Barrie Koskys Inszenierung von Brechts »Die sieben Todsünden«

Sieben dunkle Jahre überstehen

Barrie Kosky inszeniert Bertolt Brechts »Die sieben Todsünden« in der Komischen Oper in Berlin.

Bertolt Brecht und Kurt Weill haben wieder Konjunktur auf den Bühnen. Theater- und Opernhäuser setzen auf die Werke der längst zu Klassikern gewordenen Künstler, um sich als kritische Bühnen zu profilieren. Sogar die Wiener Staatsoper hat ihrer betuchten Klientel unlängst »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« als antikapitalistischen Premierenschocker zugemutet. An der Komischen Oper Berlin ist der aus Australien stammende Barrie Kosky, der designierte Intendant des Hauses, nun einen anderen Weg gegangen. Er entdeckt in seinen »Sieben Todsünden« eine Seite von Brecht und Weill, die einen eher an den verlorenen Wanderer aus Franz Schuberts »Winterreise« denken lässt als an aktuelle Börsenkurse.
Dabei ist sein Zugang einfach und klar. Im Grunde ist jede Bühne eine nach vorne offene Kiste, in der die Phantasie des Autors zum Leben erweckt wird. Peter Brook sagte, Theater brauche nicht mehr als diesen leeren Raum. Ein Mann geht hindurch, und ein anderer sieht ihm dabei zu. In der Komischen Oper ist es eine Frau, die im leeren Raum steht, tanzt und singt. Dagmar Manzel braucht kein Bühnenbild, keine Requisiten und keine Memorabilien des Brecht-Theaters. Allein mit ihrer Stimme, ihrem Spiel und dem Licht eines Scheinwerfers als einzigem Begleiter erweckt sie alle Stationen des Werks zum Leben.
Es ist eigentlich ein ganz kleiner Traum, für dessen Verwirklichung Anna von ihrer Familie ausgeschickt wird, um Geld zu verdienen: ein Haus in Louisiana. So muss sie sieben Jahre durch sieben Städte ziehen und versuchen, als Tänzerin zu Geld zu kommen. Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid – Brecht hat die sieben Stationen von Annas Reise mit den sieben Todsünden überschrieben. Doch vom Tod sind diese Sünden weit entfernt: Wenn es um den eigenen Vorteil geht, dürfen sie auch zu Tugenden erklärt werden. Am Ende erreicht Anna ihr Ziel: »Jetzt kehren wir zurück in unser kleines Haus am Mississippi-Fluss«. Doch ob sie glücklich ist? Ihre Persönlichkeit ist ambivalent, weshalb Brecht die Figur für eine doppelte Besetzung anlegte, Anna I und Anna II, dargestellt von einer Sängerin und einer Tänzerin. Eine Anna ist zielstrebig und kalt, die andere sensibel und liebevoll. Die eine ganz Vernunft, die andere gänzlich Ware. »Der gute Mensch von Sezuan« ist hier schon angelegt. In Berlin verkörpert Dagmar Manzel beide Teile dieser Persönlichkeit, vereint die Splitter wieder in einem Körper und führt zusammen, was Annas Leidensweg getrennt hat.
Weill schrieb sein »Ballett mit Gesang« im Jahr 1933. Gerade erst Hals über Kopf vor den Nazis geflüchtet, erhält er in Paris den Auftrag, ein Stück für die Kompanie »Les Ballets 1933« zu schreiben. In knapp einem Monat entstand ein Werk, das zum letzten Mal zwei Künstler zusammenbrachte, die Theatergeschichte schrieben: Brecht verfasste noch einmal ein Libretto für Weill, bevor beide nach Amerika emigrierten. Und auch das Scheidungsverfahren zwischen Lotte Lenya und Kurt Weill lief bereits, als die Sängerin neben der Tänzerin Tilly Losch als Anna die Bühne betrat. Zur Aufführung gelangte ein Stück, das beißende Schärfe, aber keine einfachen Antworten bietet, eine Auseinandersetzung mit traumhaften Sehnsüchten und utopischen Hoffnungen.
