Taktik im Fußball

Taktik ist keine Pfefferminzsorte

Fußballtaktik ist nicht mehr nur etwas für Freaks. Inzwischen muss man einer breiten Öffentlichkeit selbst Taktikwitze nicht mehr erklären. Dabei stellt sich immer mehr die Frage, was den modernen Fußball ausmacht.

Als vor drei Wochen bekannt wurde, dass der 73jährige Otto Rehhagel neuer Cheftrainer des Berliner Fußballbundesligisten Hertha BSC wird, gingen die Liberowitze los. »Millionen fragen sich: Wo bekommt der so schnell einen Libero her?« schrieb exemplarisch für viele der Facebook- und Twitter-Profi Hans Sarpei, im Nebenberuf Ersatzspieler beim FC Schalke 04.
Rehhagel, einer der erfolgreichsten deutschen Trainer aller Zeiten, hatte 2004 als Nationaltrainer den Außenseiter Griechenland überraschend zum Europameistertitel geführt. In der Defensive ließ er das Team mit einem Libero antreten – dem freien Mann hinter der Abwehr, in Deutschland auch oft als Ausputzer bezeichnet –, zu einer Zeit, als internationale Spitzenvereine, aber auch die Mannschaften der Bundesliga längst fast ausnahmslos mit der als moderner geltenden Viererkette spielten. Diese sieht keinen Libero klassischer Prägung mehr vor.
Dass die Liberowitze auf Rehhagels EM-Titel anspielten, war allen Fußballinteressierten und selbst vielen Laien klar. Doch hätte man diese Scherze vor zehn Jahren schon verstanden? »Eine interessante Frage«, sagt Tobias Escher im Gespräch mit der Jungle World. Er hat 2010 zusammen mit einigen Gleichgesinnten das Blog »spielverlagerung.de« gegründet, auf dem nach eigener Auskunft »der Blick auf Formationen, Abwehrverhalten und eintrainierte Spielzüge im Vordergrund« steht.
»Diese Witze hätte man vor zehn Jahren sicherlich noch nicht gemacht, weil man nicht unbedingt auf die Idee gekommen wäre, dass Otto Rehhagel für etwas steht, das nicht modern ist«, sagt Escher. Der 23jährige studiert in Hannover Sprach- und Sportwissenschaft. Wie auch die vergleichbaren Seiten »r-quadrat.net/44qua­drat« oder »ballverlust.net« sowie das eher auf Österreich spezialisierte »ballverlust.eu«, füllte »spielverlagerung.de« eine Lücke, die es damals im deutschsprachigen Raum gab. Denn das Vorbild für Eschers Blog kommt, wie so viele Neuerungen im Fußball, aus England: die Website »zonalmarking.net«, die schon Anfang 2010 von Michael Cox gegründet wurde.
Doch auch »zonalmarking.net« entstand nicht im luftleeren Raum. Die Gründung war nach eigener Aussage inspiriert von dem 2008 erschienenen Buch »Inverting the Pyramid« von Jonathan Wilson. In Großbritannien wurde es zum »Fußballbuch des Jahres« gewählt. Unter dem Titel »Revolutionen auf dem Rasen« erschien diese »Geschichte der Fußballtaktik« vor einem Jahr auch auf Deutsch. Vielen gilt sie als Standardwerk zum Thema.
Nicht nur als Hobby betriebene Blogs widmen sich der Reflexion taktischer Fragen. Der Sportjournalist Christoph Biermann hat mit seinen Büchern »Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann« (1999, mit Ulrich Fuchs) und »Die Fußball-Matrix. Auf der Sucher nach dem perfekten Spiel« zwei der wichtigsten deutschsprachigen Bücher zum Thema beigesteuert, »spielverlagerung.de« nennt ihn den »Begründer der journalistischen Taktiklehre in Deutschland«. Er sitzt inzwischen in der Chefredaktion des Fußballmagazins 11 Freunde und verbreitet von dort das Interesse an taktischen Gesichtspunkten. Nicht umsonst hat Frank Wormuth in der Zeitschrift eine feste Kolumne. Der Mann ist oberster Fußballlehrerausbilder des DFB.
Dass ein »Magazin für Fußballkultur«, so der Untertitel von 11 Freunde, eine Taktikkolumne publiziert, könnte man für einen Widerspruch halten. Fußballkultur wird doch meist mit feuilletonistischen Betrachtungen sowie Choreographien und Gesängen der Ultras assoziiert, die gerne Kampagnen »gegen den modernen Fußball« betreiben. Für die Ultras steht der Begriff »moderner Fußball« meist als Chiffre für die »Kommerzialisierung« des Sports, der damit seine »Seele« zu verlieren drohe.
Für einen wie Biermann hingegen steht die Debatte über den »modernen Fußball« in Deutschland als »Chiffre für die Hoffnung auf Besserung«, entstanden zur Zeit der größten Krise des deutschen Fußballs um die Jahrtausendwende. Bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 flog die deutsche Nationalmannschaft schon im Viertelfinale raus, bei den Europameisterschaften 2000 und 2004, als der angeblich antiquierte Rehhagel mit Griechenland den Titel holte, sogar bereits in der Vorrunde. Biermann räumt in »Der Ball ist rund« zwar ein, dass im »Zeitalter konsequenter Kommerzialisierung« der »Spitzenfußball seinen Charakter verändert« habe, doch er kommt zu dem Schluss, dass man sich gerade deshalb mit der Taktik befassen müsse: »Die Entfremdung zwischen den Akteuren und den Fans hat viel vom Zauber des Spiels verfliegen lassen, so dass am Ende nur noch ein Geheimnis geblieben ist: das Spiel selbst.«
