Homophobie in Tunesien

Über Sex lässt sich streiten

Auch nach den ersten freien Wahlen gibt es in Tunesien nach wie vor Angriffe auf Homosexuelle. Die homophobe Gesetzgebung wurde noch nicht geändert. Engagierte LGBT kämpfen weiter – und wollen sich ihre neugewonnenen Freiheiten nicht nehmen lassen.

Die Anwältin tippt unaufhörlich auf ihrem Laptop. »Die sexuelle Orientierung ist ein Menschenrecht, das hat die Uno unmissverständlich im Juni 2011 festgestellt«, schreibt sie auf Französisch. Drei Männer und eine Frau steuern ihre Gedanken bei. Sie haben sich in dem Café eines Off-Theaters in der Innenstadt von Tunis getroffen, um eine Erwiderung auf die Äußerungen Samir Dilous zu schreiben, des tunesischen Ministers für Menschenrechte. Das Mitglied der Partei al-Nahda sagte, Homosexualität sei eine Perversion, die therapiert werden müsse. Der Islamist möchte zudem ein kurz nach der Revolution entstandenes Schwulenmagazin verbieten.
Das Café ist ein stadtbekannter Treffpunkt für Schwule und Lesben. Hohe Fensterscheiben machen die ehemalige Lagerhalle zu einem lichtdurchfluteten Ort – zugleich machen sie ihn einsehbar. Im vorderen Bereich wird gearbeitet, auf fast jedem Tisch steht ein Laptop, Bücherregale vermitteln Studienatmosphäre. Im Thea­terraum weiter hinten ist das Licht schummerig, in beiden Räumen sind die Tische voll besetzt. Einige Menschen tragen Lederkluft, andere eine schicke französische Schirmmütze, milchbübische Jungs und viele Frauen mit kurzen Haaren sitzen herum. Vor allem fällt auf, dass Männer und Frauen entspannt miteinander umgehen, man kennt sich, schlendert von Tisch zu Tisch, vergibt Küsschen.
Doch so offen dieser Ort auch ist, die Gesellschaft ist es nicht. »Niemand sagt seiner Familie, dass er schwul ist«, erzählt Housam, ein 19jähriger Student. »Die wenigsten meiner Freunde wissen es.« Zudem ist Homosexualität verboten. Gleichgeschlechtlicher Sex kann mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden.
»Es gibt gelegentlich Ermittlungen«, erzählt Hassen. Der 28jährige Mann arbeitet für eine Organisation, die sich um HIV-Infizierte kümmert. »Unter Ben Ali hat uns auch die Geheimpolizei verfolgt. In Chatforen haben sie sich als Schwule ausgegeben und Treffen vereinbart.« Ironischerweise seien diese Spitzel von derselben Abteilung gewesen, die Islamisten aufspüren sollte.

Mit der Revolution hat die LGBT-Community ihren eigenen Frühling erlebt. Im März erschien erstmals das Online-Magazin Gayday. Dienstag-, freitag- und samstagabends senden Aktivistinnen und Aktivisten eine einstündige Radiosendung im Internet. Es gibt online ein »Lesbisches Tagebuch« und ein Netzwerk für LGBT. Allerdings sind all diese Projekte nicht registriert. Da in Tunesien trotz der Revolution die alten Gesetze gelten, bedürfen Organisationen und Medienprodukte weiterhin einer Anmeldung. Online-Medien werden in den Gesetzen aber nicht erwähnt. Die Regierung nahm daher bisher keine Notiz von den Online-Aktivitäten der LGBT-Community.
Doch nun hat ein populärer Boulevardjournalist sie entdeckt. Samir Wefe postete das Cover von Gayday auf seiner Facebook-Seite und schrieb: »In einem konservativen Land, dessen Bewohner im Angesicht eines Kampfes zwischen Moderne und Tradition stehen, wagt es ein Magazin für Schwule zu erscheinen und fordert Regeln, Moral und Traditionen heraus. Brauchen wir einen weiteren Konflikt wegen einer sehr kleinen Minderheit, die ihre Perversion veröffentlicht, ohne Rücksicht auf die heiligen Gefühle der Mehrheit?« 75 000 Personen gefiel das auf Facebook. Viele hinterließen Kommentare, in denen sie gegen Schwule hetzten.
Am 4. Februar fragte Wefe in seiner Talkshow den Minister für Menschenrechte nach seiner Meinung zu Gayday und ob »Perverse« ein Recht auf Meinungsfreiheit hätten. »Meinungsfreiheit hat Grenzen. Sie leben als Bürger in unserem Land, aber sie müssen die rote Linie unserer Religion, unseres Erbes und unserer Zivilisation respektieren«, antwortete Dilou. Er sei gegen ein solches Magazin, auch wenn er der Minister für Menschenrechte sei. Sexuelle Perversion sei kein Menschenrecht, sondern müsse behandelt werden.
Hassen lacht, wenn er darüber spricht. »Das sind Streitthemen«, sagt er. »Alles steht gerade in Frage.« Außerdem habe der Minister schon ein paar Tage später auf einer Konferenz behauptet, er habe nie etwas gegen Homosexuelle gesagt. Hassen sieht den Vorfall als gute Gelegenheit, das Thema in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Housam pflichtet ihm bei: »Es ist Zeit, Tabus zu brechen. Wir schockieren die Menschen. Aber wenn man schockiert, ändern sich die Dinge.«

