Hat das Camp von »Occupy London« vor dessen Räumung besucht

Die City schlägt zurück

Schon seit Wochen war das Camp von »Occupy London« von der Räumung bedroht. Anfang dieser Woche setzten britischen Polizisten der Besetzung mitten in der City nach vier Monaten ein Ende. Kurz vor der Räumung besuchte die Jungle World das Zeltlager vor der St. Paul’s Cathedral und sprach mit dem britischen Philosophen Mark Fisher über die Formen und die Inhalte der »Occupy«-Bewegung.

»Das ist viel zu teuer, ich kenne eine Buslinie, die nur die Hälfte kostet.« Ein Mann mit spanischem Akzent und Fidel-Castro-Barett erhebt laut seine Stimme, als eine Frau die Zugkosten nach Cambridge auflistet, wo ein Gesandter aus London einen Vortrag zur Lage der Londoner »Occupy«-Bewegung halten soll. Zustimmendes Gemurmel erfüllt den Raum. »Sind alle dafür, dass wir die Kosten übernehmen?« wirft der Moderator in die Runde. Das Raunen wird von hochschnellenden, flach nach außen gekehrten Handinnenflächen ergänzt. Es sieht so aus, als würden sich alle gegenseitig zuwinken. Das tun sie selbstverständlich nicht. Die Geste soll Zustimmung bedeuten, erklärt ein lässiger Typ mit Dreadlocks. Die »Occu­py«-Bewegung hat ein eigenes Zeichensystem entwickelt. Die geballte Faust soll beispielsweise Ablehnung signalisieren, während ein krallenartiges Handzeichen für Klärungsbedarf steht.
Der nächste Punkt auf der Tagesordnung betrifft die Erstattung der Kosten für eine Taxifahrt, die jemand in der Nacht zuvor zur Polizeiwache unternehmen musste. Nicht alle sind damit einverstanden, die 18,50 Pfund zu übernehmen. »Ich sehe nicht ein, warum wir auch noch die zwei Becher Kaffee bezahlen sollen«, meldet sich jemand zu Wort. Wieder wird abgestimmt: »Wer ist dagegen, dass wir, abzüglich des Kaffees, 15,30 Pfund übernehmen?«
Immer wieder geht es ums Prinzip. Gerade angesichts der beißenden Kälte scheint sich die Zeit ins Unendliche zu dehnen. Dennoch sitzen die meisten der etwa 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Versammlung geduldig auf ihren Plätzen, knistern mit Essig-Chips-Tüten, schreiben Notizen oder tippen hastig in ihre Handys. Die Diskussion findet in einem provisorisch aufgebauten Pavillon statt, der »Tent City University«. Die zuständige Arbeitsgruppe diskutiert in der Generalversammlung über die Finanzen von »Occupy London«. Den meisten anwesenden Personen sieht man an, dass sie bereits länger an der Besetzung beteiligt sind, dass sie viele Nächte bei Minusgraden im Zelt geschlafen und an langen, zermürbenden Diskussionen teilgenommen haben. Viele tragen zerfledderte Handschuhe, Mützen und festes Schuhwerk. Drinnen ist es nur drei Grad wärmer als draußen, aber die Debatte ist hitzig. Jeder darf sprechen, alles soll nach einem strikt basisdemokratischen Prinzip funktionieren. Ein Diskussionsleiter bemüht sich sichtlich angestrengt um die gerechte Verteilung der Wortmeldungen.