An diesem Punkt trifft sich nun, knapp 80 Jahre später, Barrie Kosky mit Brecht und Weill. Dabei ist dies eine Paarung, die alles andere als nahe liegt. Pathos und Emotionalität, Musikalität und eine Liebe zur Unterhaltungskunst, ein wildes Mischen von Ernstem und Heiterem kennzeichnen Koskys Theater. In einem Interview sagte er einmal: »Ich gehe nicht ins Theater, um das wirkliche Leben zu sehen.« Sein Publikum solle einen »Schlag in die Eingeweide« empfinden, eintauchen in ein »Meer aus Emotionen«. Anlässlich seiner »Medea« schrieb er: »Ich glaube an die Kraft von Gefühlen«. Die Zuschauer sollten »gleichzeitig und gleichermaßen denken und empfinden«. Wie passt das zu Brecht, dem das Empfinden immer suspekt blieb und der mit seinem epischen Theater jede Einfühlung doch eigentlich verhindern wollte?
Schon vor einigen Jahren warf Kosky einen ungewohnten Blick auf Brecht und Weill. 2008 inszenierte er »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« in Essen und verwandelte dieses etwas veraltet wirkende Stück Kapitalismuskritik zu einer Revue über die Sehnsucht nach einem utopischen Ort. Ein Ganoventrio gründet mitten in der Wüste die Stadt Mahagonny, in der alle Bedürfnisse befriedigt werden sollen. Angesichts eines drohenden Sturms gilt die Losung: Alles ist erlaubt, solange man bezahlen kann. Als der Sturm vorbeizieht, kommt es zum Desaster: Anarchische Zustände führen zum Untergang der Stadt. Exodus, Apokalypse und Ausschweifungen – bei Kosky und Weill, dem Kantorensohn, durfte man hier durchaus an das Alte Testament denken. »Es sind die Bücher Mose, die von den Marx Brothers gespielt werden«, sagte der Regisseur über das Werk, das er eine »jüdische Volks­oper« nannte. Es zeige die Sehnsüchte verlorener Menschen nach einer Utopie. Und hier liegt die Verbindung zu den »Todsünden«.
Den Weg zum kleinbürgerlichen Paradies eines eigenen Hauses hat Kurt Weill in faszinierende Musik mit Adaptionen populärer Musikformen gekleidet, die Kristiina Poska und das auf der Bühne platzierte Orchester der Komischen Oper genussvoll auskosten. Kosky stellt diesem Werk noch sieben weitere Weill-Songs voran, von Dagmar Manzel nur mit Klavierbegleitung vor dem Vorhang gesungen, die einen Vorgeschmack auf die Gefühlswelt seiner Protagonistin geben. Er selbst nennt sie Postkarten, die Anna an sich selbst schreibt, bevor für die »Todsünden« der Vorhang aufgeht und der Brief geöffnet wird.
Weill steht für Kosky auf einer Ebene mit Franz Schubert und Robert Schumann. Indem er den Komponisten wieder enger an diese großen Liedkomponisten heranführt, befreit er ihn aus dem Korsett einer zumeist nur irgendwie antikapitalistischen Lesart. Die Wunden, die das Leben in der von Brecht und Weill gezeigten Gesellschaft schlägt, zeigt er einzig und allein über seine Hauptfigur. Politisch ist das allemal.
Doch Kosky hat noch einen anderen Bezugspunkt genannt: Becketts »Glückliche Tage«. Wie die im Sand versinkende Winnie blickt auch seine Anna monologisierend auf ihr Leben zurück. Vielleicht kommt ihr Gesang gar aus dem Jenseits, wie der Epilog mit der »Ballade vom ertrunkenen Mädchen« nahelegt. Suchend, tastend öffnet sie im Laufe des Abends die Türen zu ihrer Vergangenheit. Ein wenig erinnert das an die Figur der Judith in Bartóks Oper »Herzog Blaubarts Burg«, die Kosky vor kurzem in Frankfurt inszeniert hat. Judith öffnet mit den sieben verschlossenen Türen der herzoglichen Burg auch ein Tor zur verstörenden Vergangenheit ihres Geliebten. In Berlin entblößt Dagmar Manzel als Anna ihre eigenen Geheimnisse, ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Wunden. Und das ist vielleicht noch schmerzhafter.
Termine unter www.komische-oper-berlin.de

Jürgen Bauer ist Verfasser des Buches »No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky« in der Edition Steinbauer.