In Tunesien tobt seit vergangenem Sommer ein Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen. Erst kam der Wahlkampf, dann das Wahlergebnis, nun die Konsolidierung von Regierung und Opposition. Die islamistische Partei al-Nahda ist aus den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober mit 37 Prozent der Wählerstimmen als stärkste Partei hervorgegangen. 60 Prozent gingen an säkulare, zumeist Mitte-Links-Parteien. Mit zweien davon, der sozialdemokratischen al-Takatol und dem linkszentristischen »Kongress für die Republik«, bilden die Islamisten nun eine Koalitionsregierung.
Während die wirtschaftliche Lage Tunesiens desolat ist und die Bevölkerung vor allem über »die Krise« klagt, wird in den Medien um Identitätsfragen gerungen. »Es geht immer um die Frage: Bist du für den Islam oder dagegen?« erläutert Hassen. Dazu gehöre auch das Verhältnis zu Israel. Die Regierung lud im Januar den Vorsitzenden der palästinensischen Hamas, Ismail Haniya, nach Tunis ein. Doch kurz darauf fragten Journalisten empört, ob der Vorsitzende der al-Nahda, Rachid al-Ghannouchi, eine Normalisierung mit Israel anstrebe. Anlass war, dass er auf seiner Reise in den USA einem israelischen Journalisten eine Frage beantwortet hatte.
Doch Sex ist als Streitthema noch beliebter. Vergangene Woche wurden sechs Journalisten verhaftet, weil die Zeitung Al-Tounissia ein Foto des deutsch-tunesischen Fußballers Sami Khedira mit seiner nackten Freundin nachgedruckt hatte. Erschienen war das Bild zuerst als Titelfoto des deutschen Männermagazins GQ. Andere Journalisten erhielten Morddrohungen von Islamisten.

Im Wahlkampf bezeichneten Islamisten das Wahlbündnis »Pôle Democratique Moderniste« als Schwulen- und Prostituiertenpartei, weil ­darin auch Anwältinnen kandidieren, die sich für die Rechte dieser Personengruppen stark machen. »Die Linken werden keine Partei für uns ergreifen«, sagt Hassen, »weil sie dann sofort attackiert werden.« Housam ist indes überzeugt, dass die linken Parteien Rechte für Homosexuelle im Prinzip befürworten. »Man kann nicht links sein und dagegen«, sagt er. Vor den Wahlen habe es im Internet einen »Wahl-O-Mat« gegeben, berichtet er, einen Online-Fragebogen, der ermitteln sollte, wie nah die eigene politische Meinung der verschiedener Parteien ist. Das Projekt wurde unter anderem von der deutschen Regierung finanziert. Die letzte Frage lautete, ob man für oder gegen Rechte für Homosexuelle sei. »Nur al-Nahda hat das abgelehnt. Die anderen waren unentschieden«, sagt Housam.
Ein Treffen mit Vertretern der regierenden Sozialdemokratischen Partei bestätigt das. »Homosexualität ist ein Tabuthema«, sagt Mohamed Ben Nour, Pressesprecher der al-Takatol, zur Jungle World. »Wir haben nichts dagegen, aber in der Öffentlichkeit kann man das nicht sagen.« Der Parteivorsitzende Mustapha Ben Jafaar habe vor den Wahlen geäußert, alle Menschen seien frei in der Wahl ihres Lebensstils. »Das hat uns viele Stimmen gekostet«, glaubt Ben Nour.
Aber wie auch beim Thema Israel werden die Islamisten Opfer ihrer eigenen Agitation. Im Januar gab es einen Skandal um ein Youtube-Video, das den Innenminister Ali Larayedh von der Partei al-Nahda angeblich beim Sex mit einem Mann zeigt.