Draußen strahlt die Sonne auf die Kuppel der altehrwürdigen Londoner St. Paul’s Cathedral. Sie wirft einen langen Schatten auf die bunten Zelte, die den Protestierenden länger als vier Monate als Schlaf- und Arbeitsstätte dienten.
Anfang dieser Woche wurde das Camp geräumt. In dieser Zeit mussten Touristen vorsichtig mit ihren Kameras durch das Zeltlager schleichen, wenn sie eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Londons besichtigen wollten. Auch Gruppen von Anzugträgern kreuzten die Wege derjenigen, die für eine kostenlose Mahlzeit an der Küche des »Occupy«-Camps Schlange standen. Die Geschäftsleute gehen hier zum Mittagessen in die nahegelegenen Bars und Cafés, in denen sie eingeschweißte Sandwiches und Plastikflaschen aus dem Kühlschrank holen und sich zum Essen auf einem der schwarzen Ledersofas niederlassen.
Die Räumung des Camps wurde am vergangenen Dienstag durchgeführt, nachdem in der Woche zuvor die zuständigen Richter den Berufungsantrag gegen den Räumungsbefehl abgelehnt hatten. Damit setzte sich die »City of London Corporation« durch, deren Anwälte vor Gericht argumentiert hatten, das Zeltlager ziehe »Unordnung und Kriminalität« an.
Kay ist es besonders wichtig, dass es mit »Occupy« irgendwie weitergeht, denn er ist obdachlos. Deshalb zeigt er sich auch angesichts der Räumung zu­versichtlich: »›Occupy‹ steht für Ideen, wir versuchen gerade, einen neuen Ort zu finden.« Dann beginnt er, ein wenig von sich zu erzählen: »Voriges Jahr hatte ich noch eine Wohnung und lebte ganz okay, aber ich hatte keine Freiheiten. Mein Leben wurde fast vollständig kontrolliert, unter anderem vom Department for Work & Pensions (das Arbeits- und Rentenministerium, Anm. d. R.). Ich war auf der Suche nach Arbeit und musste jeden Job annehmen, der mir angeboten wurde. Bei einer Verweigerung hätte ich keine Hilfen mehr bekommen. Ich konnte nie das tun, was ich wirklich wollte. Ich entschied mich also, aus diesem System ganz auszusteigen und kündigte meine Wohnung. So konnte ich endlich meine Zeit in das investieren, was mir wichtig ist.« Was das genau ist, erklärt er dann mit den mittlerweile bekannten Schlagwörtern der »Occupy«-Bewegung: »›Occupy‹ fordert soziale Gerechtigkeit. Es gibt ein Prozent der Weltbevölkerung, dem fast der gesamte Wohlstand gehört, und 99 Prozent, die keine Kontrolle darüber haben. Wir protestieren gegen ein ungerechtes Steuersystem und gegen eine Demokratie, die lange nicht so demokratisch ist, wie sie sein sollte.«
Trotz der zu diesem Zeipunkt noch drohenden Räumung ist die Stimmung der Menschen im Camp alles andere als resignativ. Denn die »Occu­py«-Bewegung hat in Großbritannien zumindest dafür gesorgt, dass die Debatte über soziale Ungerechtigkeit auch im Mainstream angekommen ist. Vor einigen Wochen erst hat der Vorstandsvorsitzende der RBS-Bank, Stephen Hester, auf seinen millionenschweren Bonus verzichtet. Dies wäre vor einigen Jahren noch nicht denkbar gewesen.
Es ist diese Wandlung der öffentlichen Meinung, an der Leute wie Andrew arbeiten. Der 26jährige ist seit dem ersten Tag dabei und hat die »Tent University« mitgegründet, zu der täglich Menschen kommen, um an Diskussionen über ökonomische und soziale Themen teilzunehmen.
Draußen vor dem Pavillon ist es sehr kalt und Andrew zittert, was angesichts seiner dünnen Strickjacke nicht verwundert. Da hilft auch die graue Wollmütze nicht, die er tief ins Gesicht gezogen hat. Er habe sein Studium abgebrochen und jobbe nun halbtags in einer Bar, »aber eigentlich bin ich Musiker«, erzählt er von sich. Auch Andrew hat sein Bett durch eine Luftmatratze ersetzt, um sich ganz seiner Arbeit hier zu widmen. Trotz sichtlicher Ermüdungserscheinungen vergisst er nicht, warum er hier ist: »Als ich die Bilder der Wall Street sah, wusste ich, dass ich unbedingt ein Teil dieser Bewegung sein will. Es geht ja nicht nur um die Wirtschaftskrise, sondern um alle gesellschaftlichen Bereiche. Es ist zwar ein ökonomischer Protest, aber sobald man den Pfaden des Geldes folgt, sieht man, dass es sich auf alle anderen Lebensbereiche auswirkt.«
Auf die Frage nach deutlichen politischen Forderungen antwortet auch Andrew eher kryptisch: »Ich denke, wir benötigen kein offizielles Statement. Es geht erst einmal allgemein darum, auf die Ungerechtigkeiten hinzuweisen, die uns umgeben. Es ist sehr kompliziert, eine Lösung zu finden, denn die Situation ist ja über eine lange Zeit gewachsen.«

