Javier Sicilia im Gespräch über den gescheiterten Krieg gegen den Drogenhandel in Mexiko 

»Die Straflosigkeit ist fast absolut«

Der vom mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón ausgerufene Krieg gegen den Drogenhandel hat bislang 50 000 Todesopfer gefordert. Die Mehrheit davon sind Zivilisten. Immer mehr Menschen in Mexiko halten die Strategie des Staates gegen die Drogenkartelle für gescheitert. Ende vergangenen Jahres wurde gegen Calderón eine Anzeige wegen Völkermords vor dem Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht. Der mexikanische Schriftsteller und Journalist Javier Sicilia war daran beteiligt.

Herr Sicilia, Ihr Sohn Juan Francisco ist in den Wirren des Drogenkrieges umgekommen. Was passiert gerade in Mexiko?
Der Tod meines Sohnes und seiner Freunde ist das Resultat einer verfehlten Kriegsstrategie gegen den Drogenhandel. Es war ein fataler Fehler von Präsident Calderón, das Militär aus den Kasernen zu holen. Wir als Zivilgesellschaft stellen die Toten. Mittlerweile sind es 50 000. Des Weiteren gibt es über 10 000 Verschwundene und 120 000 Binnenflüchtlinge. Lange Zeit hat Calderón die Zahl der Toten heruntergespielt und stets betont, lediglich »Kriminelle« würden in diesem Krieg sterben. Doch die Verluste werden in den Reihen der Zivilbevölkerung gemacht. Die allermeisten Opfer haben mit dem Drogenhandel nichts zu tun. So wie mein Sohn, der zu diesen Tausenden von Toten zählt.
Er war 24 Jahre alt. Warum gehören so viele junge Menschen zu den zivilen Opfern?
Als Calderón nach seinem Amtsantritt diesen Krieg ausrief, sprach er davon, die Jugend Mexikos vor der Drogenkriminalität zu retten, aber nun lässt er sie umbringen. Auch die Drogenhändler und Killer sind oft Jugendliche. Sie sind nicht unschuldig, aber sie sind gleichzeitig Opfer einer Gesellschaft, in der sie nie eine Chance hatten. Denn die meisten Jugendlichen in Mexiko haben weder Aussichten auf einen Studienplatz noch auf eine Arbeitsstelle.
Präsident Calderón spricht jedoch weiterhin von »Kollateralschäden«, wenn es um zivile Opfer geht.
Wir leben zwar im Zeitalter der Demokratie und Menschenrechte, doch wir Mexikaner sind zu Vogelfreien geworden. So wie es der Philosoph Giorgio Agamben für die Figur des »Homo sacer« beschreibt, können sie Menschen umbringen, entführen und foltern. Und der Tod, der Schmerz, das gewaltsame Verschwindenlassen, das alles bleibt ohne Strafe. Das ist es, was in diesem Land geschieht. Präsident Calderón muss Unsummen von Geld in die Medien investieren, damit diese weiterhin das Bild einer Demokratie liefern und nicht eines Landes, das kurz vor dem Zerfall steht. Immerhin haben wir einen hervorragenden investigativen Journalismus in Mexiko. Ohne ihn wüsste nicht einmal die Polizei, wer welchem Kartell vorsteht.
Sie haben sich mit Calderón getroffen. Wie schätzen Sie ihn ein?
Der Präsident hat ein puritanisches Selbstverständnis, das dem von Georg W. Bush nicht unähnlich ist. Im Kampf gegen den Terrorismus rief der den Ausnahmezustand aus und ließ die Bürgerrechte außer Kraft setzen. Calderón spricht seinerseits ebenfalls von der Liebe zur Nation, zur Demokratie, zur Kirche. Eine solche Liebe kann zu den schrecklichsten Verbrechen führen, sie ist viel gefährlicher als Hass.
Nach dem gewaltsamen Tod Ihres Sohnes machten Sie im Wochenmagazin Proceso »Mexikos Drogenbarone und Politiker« gleichermaßen für die Missstände im Land verantwortlich. Was hat Ihr Artikel bewirkt?
Mein Aufruf hat die Menschen aufgeweckt aus einem Zustand, der von Angst und Schmerz geprägt war. Lange Zeit hieß es: »Die bringen sich eh alle gegenseitig um.« Damit wurden unschuldige Opfer kriminalisiert. Wer den Tod eines Familienangehörigen zur Anzeige bringen wollte, wurde dadurch zum Schweigen gezwungen. Dieser Logik des Krieges folgt natürlich auch das mexikanische Militär, dessen Devise lautet: Je mehr Menschen sterben, desto erfolgreicher ist der Kampf gegen die Drogenkartelle. Meinem Beispiel folgend haben sich viele Menschen gegen diese Logik gewehrt und ihnen ist es möglich geworden, aufzustehen und Frieden zu fordern. Denn die Anzahl der Toten ist so hoch, dass die Trauer das ganze Land erfasst. Wir brauchen keine Helden, es ist die Zivilgesellschaft, die die Aufgabe hat, die Geschichte neu zu schreiben. Die Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde ist nun auf diesem Weg.
Die Friedensbewegung hat es geschafft, die Regierung unter Druck zu setzen. Welche Forderungen hat sie?
