Kaus Stierstorfer im Gespräch über den Film »Die Eiserne Lady«

»Im Bildungsbereich sind die Auswüchse der Thatcher-Politik teilweise erst heute spürbar«

Der Film »Die Eiserne Lady« hat eine Diskussion über die historische Bedeutung ­Margaret Thatchers ausgelöst. Zugleich wird nicht nur in Großbritannien darüber debattiert, inwiefern ihre Politik der Deregulierung für die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise mitverantwortlich ist. Klaus Stierstorfer, Professor für Anglistik an der Universität Münster, spricht über den Akzent von Meryl Streep, die Renaissance der Europa-Skeptiker und die Utilitarisierung der Bildung.

In England gab es eine rege öffentliche Debatte um den Film »Die Eiserne Lady«, worum ging es dabei?
Das Thema spaltet in gewisser Weise die Nation. Die Diskussion um den Film spiegelt natürlich die unterschiedlichen Sichtweisen auf die historische Person Thatcher. Unterschiedliche Meinungen gab es zur Besetzung. Ich habe da auch so meine Vorbehalte gegen Meryl Streep, die die Rolle vom künstlerischen Anspruch her sehr gut ausfüllt, aber es gab Leute, die Thatcher sehr genau kennen und dann sagten, so sei Thatcher nie gewesen, das sei keine wirklichkeitsgetreue Abbildung. Wie das eben immer ist, wenn man Filme mit historischem Anspruch macht. Ich denke, man muss aber schon auch die künstlerische Seite dieses Films sehen. Er versucht, das Thema Thatcher aus einer bestimmten Perspektive zu inszenieren. Die Themen, die Margaret Thatcher angesprochen hat, in all ihren Kontroversen, sind virulent. Heute vielleicht mehr denn je. Und von daher ist der Film sicherlich zeitgemäß.
Mit der Hauptdarstellerin waren in Großbritannien nicht alle einverstanden.
Kontroversen gab es über die Frage der Besetzung mit einer Amerikanerin. Meryl Streep wird von Schauspielerkolleginnen und -kollegen dafür gelobt, dass sie den Thatcher-Akzent sehr genau nachempfindet. Ich bin davon nicht so überzeugt. Es ist ein sehr genau nachempfundener Akzent, aber es ist eben nicht Margaret Thatcher. Man spürt das starke künstlerische Bestreben, einen Akzent nachzuempfinden.
Im Film erscheint die Geschichte Thatchers auch als Sieg einer Frau über die männliche Konkurrenz. Thatcher wird als entschlossene Frau dargestellt, die den schwachen Männern im Parlament die Arbeit abnimmt.
Eine gute, politisch durchaus aktive Bekannte aus Großbritannien sagte mir 1979, als Thatcher zum ersten Mal gewählt wurde: »Wir haben uns so danach gesehnt, endlich eine Frau als Premierministerin zu haben, und jetzt haben wir sie bekommen.« Die Tatsache, dass es zum ersten Mal einen weiblichen Premierminister gab, war erfreulich für viele, aber Thatcher hat diese Erwartungen nicht erfüllt. Denken Sie etwa an die Darstellung ihrer Person in der Satireshow »Spitting Image«, in der sie mit Haaren auf der Brust gezeigt wurde, als Mannweib oder als Reagans Pudel. Die Weiblichkeit, die Meryl Streep im Film sehr wohl verkörpert, hat man Thatcher selbst nie so richtig abgenommen. Sie verhielt sich nicht zu Gender-Fragen. Es gibt ja auch entsprechende Aussprüche von ihr. Sie sagte selbst sehr deutlich, mit Feminismus habe sie nichts am Hut. Sie hat sich immer sehr stark gegen die Darstellung gewehrt, dass sie auch durch den Feminismus dahin gekommen sei, wo sie hingekommen ist. Für sie war ihre Karriere definitiv und emphatisch keine Gender-Geschichte.
Der Film wurde in Großbritannien regional recht unterschiedlich aufgenommen. Im Norden Englands gab es Aufrufe, den Film zu boykottieren.
Im Norden Großbritanniens haben die Reformen von Thatcher am stärksten gegriffen. Das ist die Gegend, in der infolge ihrer späten Industrialisierung die gewerkschaftliche Organisierung am stärksten war, und dort griff Thatchers Politik der Zerschlagung der Macht der Gewerkschaften und der Entsozialisierung der Wirtschaft am stärksten. Deswegen ist der Unmut über ihre Person gerade in den Gegenden mit der größten Armut in Großbritannien am stärksten. Zumal der Film auf diesen Aspekt der Politik Thatchers, der sich seither wie ein roter Faden durch die britische Politik zieht, kaum eingeht. Die Gewinner von Thatchers Politik waren der Großstandort London und der Süden des Landes, wo gerade diese sehr liberale Finanzpolitik Thatchers zu einem erheblichen, auch flächendeckenden Reichtum geführt hat.