Diese Situation beschreibt der Philosoph Mark Fisher mit dem Begriff »capitalist realism«, den er in seinem gleichnamigen Buch erläutert (Jungle World 34/11). Darin stellt er dar, wie sich die Ideologie des Neoliberalismus in den vergangenen drei Jahrzehnten über alle Lebensbereiche ausgebreitet hat. Dadurch sei es fast unmöglich, sich eine Alternative zur kapitalistischen ökonomischen Logik überhaupt vorzustellen, denn unsere soziale Realität bestehe nur noch aus Arbeit und Konsum. Fisher analysiert, wie sich die Logik des kapitalistischen Realismus auch in der alltäglichen psychischen Verfassung der Menschen manifestiert. Beispielsweise durch das, was er »privatisierten Stress« nennt und was die Unsicherheit vieler überfordeter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezeichnet, die eher an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln und die Fehler bei sich selbst suchen, anstatt die Ursachen des Stresses in den strukturellen Arbeitsbedingungen zu entdecken.
Fisher hat die »Occupy«-Bewegung von Anfang an beobachtet. Seine Meinung ist ambivalent. »Es ist gut, dass es ›Occupy‹ gibt, das ist derzeit eine der wenigen ernsthaften Reaktionen auf die Krise des Kapitalismus«, stellt er fest. Was er unglücklich findet, ist die Ästhetik des Protests: »Ich meine damit diese karnevaleske Form. Ich denke, viele Leute sind sehr unzufrieden, aber die wenigsten identifizieren sich mit den Protestformen dieses Camps. Man hat es nicht geschafft, über das alte Bild antikapitalistischer Bewegungen hinauszugelangen.«
Auch in der Unfähigkeit, klare politische Ziele zu formulieren und konkrete Forderungen zu stellen, sieht Fisher ein Problem der neuen sozialen Bewegungen: »Genau da setzt der kapitalistische Realismus an. Man kann nicht von ›Occupy‹ verlangen, die Probleme des Kapitalismus zu lösen, aber man kann auch nicht einfach allgemein empört bleiben. Wenn wir selbst keine Alternative anbieten können, sind wir im System gefangen.«
Wenn es auch stimmen mag, dass die »Occupy«-Bewegung keine konkreten Gesetzesvorschläge formuliert, so weist sie dennoch auf Brüche im System hin und daraus hat sich, zumindest in Großbritannien, ein deutlicheres politisches Bewusstsein entwickelt. Erkennbar ist das etwa in der öffentlichen Debatte über das Sparprogramm der konservativen Regierung, das neben der enormen Erhöhung von Studiengebühren auch Kürzungen von Sozialausgaben wie Wohn- und Kindergeld vorsieht.