Calderón verteidigt seine Kriegsstrategie, auch wenn sie so offensichtlich gescheitert ist. Die Politik, die zu diesem Krieg geführt hat, muss ein Ende haben. Dafür muss die Gesetzgebung zur nationalen Sicherheit reformiert werden. Darüber hinaus verlangen wir eine Wahrheitskommission und ein Entschädigungsgesetz für die Opfer, ihnen muss Gerechtigkeit widerfahren. Sie und ihre Familien dürfen nicht kriminalisiert werden. Doch auch die Korruption und die Einflussnahme der organisierten Kriminalität auf die Regierung müssen bekämpft werden. Lediglich vier Prozent aller angezeigten Verbrechen werden in Mexiko aufgeklärt. Die Straflosigkeit ist fast absolut, deshalb machen die Kartelle, was sie wollen.
Diese Situation ist nicht neu. Wann haben die Drogenkartelle begonnen, auf die Regierungspolitik Einfluss zu nehmen?
In den siebziger Jahren wurden die Regierungen stets von derselben Partei, der PRI (Partei der institutionalisierten Revolution, Anm. d. Red.) gestellt. Damals nahmen die sich formierenden Drogenkartelle mit der Korruption Einzug in die Institutionen. Mit dem Regierungswechsel zur PAN (Partei der Nationalen Aktion, Anm. d. Red.), im Jahre 2000 wäre eine Demokratisierung der Institutionen unerlässlich gewesen, doch diese blieb aus. Präsident Vicente Fox führte die Reformen nicht durch, die dringend nötig gewesen wären, um korrupte Strukturen zu durchbrechen.
Warum hat sich Calderón nicht dieser Aufgabe angenommen?
Calderón kam lediglich mit den gerade benötigten Stimmen an die Macht, die ihn als Präsidenten legitimierten. Er wusste, dass seine Regierung schwach sein würde und nicht mit der Zustimmung großer Teile der Bevölkerung rechnen konnte, so rief er den Krieg gegen den Drogenhandel aus, um seine Präsidentschaft einem »höheren Ziel« zu widmen. Das Militär an seiner Seite stützt seine Regierung. Unter diesen Bedingungen, also dem instabilen politischen System und den korrupten Institutionen, befinden wir uns in einer Terrorherrschaft.
Warum ist der Krieg gegen den Drogenhandel, abgesehen von den Menschenrechtsverletzungen, nicht erfolgreich?
Eine Strategie des demokratisch gescheiterten Staates war und ist, die großen Bosse der Kartelle zu töten oder zu verhaften. Dadurch wird das Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Kartellen zerstört. Ursprünglich gab es in Mexiko acht Kartelle, die heute in unkontrollierbare Splittergruppen zerfallen sind. Dies hat dazu geführt, dass die Kartelle ihre kriminellen Aktivitäten diversifiziert haben, um konkurrenzfähig zu bleiben. Heute gehören neben dem Drogenhandel auch Auftragsmorde, Menschenhandel, Entführungen und Erpressungen dazu. Ganze Regionen sind in die Hand der Kartelle geraten. Im September sind wir in den Süden des Landes gezogen, wo das Kartell der Zetas Teile von Oaxaca, Veracruz und Tabasco beherrscht. Dort werden vor allem Migranten, die aus den zentralamerikanischen Ländern illegal in Richtung Norden reisen, massenweise entführt und gefoltert, ihre Familien werden erpresst.
Mittlerweile wird häufig von der Legalisierung der Drogen als der Lösung des Problems geredet. Was halten Sie davon?
Trotz militärischer Einsätze florierte der Drogenhandel in den vergangenen Jahren. In den USA, wo das meiste Kokain landet, das aus Kolumbien über Mexiko geschmuggelt wird, ist die Nachfrage gestiegen. Eine vollständige Legalisierung von Drogen wurde in Mexiko schon vor einigen Jahren diskutiert. Dem sinnlosen Blutvergießen muss endlich Einhalt geboten werden. Stattdessen müssen die Kanäle der Geldwäsche offengelegt werden. Schließlich fließen die Gewinne der Kartelle in legale Unternehmen: Banken und Investitionsgesellschaften in den USA, der Karibik und Europa. So ist das mexikanische Golf-Kartell beispielsweise eng mit der italienischen ’Ndran­gheta verknüpft, die das Geld aus den Drogengeschäften in gigantischen Bauprojekten wäscht.
Im Juli gibt es mit den Präsidentschaftswahlen die Aussicht auf einen Machtwechsel in Mexiko. Berechtigt das zur Hoffnung auf eine Veränderung?
Ich fürchte kaum. Parteien und Politiker haben versagt. Die Wahlen werden lediglich entscheiden, wer diesen zerfallenden Staat weiter verwaltet. Es ist zu befürchten, dass der alten Staatspartei PRI, die das Land 70 Jahre lang regiert und unglaublich autoritäre Strukturen aufgebaut hat, eine Rückkehr an die Macht gelingt. Zwar sympathisiere ich mit dem linken Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador, doch letztendlich glaube ich, dass basisdemokra­tische Strukturen nötig sind, um die politische Partizipation der Bevölkerung zu fördern. Die Zivilgesellschaft bleibt der Akteur, der eine wahre Veränderung im Land herbeiführen kann.