Es gibt in Großbritannien T-Shirts mit dem Slogan »I still hate Thatcher«. Welche Rolle spielt »Klassenhass« in der Debatte?
Schon im 19. Jahrhundert hat der Premierminister und Schriftsteller Benjamin Disraeli in einem Roman von den »Two Nations« geschrieben. Er sagte, dass Großbritannien aus zwei Nationen bestehe, den Armen und den Reichen. Gerade deutsche Politiker betonen immer wieder, in Deutschland gebe es einen ausgeprägteren Mittelstand. In Großbritannien gibt es den so nicht. Das arme Großbritannien, also der arme Teil der Nation, litt unter der Thatcher-Politik sehr stark, und man kann wahrscheinlich sogar noch große Teile der Kunstszene hinzuzählen. Unter Thatcher wurden Theater- und Kunstsubventionen drastisch gekürzt. Wenn ich mit Kollegen, die im Theater arbeiten, oder auch mit Schriftstellern spreche, gibt es da kaum einen, der ein gutes Wort für Thatcher findet. Auch heute noch nicht.
Ist die Debatte um die historische Bedeutung Thatchers von der aktuellen politischen Diskussion zu trennen?
Ein großes Thema in den vergangenen Wochen war die Stellung Großbritanniens zu Europa. Großbritannien hat eine Regierung, die, wie Thatcher damals, ein sehr distanziertes Verhältnis zu Europa hat. Die Frage des Verhältnisses zu Europa ist gerade in der Euro-Krise wieder relevant. Großbritannien zieht sich heute wieder stärker auf die Insel zurück, verabschiedet sich von Europa und setzt auf die transatlantische Linie, wie es das oft getan hat, ohne aber seine Kontakte und auch seinen Einfluss, seine Macht in Europa aufgeben zu wollen. Großbritannien spielt eine Randrolle, möchte aber dennoch zentral sein. Das alles entspricht schon dem Geist Thatchers. Sie hat Europa-Skepsis und die Orientierung auf die transatlantische Partnerschaft mit Amerika mit einer Vehemenz und Nachdrücklichkeit zum politischen Programm erhoben und umgesetzt, wie es das in der britischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert nicht gab.
Die Arbeitslosigkeit hat Thatcher damit nicht in den Griff bekommen.
Die Arbeitslosigkeit war relativ hoch, als sie an die Macht kam. Sie war wegen des Versprechens gewählt worden, die Märkte zu deregulieren, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Es gab in den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit nochmal einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das war ihr Problem in der ersten Zeit. Dass sie politisch überlebt hat, ist ein Ausweis ihrer politischen Finesse. Das muss man ganz klar sagen. Es war vielleicht auch Ausdruck einer gewissen Müdigkeit des Landes nach einer sehr langen Zeit unter einer linken Regierung, die dieses Ziele ebenfalls nicht erreicht hatte. Der Abstieg hatte ja bereits begonnen. Man gab Thatcher einen Vertrauensvorschuss am Anfang, nach der geradezu religiös verkündeten Wende zu einer anderen, in Großbritannien intellektuell und kulturgeschichtlich sehr stark verankerten Staatsphilosophie.
Großbritannien ist das Land des Liberalismus, auch ökonomisch. Die geschichtlichen Wurzeln dieses Liberalismus liegen im 19. Jahrhundert. Der britische Liberalismus wird oft mit dem Namen Adam Smiths verbunden, der dafür gar nicht eindeutig in Anspruch genommen werden kann. Diesen Geist hat Thatcher neu belebt. Das ist ein geschichtlich fundierter und inspirierter ökonomischer Wandel, den sie herbeigeführt hat. Man kann fast sagen, die Argumentation war: »Zurück zu dem, was Großbritannien ökonomisch groß gemacht hat. Damals, als wir nach den Ideen Adam Smiths gelebt haben und deregulierte Märkte hatten, war Großbritannien eine Weltmacht. Das haben wir durch die linken Regierungen der vergangenen Jahre verloren.« Ich glaube, das hat sie schon verkörpert.
Sie haben längere Zeit in Großbritannien ­gelebt, unter anderem auch in Oxford. War der Wandel auch dort spürbar?