Im Gegensatz zu Fisher hält Andrew die Protestform des »Occupy«-Camps für absolut notwendig. »Es ist bereits ein Statement, dass wir hier sind. Durch unsere Transparenz und Sichtbarkeit ist unser Protest effektiver als jeder andere. Wir müssen die Leute auf das aufmerksam machen, was uns in Zukunft bevorsteht«, sagt er. Auf Sichtbarkeit muss die britische »Occupy«-Bewegung nun erst einmal verzichten. Der Vorplatz der St. Paul’s Cathedral war für die Bewegung ein prominenter und auch symbolischer Ort, denn hier ist das Zentrum eines der wichtigsten Finanzstandorte der Welt, und zugleich ein Ort, an dem sich die ökonomischen und sozialen Konflikte Großbritanniens besonders anschaulich.
Die sozialen Proteste begannen, als die Studentinnen und Studenten Ende 2010 nach der Erhöhung der Studiengebühren um mehr als das Doppelte Universitäten besetzten und auf die Straßen gingen. Im darauffolgenden Sommer kam es zu den verheerenden Londoner Riots. Beide Ereignisse stehen durchaus in einem Zusammenhang mit der »Occupy«-Bewegung. Die Riots waren politisch, wenn auch im Sinne einer Ablehnung von Politik. In diesen drei Protestformen – den Studentenprotesten, den Riots und der »Occupy«-Bewegung – sieht Fisher eine Gemeinsamkeit neben dem allgemeinen Ausdruck von Unzufriedenheit. Sie bestehe in der fehlenden Anknüpfung an traditionelle politische Institutionen wie die Labour Party. Der Regierungswechsel sei für diese Proteste ausschlaggebend gewesen. »Labour konnte noch einen Teil der Unzufriedenheit zurückhalten, aber sobald die Koalitionsregierung an die Macht kam, die ja faktisch eine Tory-Regierung ist, spitzte sich diese Unzufriedenheit zu«, beschreibt der Philosoph die gesellschaftliche Situation in seinem Land. Die regierende Koalition habe die Lehren früherer Regierungen vergessen, so Fisher, insbesondere, dass der Sozialstaat ein ganz gutes Instrument sei, um revolutionäre Situationen zu verhindern. Die plötzlichen Kürzungen hätten eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung ausgelöst, die niemand in England erwartet habe: »Früher herrschte ein Klima von Resignation und Fatalismus. Damit ist es jetzt vorbei.«
Zurück im Zelt, die Debatte geht weiter. Andrew und ein weiterer junger Mann bitten um finanzielle Unterstützung für das Projekt der »School of Ideas« im Stadtteil Islington. Sie sollte die Lücke füllen, die durch die Räumung der »Bank of Ideas« entstanden war. So hatte man eine leere Bank­filiale der UBS in Hackney genannt, die im November besetzt worden war und im Januar geräumt wurde. Am Dienstag wurde aber auch die »School of Ideas« gleichzeitig mit dem Zeltlager geräumt. Die Aktivistinnen und Aktivisten bezeichneten die Räumung als eine illegale Maßnahme, das es sich um eine legale Besetzung gehandelt habe.
Unter den Aktivistinnen und Aktivisten war diese Besetzung allerdings umstritten, wie man auch bei der Debatte im Zelt feststellen kann: »Ich bin nicht bereit, eure Schule zu unterstützen«, meldet sich ein junger Mann. »Ich war vorgestern dort und habe nur Hausbesetzer gesehen. Sie identifizieren sich nicht mit uns.« Einige nicken, andere heben ihre Zeigefinger, um einen Einwand vorzubringen. Warum einige Leute so skeptisch reagierten, wenn es um die Suche nach anderen Orten geht, die gerade wegen der Räumung ein strategisch kluger Schritt wäre, erklärt Andrew so: »Wir haben mit einer Gruppe von Squattern verhandelt, um nicht direkt wieder aus dem Gebäude vertrieben zu werden. Einige Leute misstrauen aber die Hausbesetzer und daher auch uns jetzt. Es ist vor allem ein Kommunikationsproblem.« Direkte Demokratie ist anstrengend, aber ist sie wenigstens fair?
Auch darin sieht Mark Fisher ein Problem. »Die Idee von ›Occupy‹, dass Autorität per se schlecht ist, ist ein Problem. Es gibt natürlich gute Gründe dafür, denn Autorität wurde gerade in der Linken oft missbraucht. Aber wir müssen unterscheiden zwischen Autoritarismus und Autorität. Autoritarismus ist der Missbrauch von Autorität. Hierarchien lassen sich nicht einfach abschaffen«, stellt er fest. »Es muss ein Kompromiss gefunden werden zwischen Neoanarchismus, der Autorität ganz ablehnt, und der alten Form des Leninismus, die Autorität einfordert.«

Was die Prognose für die nächsten Monate angeht, ähneln sich die Ansichten von Andrew und Fisher. Beide sind sich einig, dass sich die Krise verschlimmern wird. Andrew verweist etwa auf die Olympischen Spiele, die in diesem Sommer in London stattfinden sollen, wofür die Metropolitan Police die Stadt »aufräumen« will. Fisher erinnert daran, dass die Folgen des Sparprogramms der britischen Regierung gerade erst ihre Wirkung zeigen. Auch das Institute of Fiscal Studies teilte in einem neuen Gutachten mit, dass 80 Prozent der Auswirkungen des Sparprogramms noch bevorstünden.
Fisher sieht darin ebenso wie Andrew Chancen für eine Radkalisierung in der politischen Debatte. Dass die »Occupy«-Bewegung den Kapitalismus herausfordern kann, bezweifelt er allerdings: »›Occupy‹ lässt sich zu leicht kontrollieren. Andere Strukturen sind nötig, damit sich die Bewegung wirklich ausbreitet und etabliert. Ich denke da etwa an die Entstehung von Gewerkschaften, die durch die Verbindung zum Arbeitsplatz an den Alltag der Menschen anknüpfen konnten.« Dass Gewerkschaftsarbeit und Aktionsformen wie Streik oder Arbeitskämpfe im klassischen Sinne heutzutage nicht mehr funktionierten, weil sich die Arbeit selbst verändert habe, führe zur zentralen Frage, die sich die »Occupy«-Bewegung stellen solle: »Wie könnte man die prekäre Arbeit politisch organisieren?«
Die Suche nach Alternativen zur Organisation von prekärer Arbeit und Wirtschaft ist schwierig. Doch selbst Fisher entdeckt Risse in der herrschenden Wirtschaftsideologie: »Noch vor ein paar Jahren konnten wir uns überhaupt keine Alternative vorstellen.«