Mark Greif im Gespräch über das Potential sozialer Bewegungen in den USA

»Bubby, diese ›Occupy‹-Leute sind wie ich!«

Als Kritiker von Gentrifizierung, Hipstertum und Deregulierung wurde der US-amerikanische Kulturtheoretiker Mark Greif auch in Deutschland bekannt. Die Jungle World sprach mit ihm über die Forderungen der »99 Prozent«, die Perspektiven des Protests, den Vorwurf der verkürzten Kapitalismuskritik und die Rolle der sozialen Netzwerke für die Bewegung.

Sie kritisieren eine Tendenz zur »totalen Ästhetisierung unserer Lebenswelt«. Was verstehen Sie darunter?
Ich verstehe Ästhetizismus als eine philosophische Doktrin, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist und die dafür sorgt, dass wir unser Leben als ein Kunstwerk begreifen, das wir entwerfen und gestalten. Durch diese Ästhetisierung werden die Emotionen und Leidenschaften, die wir eigentlich mit Kunst verbinden, auf die gesamte Lebenswelt übertragen. Unser tägliches Leben ist voll von Geschichten und Erzählungen, die unablässig auf uns einströmen, auch in ruhigen Momenten: Berichte über uns unbekannte Menschen in Zeitungen und im Radio, fiktive Lebensgeschichten im Fernsehen, Anekdoten über Freunde und die Darstellung unseres eigenen Lebens, ganz so, als seien wir Hauptdarsteller in einem Hollywood-Film. Wir nennen das »Kultur«, um uns nicht eingestehen zu müssen, wie sehr die Welt mit »Kunst« – sei sie gut oder schlecht– tapeziert ist. Ästhetisierung bezieht sich heute einerseits auf die Welt der Waren, andererseits aber auch auf die Welt unserer Erfahrungen.
Zuweilen erinnert Ihr Konzept der »totalen Ästhetisierung« an die Analysen Herbert Marcuses: eine eindimensionale Gesellschaft, die sich vermittels des technischen Apparats durchsetzt. Sie formulieren in ihren Essays so etwas wie eine Kritik moderner Medien und Technologien.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle sagen, dass »Ästhetisierung« nicht notwendigerweise etwas Negatives ist – dort, wo sie abstumpft und krank macht, ist ihre totale Entfaltung das Problem, nicht die Ästhetisierung selbst. In einer von Unterdrückung und brutalem Wettbewerb befreiten Gesellschaft würden wir mit Sicherheit einen großen Teil unserer Zeit auf das Ästhetische verwenden, und warum auch nicht? Schließlich wären an diesem Punkt einige Widersprüche zwischen Ästhetik und Ethik aufgehoben.
Geht es nun darum, wie bestimmte Technologien uns prägen, so ist es wichtig, zu differenzieren. Einerseits stimmt es, dass jede neue Technologie auf ihre Art unser Erleben und Wahrnehmen verändert. Und sicherlich kann jede Technologie auch in repressiven Zusammenhängen genutzt werden. Ich verstehe Marcuse aber nicht so, dass Technologie im Kapitalismus grundsätzlich Unterdrückung in sich birgt – vielmehr ist es die Art, wie sie heute eingesetzt wird, in einem System der Industrie und des Geldes. Wenn wir allerdings die herrschende Ideologie darüber, »wofür Technologie da sein soll«, durchbrechen könnten, dann hätten wir uns schon von sehr vielen kapitalistischen Werten freigemacht, von Gier und Ausbeutung.
Sie sehen in den neuen Medientechnologien durchaus auch ein progressives Potential?
Ja. Nehmen wir zum Beispiel Youtube. Jeder kann dort banale, gewöhnliche Aufnahmen hochladen oder ansehen, in denen Menschen ihre unterschiedlichen Talente – Singen, Tanzen, sogar Lachen! – zur Schau stellen. Außerdem ist Youtube so etwas wie ein Archiv für die teuren flüchtigen Bilder des Fernsehens. Darin liegt das progressive Potential, auch wenn kommerzielle Inhalte, wie teure Musikvideos etwa, immer mehr die Überhand zu gewinnen scheinen.
