»Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee« von Dietmar Dath und Barbara Kirchner

Alles wird im Überfluss vorhanden sein

Dietmar Dath und Barbara Kirchner begeben sich mit »Der Implex« auf eine größenwahnsinnige Fahrt ins Reich der revolutionären Hoffnungen.
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Naseweise Checkerpose«, »Protokoll eines Lesekreises«, »Farce«, »Tortur«, »Kitsch und Kraftmeierei« – Die Zeit rechnet ab. Offensichtlich haben sich hier zwei, nicht gerade bescheidenen Anlauf nehmend, weit vorgewagt. »Der Implex«, die von Dietmar Dath und Barbara Kirchner vorgelegte Mammutstudie über Geschichte und Idee des sozialen Fortschritts, verleitete einige Bescheidwisser dazu, die Autoren auf ihre Plätze zu verweisen.
Denn eigentlich ist Barbara Kirchner ja Professorin für theoretische Chemie am Wilhelm-Oswald-Institut der Universität Leipzig. Und eigentlich brillierte Dietmar Dath bisher doch gerade mit seinem schriftstellerischen Talent. Wir erinnern uns an »Die Abschaffung der Arten« von 2008 – originell, geistreich, ästhetisch interessant. Dath entfaltet in diesem Science-Fiction-Roman eine Gesellschaftsutopie, welche die Kategorien von Tier, Mensch, Raum und Technik hinter sich lässt. Alles zum Zweck der Selbstbehauptung, zur Sprengung der Zwänge von Natur und Gesellschaft. Der Roman landete in der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Als Fiktion lässt man sich Gesellschaftskritik gern gefallen, doch wehe, es wird sachlich begründet, belesen und dazu noch akrobatisch offenbart, wes Geistes Kind man ist. Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Bloch (um nur einige zu nennen) – »ein Symptom für die Krise des antikapitalistischen Denkens«, urteilt Die Zeit und ergeht sich in platter Polemik.
Aber warum wird erst jetzt mit solcher Empörung reagiert? Die wichtigsten Schlussfolgerungen, die in »Der Implex« gezogen werden, waren bereits, wenn nicht ausformuliert, so zumindest ansatzweise in Daths vorangegangenen Büchern zu finden. Der Grund für die Entrüstung liegt wohl darin, dass man sich – es führt kein Weg daran vorbei – an »Der Implex« die Finger klemmt. Über allem steht die Frage: Wie soll dieser Riegel nur anzupacken sein? Als Sach- oder gar Fachbuch über den sozialen Fortschritt? Zu literarisch. Als Versuch sozialistischer Traditionspflege? Zu eigen. Die Autoren schlagen vor, ihr Gedankengebirge einen »Roman in Begriffen« zu nennen, der die Schicksale von Versuchen nachzeichne, »die Welt besser einzurichten, als die neuzeitlichen Menschen sie vorfanden, als sie anfingen, neuzeitliche Menschen zu sein«.
Wie sich solch ein »Roman in Begriffen« lesen lässt, erfahren wir auf einem reichlich verschlenkerter Ritt durch die neuzeitliche Politik-, Philosophie-, Kunst- und Kulturgeschichte. Ja, es geht ums Ganze: Wir starten mit der Relektüre der Ursprungsdebatten über Aufklärung, ihre Widersprüche und ihr Potential, es geht um Kritische Theorie, Regenwaldabholzung und Fukushima, Liebe, Fernsehen, Queer Theory, Polyamorie, Lohnarbeitskritik, l’art pour l’art – die Fülle des zusammengetragenen Materials ist so überbordend wie der sprachliche Ausdruck virtuos, es wird wüst, oftmals liebevoll überdreht formuliert. Historische Persönlichkeiten stehen neben Außenseitern, Begriffe wie »Kippfiguraldialektik« oder »Sonolumineszenz« werden in endlos verschachtelte Sätze eingestreut, die uns Rousseau als Vater des Fantasy vorstellen (»aber als Theaterseele«) und uns auseinandersetzen, weshalb Bakterien manchmal mehr von Solidarität verstehen als Selbständige.
