Die Ausstellung »Warhol: Headlines« in Frankfurt

Der 15-Minuten-Mann

In der Ausstellung »Warhol: Headlines« vereint das Museum für Moderne Kunst alle Arbeiten des Künstlers, in denen er sich mit Massenmedien auseinandersetzt.

Schlagzeilen vom 18. Februar 2012: Frankfurter Rundschau: »Gesucht: Ein Präsident ohne Freunde«. Taz: »Das Amt hat seine Würde zurück«, darunter ein Foto von Horst Seehofer, der vorübergehend die Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten übernimmt. Am 17. Februar um 11 Uhr hatte Christian Wulff seinen Rücktritt erklärt. Selbstverständlich setzen die Tageszeitungen voraus, dass ihre Leser längst von diesem Rücktritt erfahren haben, wenn sie darüber berichten. Die Schlagzeilen vermelden nicht mehr die Nachricht, sie kommentieren sie auf mehr oder weniger witzige Weise. Keine Zeitungsredaktion wäre auf die Idee gekommen, ein Extrablatt zu produzieren, um die Rücktrittsnachricht zu verbreiten.
Zu Andy Warhols Zeiten gab es Extrablätter, als die Kennedys ermordet wurden. Der Griff nach dem Extrablatt, der Blick auf die Schlagzeile, ist ein Schlüsselmoment in vielen Spielfilmen, der Augenblick einer öffentlichen Kollektiverfahrung, der geteilte Schock. Jeder Amerikaner, der alt genug ist, weiß, wo er war, als JFK erschossen wurde. Jeder Amerikaner, der alt genug ist, weiß, wo er war, als die Türme fielen, aber diese Ereignisse wurden schon über das Internet, Fernsehen und Handy kommuniziert.
Das Extrablatt ist aus unserem medialen Alltag verschwunden wie das Telegramm aus dem Kommunikationsrepertoire. Auch das schöne Wort »Revolverblatt« ist aus der Mode gekommen. Gekommen sind andere. Was hätte Andy Warhol (»In Zukunft wird jeder 15 Minuten weltberühmt sein«) mit Facebook angefangen? Oder nicht angefangen? Solche Fragen stellt man sich in der Frankfurter Ausstellung »Headlines« im Museum für Moderne Kunst. Die Schau zeigt Arbeiten Warhols, die sich mit Massenmedien und dem damit verbundenen Phänomenen des Starkults beschäftigen.
»I believe media is art« ist einer dieser Sätze Warhols, die heutzutage so klingen, als seien sie schon immer dagewesen. Wie die Brillo-Schachteln, die Elvisse, die Suppendosen, die Marilyns. Und seine Bearbeitungen von Zeitungstitelblättern: »129 Die In Jet« auf dem New York Mirror vom 4. Juni 1962, ein Flugzeugwrackteil ragt schräg in die Luft. New York Post am 9. Juli 1985: »Madonna on nude pix. So what«. Nein, sie schämt sich nicht für ihre Nacktfotos. Daneben ein Foto des Traumpaars Madonna und Sean Penn, Unterschrift: »Staying cool«. Warhol überschreibt den Zeitungstitel, den New York Post-Schriftzug streicht er mit Edding durch, die Headline wird grün unterlegt, und dann sind da noch diese kindlich gezeichneten Figuren, die schon bald zur Trademark von Keith Haring werden sollten. 1985 ist Warhol der größte Künstler des Planeten, er fördert Leute wie Haring oder Jean-Michael Basquiat, nicht gönnerhaft protegierend, sondern produktiv, man arbeitet zusammen. Ein Jahr später überschreiben Sonic Youth, Warholiker vor dem Herrn, die Warhol/Haring-Überschreibung des New York Post-Titels für ihr Bandprojekt Ciccone Youth. Immer wieder die Dead Kennedys: JFK & Jackie in Dallas, der offene Wagen, die Bilder nach den Schüssen. Man kennt das alles und schaut doch hin, als könne man neue Details entdecken, wenn Warhol ein Negativ auf Acetat zeigt, Schlagzeilen neu montiert, zerschneidet, nachzeichnet, gerne mit falscher Orthographie. Bewusst? Oder war er Legastheniker? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum?