In Oxford waren die Auswirkungen zunächst nicht sehr groß. Oxford ist eine Welt für sich. Eine, die relativ gut abgesichert ist. Aber man hat schon gemerkt, dass sich diese stark ökonomisch geprägte Grundhaltung durchzusetzen begann. Heute ist das in ganz extremer Weise spürbar. Die Entwicklung hat ja nicht aufgehört mit dem Ende der Thatcher-Regierung. Im Bildungsbereich sind die Auswüchse der Thatcher-Politik teilweise erst heute spürbar. Mir scheint der Bildungssektor immer etwas träge in seiner Dynamik zu sein. Gerade hatten wir nochmal eine dramatische Erhöhung der Studiengebühren der britischen Studenten, die Universitäten sind in ihrer Gestaltungsfreiheit völlig auf ökonomische Zwänge reduziert und nur was ökonomisch sinnvoll ist, ist auch in der Bildung sinnvoll. Das wird wohl in keinem Land der Welt, selbst in den USA nicht, so extrem umgesetzt wie heutzutage in Großbritannien.
Vor kurzem hat der Telegraph geschrieben, dass die Bildungsausgaben der öffentlichen Hand in Großbritannien wieder auf das ­Niveau Ende des 19. Jahrhunderst gesunken seien.
Die Stimmung ist denkbar niedergeschlagen. Erst kürzlich gab es wieder ein Protestschreiben von Naturwissenschaftlern – eines von vielen. Es erstaunt immer, wie wenig die Betroffenen, sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden, auf diese von einer Verwaltungsautokratie dominierten Bildungslandschaft Einfluss nehmen können. Die Proteste gibt es, aber die gibt es schon seit Jahren, und nichts ist passiert. Es wird eher schlimmer. Viele Universitäten sind finanziell ausgehungert und heruntergewirtschaftet, es geht nur denen gut, die sich über hohe Studiengebühren – und die kommen überwiegend aus den USA und anderen Ländern in Übersee – gut positionieren. Aber insgesamt ist die Utilitarisierung der Bildung – so würde ich das bezeichnen –, gerade auch der Geisteswissenschaften, sehr extrem.
Vollendet die Regierung unter David Cameron, was Thatcher begonnen hat?
Ob man von Vollendung sprechen kann, weiß ich nicht. Aber die Politik liegt auf jeden Fall genau auf ihrer Linie. Thatcher hat mit dieser Linie zumindest eine Zeitlang großen politischen Profit erwirtschaftet, und man sehnt sich im konservativen Lager nach diesen Erfolgen. Man kann es als ein Zeichen der Verzweiflung sehen, wenn man in die Geschichte gucken muss, weil man selbst keine neuen Ideen hat. Man kann es auch als eine Bankrotterklärung der jetzigen prägenden Figuren der Konservativen sehen. Wenn man den Film getreu dem Motto »Thatcher reloaded« für eine Neubewertung ihrer Politik nutzt, ihn auf die heutige Welt anwendet, kann das dem heutigen Großbritannien nicht gerecht werden, das nicht mehr dasselbe ist. Die Gewerkschaften und andere Verbände waren Anfang der achtziger Jahre extrem mächtig, gerade in Wales und in den Midlands, so dass Thatcher sich einem wirklichen Gegner stellen musste. Das kann man nicht einfach auf die heutige Situation übertragen. Die Gewerkschaften sind nicht mehr da, einen echten Gegner gibt es einfach nicht mehr.
Im Sommer hat Premierminister Cameron im Zuge der Jugendkrawalle in London und anderen Städte den Begriff der »Broken So­ciety« benutzt. Der ist nicht ganz neu, oder?
Nein, das ist eine Neuauflage der »Two Nations« von Benjamin Disraeli aus dem 19. Jahrhundert, und man kann sagen, dass Disraeli lediglich Arm und Reich als einander gegenüberstehend im Blick hatte, und dazwischen hat er eine große Kluft gezeichnet. Eine Mittelschicht wie in Deutschland fehlt in Großbritannien. Heute bedeutet das aber nicht nur eine Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch eine zwischen den verschiedenen Kulturen und Ethnien, die in Großbritannien nebeneinander leben. Großbritannien ist nicht gerade das beste Beispiel für eine gelungene multikulturelle und multiethnische Integration.
Als Therapie für die »Broken Society« setzt Cameron auf intakte Familien.
Das ist auch »Thatcher pur«. Es gab für sie lediglich zwei Ebenen: die Familie auf der unteren Ebene, und darüber die Nation. Dazwischen gab es für Thatcher gar nichts. Diese komplette Ne­gation jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalts greift Camerons Politik wieder auf. Das wurde von Politikern vor Cameron nie in der Schärfe aufgenommen, wie das nun getan wird.