
Dieser Vorfall ist bezeichnend für die Situation in Dessau. Menschen, die sich antirassistisch engagieren, gelten als Unruhestifter, während die Polizei – als Protegé der Innenpolitik – von Kritik ausgenommen wird und sich ein rassistischer Mob weiter austoben darf. Dass dies Wut erzeugt, findet Edzro verständlich. »Viele Leute haben die Nase voll«, sagt er. Dies gilt teilweise auch außerhalb Dessau-Roßlaus, ist die Stadt doch zu einem Synonym für »ostdeutsche Zustände« geworden. Und wenn in dieser Woche das Revisionsverfahren im Fall Jalloh weiter verhandelt wird, wird auch dies kaum dazu beitragen, dass die Stadt aus den Schlagzeilen kommt.