Es ist zunächst also gar nicht meine Fragestellung, ob Technologien »neutral« oder »kapitalistisch determiniert« sind. Mir scheint eine Unterscheidung in »kostenintensiv« und »erschwinglich« sinnvoller. Ganz einfach ausgedrückt: Wie viel Geld braucht man, um ein bestimmtes Kommunikations- oder Ausdrucksmittel nutzen zu können? Ein Film kostet Millionen. Aus diesem Grund habe ich nie große Hoffnungen darauf verschwendet, dass uns das Kino helfen könnte. Es ist bis heute nicht möglich, echtes Kino von ganz unten zu machen, Dokumentarfilme vielleicht einmal ausgenommen. Um mit deiner Band ein Album aufzunehmen, benötigst du lediglich ein paar Instrumente und ein Aufnahmegerät. Um zu schreiben, brauchst du einen Stift und Papier. Deshalb verbinde ich bis heute die Kraft der Veränderung eher mit Musik und Worten.
In den vergangenen Monaten haben Sie »Occupy Wall Street« in New York als Chronist begleitet und gelten als ein Fürsprecher der Bewegung. Besitzen die erschwinglichen Technologien ein besonderes politisches Mobilisierungspotential, eben weil sie für jeden nutzbar sind?
»Occupy« hat einen Freiraum geschaffen, der es einem ermöglicht, man selbst zu sein, sich künstlerisch zu betätigen, und sich gemeinsam mit anderen für eine gerechte Sache einzusetzen. Anstatt nur den Konflikt mit der Polizei und der Staatsgewalt zu suchen, was ja mitunter die Hässlichkeit der Verhältnisse auf eine Bewegung zurückwirft, geht es »Occupy« darum, die Vision einer besseren Welt tatsächlich umzusetzen. Die Bewegung hat die neuen Techniken der Selbst­inszenierung – sich zu fotografieren, sich zu filmen, sein Leben live zu übertragen und zu ästhetisieren – besonders geschickt im Sinne von Demokratie und Gerechtigkeit genutzt. Und zwar immer in Bezug auf einen realen Ort, einen Park, ein Camp, einen offenen, einladenden Raum.
Man konnte abends die Versammlung per Livestream von seinem Schlafzimmer aus ansehen und dann am nächsten Abend mit der U-Bahn genau an den Ort fahren, wo sich alle trafen, um mit dabei zu sein, sich ihnen anzuschließen und vielleicht wiederum für andere Menschen in deren Schlafzimmern sichtbar zu sein. Das war Reality-TV, wie es sein sollte, das wirkliche Reality-TV. Zum ersten Mal brachten die Medien mir mein Leben nahe, anstatt mich von ihm zu distanzieren.
Bei aller inhaltlichen Unklarheit – begreifen Sie »Occupy« eher als reformistische oder ­revolutionäre Bewegung? Welche konkreten Forderungen gibt es tatsächlich?
Die unmittelbaren politischen Forderungen der Bewegung sind reformistisch. Aber natürlich ist meine Einschätzung dadurch beeinflusst, dass ich mich selbst als Reformisten bezeichnen würde. Ich denke, die Revolutionen von 1776 und 1789 waren genug für eine Nation wie die Vereinigten Staaten. Jede fortschrittliche »Revolution« seither, zum Beispiel die Befreiung der Afroamerikaner und die Gleichberechtigung der Frauen, sind auch ohne die Etablierung eines ganz neuen politischen Systems ausgekommen. In den besten Phasen der amerikanischen Geschichte haben die fortschrittlichsten Züge des Sozialismus Eingang in Politik und Gesellschaft gefunden. Was »Occupy« betrifft, stehen das Handeln und die Organisation im Zentrum der Bewegung ganz klar im Zeichen revolutionärer Ideen. Und solange Menschen dadurch an ihre Macht des Widerspruchs und an die Möglichkeit, selbstbestimmt in einer selbstbestimmten Welt zu leben, erinnert werden – solange ist das auch meine Revolution. Wobei ich mir nicht einmal sicher bin, ob nicht auch meine Vorstellung einer Umverteilung des Eigentums in der heutigen Gesellschaft durchaus als revolutionär gelten könnte.