Die frappierendste und zugleich aufschlussreichste Arbeit hängt in einem Korridor zwischen zwei Räumen des labyrinthisch wirkenden Museums. Es ist die Vergößerung des Titelblatts der New York Post vom 23. Februar 1987. »Andy Warhol dead at 58«, schreit die Schlagzeile. Daneben ein Foto: der stoische Warhol mit verschränkten Armen vor seiner Marilyn. »Prince of pop art who turned a soup can into museum treasure – life and times of a media genius, see pages 4, 5, 9, 16«. Den unteren Teil des Titelblatts nimmt ein Paparazzifoto ein. Der klassische Schuss von draußen in den Fond einer Limousine zeigt eine stahlend lächelnde Jerry Hall neben einem Mann, der flehentlich die Hände gen Himmel reckt und so einen Teil seines ohnehin von einer großen Sonnenbrille verhüllten Gesichts verdeckt. Müsste Mick Jagger sein, ergänzt der Text die Bildinformation: »Jubilant Jagger’n’Jerry set the date – at last.« Wow, dürfte Warhol gedacht haben, die Nachricht von meinem Tod verdrängt die Hochzeitsankündigung von Hall und Jagger. Das vergrößerte Abbild der Zeitung mit der Todesnachricht von Andy Warhol entsteht ohne das Zutun des Künstlers, dennoch betrachten wir den Zeitungstitel als Werk des Künstlers Andy Warhol. Er hat dem Bild post mortem seine Signatur verliehen, mit dem Signaturbild »Andy vor Andy’s Marilyn«. Ja, könnte das Paparazzifoto nicht auch noch auf sein Konto gehen? Und die Rock’n’Roll-mäßige Alliteration: »Jubilant Jagger’n’Jerry«? Wie so oft bei Warhol stellt sich die Frage nach der Autorschaft, respektive: stellt Warhol die Frage nach der Autorschaft, respektive: stellt Warhol die Autorschaft in Frage.
Das Bild gehört dem »Andy Warhol Museum« in Pittsburgh, Warhols Geburtsstadt, allerdings ist auch überliefert: »I am from nowhere«. Dort, im Museum, nicht im Nirgendwo, ist vieles von dem zusammengestellt, was der leidenschaftliche Sammler Warhol selbst gesammelt hat, Zeit seines Lebens. Eintrittskarten, Rechnungen, Werbeflyer, Briefumschläge, Postkarten, Alltagskram und immer wieder Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, alles verpackt in Umzugskartons. 611 solcher Kartons mit bis zu 250 Gegenständen darin hat Warhol bis zu seinem Tod angehäuft, die notorischen »Time Capsules«. Unter diesem Titel zeigte das MMK Frankfurt bereits 2003 eine Auswahl der kartonierten Archive. Die Facebook-Timeline avant la lettre. Der Künstler als Zeit­sammler, diese Idee greift die aktuelle Schau auf. Neben den von Warhol bearbeiteten, verfremdeten, übermalten Headlines lagern in Schaukästen Originalvorlagen, vergilbte Zeitungen, alte Illustrierte. Eine ganze Wand mit alten Ausgaben der Bunten, inklusive der Männerfreundschaft zwischen Andy und Hubert – Burda sah in der Bunten eine deutsche Antwort auf Warhols Interview, so viel zu deutsch-amerikanischen Missverständnissen. Warhol montiert Bunte-Titel zu einer BRD-Chronik: »Adieu Romy«, »Curd Jürgens – ein Kerl wie Samt und Seide«, aber auch »Dianas Märchenhochzeit«. Ganz groß: Larry Hagman mit fiesem J. R. Ewing-Grinsen und Tirolerhut, von Warhol in kaltes Weiß-Rot getaucht.
Im Auge des Betrachters verschwimmen Original und Fälschung zum Gesamtkunstwerk, der Künstler wird zum Autor als Sammler. Und zu Gegenstand wie Material seiner eigenen Kunstproduktion. Gerade so wie der Warholiker Thomas Meinecke in seinem Roman »Lookalikes« auf Seite 95: »Thomas Meinecke ist jetzt eine Romanfigur.« Um zehn Seiten später seiner Romanfigur Erdmute Wagenbach eine Warhol-Erkenntnis zu gönnen: »Dass das Original auch als Ableitung der Kopie zutage treten kann, wurde Erdmute in den USA bewusst, als sie zum ersten und bislang einzigen Mal vor einer echten Brillo Box stand.«
Das Echte? »I fake it so real, I am beyond fake«, singt Courtney Love in »Doll Parts«. Warhol hätte seinen Spaß an ihr gehabt, wie auch an dem warholistischen Geschöpf Lady Gaga mit seinem der Factory nachempfundenen, dann aber doch so gegenwärtigen House Of Gaga. Fragen nach dem echten, dem authentischen Warhol wehrte er stets ab mit dem Hinweis auf die Oberfläche, die doch alles verrate. Den Wunsch der Medien, hinter diese Oberfläche zu schauen, konterte er mit habituellem Stoizismus, Silberperücke, Make-Up.
