Wenn Männer weinen

Berlin Beatet Bestes. Folge 136. Adele: 21 (2011).

Traurige Lieder sind eigentlich nicht mein Ding. Überhaupt ist Traurigkeit nicht mein Ding. Als Teenager hielt ich das für ein Defizit. Ich glaubte, es fehle mir an Tiefgang und deshalb würde ich mich in der Melancholie nicht so richtig zu Hause fühlen, wie es manche meiner Altersgenossen taten. Während sie ihre trüben Gedanken zum Soundtrack von Joy Division pflegten, hörte ich lieber Black Flag und King Kurt. Ich war und bin meist ganz gut drauf und mir macht es Spaß, andere Menschen auch gut drauf zu bringen. Die Musik, die ich bevorzuge, unterstützt diesen heiteren Gemütszustand. Ich höre hauptsächlich dynamische Musik, die mich in Bewegung – also zum Tanzen – bringt.
Adele dagegen macht traurige Lieder. Wunderschöne traurige Lieder. Um es gleich zu sagen: »21« ist mein Lieblingsalbum 2011. Wer es nicht kennt: Es ist völliger Mainstream. Adele hat gerade sechs Grammys und andere Preise eingesackt, das Album ist seit Monaten unter den deutschen Top Ten. Zu Recht, denn auf der Platte sind nur Hits. Adele ist Amy Wine­house ohne die doofen Drogen. Und sie schreibt ihre eigenen Songs. Als ich das Youtube-Video von »Someone Like You« zum ersten Mal sah, das Adeles Auftritt bei den Brit Awards 2011 zeigt, liefen mir die Tränen ganz unwillkürlich über das Gesicht. Es ist ein unglaublich schönes, trauriges Lied und Adele schluchzt am Ende selbst ein wenig vor Rührung. Zum letzten Mal hat mich Otis Reddings »For Your Precious Love« vor vielen Jahren zum Weinen gebracht. Aber Otis ist sowieso der Größte. Und diese eine Platte von Harold Budd und Brian Eno, »The Plateaux of Mirror«, habe ich mal Anfang der Neunziger tagelang gehört, krank vor Sehnsucht nach einer Frau, die sich nicht für mich entscheiden konnte. Ähnlich dem atmosphärischen Klavierspiel von Harold Budd wird Adele in »Someone Like You« begleitet.
67 Millionen Menschen hat das Video von Adele schon ähnlich gerührt wie mich. Normalerweise interessiert mich nicht, was alle gut finden. Was alle gut finden, ist meist Schrott. Indiepop habe ich auch nie verstanden. Entweder du macht was Gefälliges, also Populäres, und freust dich dann, wenn es vielen Leuten auch gefällt. Oder du machst dich vom Geschmack der Mehrheit unabhängig und produzierst irgendetwas Schräges und Wildes. Dann ist es dir auch egal, wenn deine Kunst nur wenigen Leuten gefällt. Wieso sollte Popmusik nur für einen kleinen Club von Eingeweihten gemacht werden? Aber was weiß ich schon? Normalerweise kümmere ich mich um das Abseitige und Schräge und den sogenannten schlechten Geschmack. Damit kenne ich mich aus. Wenn es um Mainstream und Popmusik geht, schwimme ich. Andererseits: Alle meine sonstigen Freunde sind genau solche Spartensnobs wie ich. Ich kenne sonst niemanden, der Adele auch gut findet. Außer eine Freundin, und die ist 63. In meiner Szene ist Adele also ganz schön abseitig.