Als Illustration ihrer These vom gelungenen und zugleich blockierten sozialen Fortschritt kommt für die beiden Autoren geradezu die ganze Welt in Betracht. Der Schriftsteller William T. Vollmann neben »Buffy, the Vampire Slayer«, Tim und Struppi, Judith Butler, Karl Marx, H. P. Lovecraft, Thomas Hobbes, außerdem unzählige deutlich weniger bekannte Autoren und Künstler, »Welttatsachen« stehen neben phantastischer Literatur: »Was die USA seit 1980 waren, steht klarer als bei irgendwem bei Stephen King, der aber von Wirklichkeit nicht viel hält.«
Dath und Kirchner zitieren herbei, was ihnen lieb ist, allem voran die marxistische Denktradition, und verteilen – obwohl es ihnen lästig ist, einzelne Schulen zu diskreditieren – auch zahlreiche Backpfeifen: »Intrumentelle Vernunft« sei eigentlich kein so vernünftiger Begriff, Foucault »einer der intelligentesten Idioten des 20. Jahrhunderts«, Hardt und Negri werden immer wieder gescholten, die soziologischen Modelle von Schicht und Habitus zugunsten des Klassenbegriffs im Vorübergehen verworfen. All das mal nüchtern referierend, oft aber ebenso lust- wie hoffnungsvoll zugespitzt. Denn Dath und Kirchner wissen, »dass noch die falscheste naive Vorstellung vom gewollten Richtigen im emphatischen Sinne fortschrittlicher ist als die allerrichtigste zynische vom bestehenden Falschen«.
Es geht also nicht nur um diese Welt. Es geht auch darum, was nach ihr kommt, bereits in ihr steckt, was aus ihr gezogen, wie sie weitergedacht werden kann. Pointiert gesagt, bezeichnet der Implex – der Begriff stammt von Paul Valéry – die möglichen Vorstellungen, die dem Gegebenen immanent sind. Um diese sichtbar zu machen, müssen Denkschemata überwunden, aber auch bestimmte Handlungen ausgeführt werden. Sagen wir mal: Revolutionen. Dath und Kirchner greifen Rosa Luxemburgs Fortschrittsbegriff auf (»zunehmende Verfügung über die immer reicher ausgestaltete Produktion durch alle; abnehmende Bedeutung mehr und mehr gelöster Konsumfragen«) und betrachten ihn als Mittel zur Herstellung von Glück und Freiheit.
Wie die Welt verfasst sein könnte? »Von Verwaltung weiß die neue Erde nur das Nötigste«, schreiben Kirchner und Dath am Ende des Buches. Südafrika werde sich, »wenn die Sache so weitergeht«, als Nationalstaat auflösen und sich der »modularen Internationale« anschließen. »›Governance‹ ist kein sozioökonomisches Problem mehr, sondern eine Software«, Gedenkveranstaltungen für das Internet werden abgehalten, »das sich vor kurzem endgültig in ein erheblich beweglicheres Netz auf der Basis drahtlos miteinander verbundener Winzmaschinen verwandelt hat«. Alles werde im Überfluss vorhanden sein, denn Überfluss sei schließlich nichts anderes als »so viel Mehrprodukt, dass man seine Verwandlung in Mehrwert und andere auf Ausbeutung und mit dieser korrelierte Unterdrückung angewiesene abstrakte Zugewinnformen nicht mehr braucht, um das Gemeinwesen in Betrieb und zusammenzuhalten«.
Halleluja, Dath und Kirchner haben noch einiges vor. Dass sie dabei die Balance zwischen einschüchternder Belesenheit, eigenwilligen Zick-Zack-Theorien und rhetorischer Dringlichkeit halten, ist das literarische Kunststück des Buches. Sicherlich ließe sich trefflich darüber streiten, welche Überschneidungen zwischen dem Begriff des Implex und Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung« bestehen. Und sicherlich sind für die Meister des philosophischen Fachs, die den »Roman in Begriffen« als reines Sachbuch verstehen mögen, Schwachstellen des Textes offensichtlich. All das ändert jedoch nichts an dem verlockenden Angebot, sich mit den Freestylern Dath und Kirchner weit vorzuwagen, auf diese größenwahnsinnige Abfahrt. Und das ist positiv gemeint.

Dietmar Dath/Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Suhrkamp, Berlin 2012, 880 Seiten, 29,90 Euro