Die tradierte Vorstellung vom Künstlergenie und seiner Originalität unterläuft er mit seinem Beharren auf das Konstruierte und das Serielle. Statt aus dem eigenen Genius zu schöpfen, bearbeitet er Vorgefundenes: »Henry Geldzahler brachte mich auf die Death-and-Desaster-Serie. Wir saßen an einem Sommertag beim Mittagessen bei Serendipity an der East 60th Street und er legte die Daily News auf den Tisch. Die Schlagzeile lautete ›129 die in jet‹. Das brachte mich auf die Todesserie: die Car Crashes, Disasters, Electric Chairs.« Das Schönste an diesem Katalogzitat aus Warhols eben wiederaufgelegtem Buch »POPism« (zum Supermarktpreis von 14.95 Euro!) ist der Name des Restaurants. Serendipity – »eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist«, ist auf Wikipedia zu lesen. Serendipity beim Mittagessen im Serendipity, was hätte Warhol mit dem Internet angefangen? Da findet man ständig, was man nicht sucht, und sucht weiter Ungesuchtes. Das stoische Zulassen von Kontingenz & Serendipity, verbunden mit einem unbedingten Ja zur modernen Welt, macht Warhol selbst zum Medium seiner Zeit, er spiegelt sich in der Gegenwart und ist selbst ihr Spiegel, bei den Headlines mal Rückspiegel, Zerrspiegel, Hohlspiegel usw.…
Selbstverständlich hat auch die New York Post vom 4. Juni 1968 ihren Platz in der Ausstellung. »Andy Warhol fights for life«, titelt das Blatt nach dem Attentat von Valerie Solanas. Die Künstlerin war gekränkt von Warhols Ignoranz gegenüber ihrer Arbeit und hatte in der Factory aus nächster Nähe auf ihn geschossen. Nicht ohne ihre Tat zu einem künstlerisch-feministischen Akt aufzuwerten, indem sie gleich das Manifest der Gruppe S.C.U.M. hinterherschickte – »scum« bedeutet »Abschaum«, bei Solanas steht das Wort für »Society For Cutting Up Men«. Könnte Warhols Erfindung sein. »Ich war die Schlagzeile der New York Daily News – ›Actress shoots Andy Warhol‹ – auf den Tag genau sechs Jahre nach der Katastrophenschlagzeile vom 4. Juni 1962, ›129 die in jet‹, von der ich einen Siebdruck gemacht hatte.« Dank der beinahe tödlichen Schüsse ist Warhol endlich auch Headline, Objekt öffentlicher Begierden.
Das Künstlersubjekt und gleichzeitige Kunstobjekt Warhol stellt nicht nur einen neuen Künstlertypus dar – unter anderem fungierte der Nichtmusiker als Produzent von Velvet Underground. Er nimmt auch vieles vorweg, was heute mediale Routine ist. »Schon bevor auf mich geschossen wurde, dachte ich immer, ich sei eher halb als ganz da – im Grunde spürte ich, dass ich immer nur Fernsehprogramme anschaute, anstatt richtig zu leben. Manche Leute sagen, dass das, was im Film passiert, unwirklich sei, aber tatsächlich ist es so, dass das, was mir im Leben passiert, unwirklich ist. Im Film sehen die Gefühle immer so stark und echt aus, aber wenn dir selber etwas passiert, kommt es dir vor, als sähest du alles nur auf dem Bildschirm – und du fühlst rein gar nichts. In dem Moment, als mich die Kugeln trafen, bzw. von diesem Moment ab, war mir klar, dass ich ein Fernsehprogramm sah.«
Der Katalog zitiert auch den Ausspruch Warhols, wonach »TV und Leben sich gegenseitig entrealisieren«. Ist er auch noch der Erfinder von Scripted Reality? Was er wohl zum »Bachelor« gesagt hätte?

Warhol: Headlines. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt. Bis 13. Mai