Ihrem Ideal eines staatlich regulierten Kapitalismus könnte man entgegenhalten, dass Staat und Kapital notwendig miteinander verstrickt sind. Sind niedrige Sozialleistungen nicht auch darauf zurückzuführen, dass Staaten in der internationalen Konkurrenz bestehen wollen? Liegt dem Ideal der Regulierung also nicht letztlich die moralische Vorstellung eines »guten Staates« und einer »ausbeuterischen Wirtschaft« zugrunde?
Regulierung begreife ich als Mechanismus, der es ermöglicht, ökonomischen Wettbewerb relativ human zu gestalten, indem Regeln vereinbart werden, die alle Wettbewerber einzuhalten haben. Die Bestimmung eines Mindestlohns, fester Urlaubsanspruch, Regeln, die faire Verträge und fairen Warentausch garantieren, und so weiter – all dies gehört zur Sphäre ständig modifizierter Rechtsprechung und Gesetzgebung. Keine Handel treibende Gesellschaft hat jemals existiert, in der nicht der Markt durch den Staat reguliert wurde. Beide Sphären hängen notwendig zusammen. Unser Problem ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Regulierung nicht den Armen, sondern den Reichen dient.
Sehr viel schwieriger wird es allerdings, wenn das Ziel globaler Gerechtigkeit mit den Anforderungen eines Nationalstaats konfrontiert ist, zuerst den eigenen Bürgern Sicherheit und Wohlstand zu garantieren. Sicherlich stimmt es, dass Staaten sich selbst und anderen Staaten mitunter Schaden zufügen, wenn sie als Vertreter ihrer Gesamtökonomie im internationalen Wettbewerb agieren.
»Occupy« versteht sich als internationale Bewegung. Es gibt Bezugnahmen auf die Bewegungen in Ägypten, Spanien und anderswo. Was sind hier die Gemeinsamkeiten? Was würde es bedeuten, wenn auch nur die moderatesten reformistischen Forderungen im Weltmaßstab umgesetzt würden? Wie sollte ein kapitalistisches System funktionieren, wenn ein Großteil der Menschheit nicht in krasser Armut und totaler Einflusslosigkeit leben würde?
All diesen Bewegungen ist gemeinsam, dass sie unmittelbar den Menschen verpflichtet sind. »Government must be of the People, by the People, and for the People«, um einen der schönsten Sätze Abraham Lincolns zu paraphrasieren. Jedenfalls bestehen die Menschen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise an jedem dieser Orte auf ihr Recht der Mit- und Selbstbestimmung. Die Bevölkerung steht einer korrumpierten Ökonomie gegenüber.
Was den zweiten Teil der Frage angeht, ist es zuallererst wichtig, den Begriff »Kapitalismus« zu bestimmen. Steht er für die Korruption des Handels, der Wirtschaft, der sozialen Verhältnisse und des sozialen Miteinanders? Oder wird damit die grundsätzliche Aktivität des Tausches bezeichnet, die genau so wichtig und zentral für unser Leben sein kann wie etwa Gemeinschaftlichkeit, Liebe, Individualität und so weiter? Ich weiß es wirklich nicht. Jedenfalls glaube ich nicht, dass Tausch und Wettbewerb notwendigerweise Verarmung und Verelendung bedeuten – vor allem nicht dann, wenn neben der Wirtschaft ein stabiles Sozialsystem existiert. Aber sicherlich ist so ein Modell nicht einfach auf die ganze Welt zu übertragen, die Menschen müssen selbst entscheiden, was sie wirklich wollen und brauchen.
»Occupy« ist vorgeworfen worden, eine verkürzte Kapitalismuskritik zu üben, die die Banken angreife, die Produktionssphäre aber unberücksichtigt lasse, und damit strukturell antisemitisch sei. Es gab auch Berichte von offenem Antisemitismus auf Demonstrationen in Deutschland.