Auch Tobias Escher sieht im öffentlichen Nachdenken über Fußball jenseits des klassischen Spielberichts eine relativ neue Erscheinung: »Wenn man sich die Tradition anguckt, nicht nur, was Taktik angeht, sondern auch, was feuilletonistische Fußballberichterstattung angeht, dann gibt es das eigentlich erst seit den neunziger Jahren.« Er verweist auf den englischen Schriftsteller Nick Hornby, dessen 1992 erschienener, autobiographisch geprägter Fußballroman »Fever Pitch« Vorbild für unzählige ähnliche Bücher auch deutscher Autoren war. »Auch dass es ein Magazin wie 11 Freunde gibt, wäre vor 30 Jahren noch komplett undenkbar gewesen«, sagt Escher.
Besonders aber am Fernsehen lässt sich die Popularisierung der Fußballtaktik nachvollziehen. Mit dem Erwerb der Free-TV-Rechte an der Fußballbundesliga durch Privatsender sowie dem Aufkommen von Pay-TV-Anbietern hat das Fernsehen wie kein anderes Medium die Kommerzialisierung dieses Sports vorangetrieben. Dabei wurde einerseits das Boulevardeske in der Berichterstattung immer stärker ausgeweitet. Andererseits wurde auch die statistische Erfassung des Fußballs bis ins letzte Detail vorangetrieben.
Ab 1992 baute man bei Sat.1 die berühmt-berüchtigte »ran-Datenbank« auf. Berüchtigt war sie unter Fußballfans deswegen, weil die Kommentatoren und Moderatoren es in der Anfangszeit mit dem Herunterrattern von Statistiken bisweilen arg übertrieben. Aber letztlich boten solche umfassenden Erhebungen über Ballbesitz, Passquoten und Torschüsse, die in England schon viel früher gebräuchlich waren, erst die Basis für eine fundierte Betrachtung von Spielen jenseits von Geschmack und Gefühl. Seit Beginn der laufenden Bundesligasaison werden unter Einsatz aufwendiger Technik bei den Partien der 1. und 2. Liga sogar die Laufleistungen der Spieler flächendeckend erfasst.
All die Daten und Bilder fließen in Analysen ein, die beispielsweise beim Spartenkanal »Sport1« dem Publikum seit fünf Jahren in einer wöchentlichen, einstündigen Sendung von Experten unter Zuhilfenahme eines interaktiven 3D-Analysetools präsentiert werden. Auch im »Aktuellen Sportstudio« des ZDF gibt es wöchentlich eine kurze 3D-Analyse.
Schon 1998 hatte die Sendung den seinerzeit noch wenig bekannten Trainer Ralf Rangnick zu Gast. Der damalige Zweitligacoach machte mit einer neuen Taktik von sich reden. Ballorientiertes System, Pressing und Viererkette hießen die für die deutsche Fußballöffentlichkeit neuen Zauberworte. Als Rangnick im Sportstudio gebeten wurde, sein System an einer Magnettafel zu erläutern, ging vielen Zuschauern erstmals ein Licht auf. Viele Fachleute hingegen waren empört, Rangnick wurde als »Fußballprofessor« verhöhnt. »Damals zeichnete sich allerdings ab, dass der deutsche Fußball sein Des­interesse an taktischen Fragen nicht mehr aufrechterhalten konnte, weil er international den Anschluss verlor«, bemerkt Christoph Biermann zu der Episode. Keine zehn Jahre später war das, was Rangnick im ZDF anschaulich erläutert hatte, auch in Deutschland zum taktischen Standardmodell geworden.
Doch wie konnte dann Rehhagel das griechische Team 2004 mit einem Libero zum Europameistertitel führen? Er war erfolgreich, »weil er ein Problem aufwarf, dessen Lösung die Leute vergessen hatten«, analysiert Andy Roxburgh. Die Stürmer waren es offenbar nicht mehr gewohnt, so der Technische Direktor der UEFA, so eng in Deckung genommen zu werden. Tobias Escher kritisiert das derzeitige Lästern über Rehhagel: »Man muss sich fragen, wie viele Leute einfach nur den Witz nachplappern, ohne darüber nachzudenken.« Zwar spiele heute keiner mehr mit dem klassischen Libero, auch Rehhagel nicht. Andererseits gebe es inzwischen gerade taktisch hochmoderne Teams, »die wieder eine Art von Libero spielen – ein Mittelfeldspieler, der sich zwischen die Abwehrspieler fallen lässt.« Rehhagel selbst behauptete erst kürzlich in einem Interview: »Wir haben beim EM-Sieg 2004 mit Griechenland gar nicht Libero gespielt, sondern mit ­einer versetzten Viererkette.« Er stelle die Spieler einfach immer nach ihren Möglichkeiten auf. Christoph Biermann attestiert ihm deswegen sogar Genialität.
Bei der schweren Aufgabe, die stark abstiegsbedrohte Hertha in der Bundesliga zu halten, geht es für Rehhagel um die Frage: »Willst du modern absteigen oder modern in der Liga bleiben?« Um gleich zu ergänzen: »Ich habe alle Systeme drauf!« Ob er für den Berliner Club das richtige findet, kann sich am Ende aber nur auf dem Platz erweisen.