Ich bin natürlich sehr sensibel, was Antisemitismus angeht, weil ich selbst jüdisch bin. In meiner Zeit mit »Occupy« in New York habe ich nie etwas mitbekommen, das sich für mich wie Antisemitismus angefühlt hat. Viel eher fällt mir dazu ein, wie viele meiner jüdischen Bekannten an den Protesten teilgenommen haben. Aber es war schon lustig: Als ich nach Hause kam und mit meiner Großmutter telefonierte, warnte sie: »Sei vorsichtig, die Leute von ›Occupy‹ sind Antisemiten!« Denn meine Großmutter, ihr Leben lang Demokratin, ist heute mehr oder weniger in ihrem Haus mit dem Kabelfernsehen gefangen und schaut Fox News. Und ich sagte ihr dann: »Bubby, diese ›Occupy‹-Leute, das sind Leute wie ich!«
Eine Debatte über die Trennung von Finanz- und Produktionssphäre und den damit zusammenhängenden Antisemitismus ist mir in den USA in Bezug auf »Occupy« nicht geläufig.
Sie wenden sich in Ihren Essays gegen Rassismus und Diskriminierung. Bedeutet der »Occupy«-Slogan, der auf 99 Prozent der Bevölkerung setzt, nicht aber zwangsläufig, auch die Rassisten einzuschließen?
Eigentlich haben Sie natürlich Recht. Und trotzdem scheint mir die Botschaft von »Occupy« in der Realität davon nicht beeinflusst. Man ist in den USA so selten mit Rassisten konfrontiert, dass die Idee zunächst einmal fernliegt, die Formel der 99 Prozent würde auch sie einschließen. Und natürlich würde jede rassistische Äußerung bekämpft werden und unmittelbar zum Ausschluss aus der Bewegung führen. Außerdem geht es bei Occupy zunächst um den gemeinsamen Protest gegen ökonomische Ungerechtigkeit und um die Forderung nach mehr Bürgerrechten – was die Menschen sonst denken, danach wird erst einmal nicht gefragt. Aber vielleicht kann ich so auch nur argumentieren, weil offener Rassismus in den USA so stark tabuisiert ist, dass davon kaum etwas zu spüren ist – außer interessanterweise in den Reden der republikanischen Präsidentschaftskandidaten, wie beispielsweise Newt Gingrich.
»Occupy« wendet sich an die breite Masse. Als Kulturkritiker setzen Sie Ihre Hoffnungen eher auf das Abseitige. Sie haben den modernen Hipster beispielsweise dafür kritisiert, dass er die Subkultur in den Mainstream trägt. In Ihrem Essay »Rappen lernen« scheinen Sie sich nun über den HipHop auch im Kulturellen dem Mainstream zuzuwenden.
Das besondere Potential von HipHop liegt darin, dass er eine Kunstform ist, die unglaubliche technische und intellektuelle Fähigkeiten erfordert. HipHop ist von einer größeren Tiefe als beinah alle anderen Künste, die mit Sprache zu tun haben. Und doch ist er eine Ausdrucksform der Armen und Unterdrückten. Er zeigt die Fehler einer Gesellschaft, die Genialität zur Armut verdammt und die Dummheit und die schlechte Sprache der reich Geborenen honoriert. Diese gesellschaftliche Kluft steckt tief im HipHop und macht ihn so lebendig. Aber ich will Punk und Post-Punk nicht aufgeben. Ich denke lediglich, dass wir der Popmusik in gewissen Zeiten generell eine zu große Bedeutung im Hinblick auf ihr subversives Potential beigemessen haben. Und das wiederum hat ihre tatsächliche Bedeutung unterminiert. Pop bringt keine politischen Emotionen hervor, aber er kann dazu beitragen, dass sie am Leben bleiben – er ist ein Medium, um Gedanken aufzuzeichnen und sich mit anderen zu verbinden.
Es ist also nicht das Subversive, auf das ich hoffe, jedenfalls ist es für mich kein Selbstzweck, danach zu suchen. Was mich reizt, ist das Gewöhnliche, das Alltägliche, wenigstens dann, wenn diese Alltäglichkeit nicht durch die offizielle oder Mainstream-Kultur anerkannt ist, beispielsweise weil sie Effizienzkriterien widerspricht, unwirtschaftlich ist, sich nicht einordnen lässt, oder weil sie repressive Kategorien sprengt. Mit ihrem Schicksal und ihren Möglichkeiten allein gelassen, werden die Leute einige ziemlich verrückte Sachen machen. Je größer die Menge von Menschen ist, denen du Aufmerksamkeit schenkst und denen du zuhörst, desto mehr verrückte Dinge wirst du zu hören bekommen – und das ist eine gute Sache.