Hat Anti-AKW-Aktivisten in Tokio getroffen

Aufstand der Anfänger

Die Reaktorkatastrophe von Fukushima hat die japanische Geselllschaft verändert. Vor allem für die junge Generation ist ­politisches Engagement wichtig geworden.

Unter strahlend blauem Himmel und bei zwei Grad Kälte sitzt ein alter Mann mit seiner Gitarre vor weißen Zelten. Voller Inbrunst streicht er über die Seiten und stimmt ein bekanntes altes japanisches Lied an. »Furusato«, Heimat, heißt es und handelt von der Schönheit dem Verlust des eigenen Zuhauses. Nur, das Wort »Furusato« wurde durch »Fukushima« ersetzt.
Es ist Ende Februar in Tokio, vor dem Ministerium für Wirtschaft und Industrie, in dem auch die Atomaufsichtsbehörde Nisa noch bis Ende März untergebracht ist. Seit dem 27. Oktober befindet sich hier das Anti-AKW-Camp. Drei große, weiße Zelte stehen direkt neben dem Eingang. Riesige Banner mit der Aufschrift »Schluss mit der Atomkraft – Keine Wiederinbetriebnahme!« hängen über dem Zelteingang ganz rechts, sowie ein handgeschriebener Zähler, der jeden Tag aktualisiert wird. Seit 162 Tagen harren die Protestierenden hier aus, trotz mehrfach angedrohter Räumung werden sie geduldet. In Tages- und Nachtschichten wechseln sich die Aktivistinnen und Aktivisten ab, damit immer jemand da ist. Es gibt weder Strom noch fließend Wasser, aber in den Zelten hat man sich häuslich eingerichtet. Schuhe werden ausgezogen und vor dem Zelt abgelegt, Ordnung muss schließlich sein. »Der neueste Hit sind die Jute-Taschen mit der deutschen Anti-Atom-Sonne«, sagt Yoshinori Fukuda begeistert, als er seine Gitarrensession wegen des starken Windes abbricht. Der knapp 60jährige ist das, was man in Europa als klassische Achtundsechziger bezeichnen würde. Der ausgebildete Bäcker, der im Herzen immer ein Rocker geblieben ist, hat miterlebt, als Studenten und Linke in den sechziger Jahren in Massen auf die Straßen gingen, um gegen den Sicherheitspakt zwischen Japan und den Vereinigten Staaten – und damit gegen die dauerhafte Stationierung von US-Streitkräften auf japanischem Boden – zu protestieren. Die Camper hier sind fast alle in seinem Alter. Die meisten sind Rentner oder Teilzeitbeschäftigte: Sie bilden den harten, sehr kleinen Kern der japanischen Anti-Atomkraft-Bewegung, die spätestens seit der Katastrophe von Tschernobyl immer aktiv gewesen ist. Bis zum 11. März vergangenen Jahres fristeten die Aktivisten in Japan ein Schattendasein. Doch mit der Katastrophe von Fukushima änderte sich das.

In Japan, wo öffentliche Proteste schon immer gemeinhin als störend, wenn nicht sogar als asozial galten, wird seit Frühjahr 2011 de facto im Wochentakt demonstriert, vorzugsweise in Tokio, und sei es nur sehr lokal und eher im familiären Rahmen. Bisweilen gerade eimal fünfzig, siebzig Menschen, besorgte Mütter, engagierte Künstler, Studenten und ganz normale Angestellte ziehen regelmäßig durch ihre Viertel mit liebevoll gebastelten Bannern, Trommeln und Megaphon. Längst gehen nicht mehr nur Altlinke auf die Straßen: Es ist vor allem die Generation der 20- bis 40jährigen, die der ersten digital natives, die sich an den Aktionen beteiligt. Und für sie geht es um mehr als nur um die Sicherheit von Atomkraftwerken.
»Fukushima war ein riesengroßer Schock für ganz Japan«, sagt Yuko Hirabayashi, Professorin an der Universität Tsuru, knapp 200 Kilometer südwestlich von Tokio. Anders als die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist der Super-Gau von Fukushima vor der eigenen Haustür passiert, und es hat kein Entrinnen gegeben: »Die Herzen der Menschen sind zutiefst erschüttert worden, und viele haben sofort gespürt, dass sie etwas tun müssen.« Doch als mindestens genauso stark wie diesen »moralischen Schock«, wie ihn Sozialwissenschaftler nennen, schätzt Hirabayashi die Macht der digitalen sozialen Netzwerke ein, vor allem von Twitter: »Früher konnte man ja nur dann etwas von Protesten erfahren, wenn man ohnehin schon entsprechende Kontakte hatte, aber jetzt gehen ganz normale Leute auch spontan und allein auf Demonstrationen. Die Proteste ziehen sich durch die gesamte Gesellschaft.« Das ist ein Novum für Japan. Und ein Beweis dafür, dass mit Fukushima eine bestimmte Grenze überschritten wurde.
Chie Matsumoto, freie Journalistin und Aktivistin aus Tokio, teilt dieser Meinung: »Schon vor dem 11. März hatten viele Menschen das Gefühl, dass etwas in der japanischen Gesellschaft nicht stimmt.« Die konservative Politik der Liberaldemokratischen Partei, die mehr als 50 Jahre das Land prägte, ist noch lange nicht überwunden. Zudem stagniert die Wirtschaft seit 20 Jahren, die Arbeitsplätze werden immer unsicherer. »Die stark hierarchisch organisierte Gesellschaft in Japan lässt den einzelnen Menschen kaum eine Wahl darüber, wie sie ihr Leben gestalten möchten. Die Unzufriedenheit ist groß«, stellt Matsumoto fest. Gesellschaftskritik sei allerdings kaum öffentlich artikuliert worden, »denn die Mentalität der Japaner gebietet ihnen, bloß nicht aufzufallen«. Die Katastrophe von Fukushima und die Proteste gegen die Atompolitik hätten einen Mentalitätswandel eingeleitet, meint Matsumoto. »Fukushima war der Anstoß dafür, dass die Emotionen an die Oberfläche kommen und sich entladen.« Allerdings habe sich das Image von Demonstrationen in Japan schon vor der Atomkatastrophe gewandelt: »Die meisten Japanerinnen und Japaner hatten bis heute das Bild der gewaltsamen linken Proteste aus den siebziger Jahren vor Augen.« Die Angst vor der Eskalation sei der Grund, warum sich viele Leute von diesem Mittel der politischen Teilhabe distanziert haben.

Einer, der für diesen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung sorgt, ist Hajime Matsumoto, der seit 2005 in einem Recycle-Shop arbeitet. Sein Laden befindet sich im alternativen Viertel Koenji, wo sich in den schmalen, verwinkelten Gassen schummrige Kneipen und kleine Läden aneinanderreihen. In einem dieser winzig kleinen Häuser betreibt Matsumoto den »Laden Nummer Fünf«, der mit Trödel und Sammlerstücken aus den Jahren des japanischen Wirtschaftsbooms vollgestellt ist.
Schon vor der Katastrophe von Fukushima hat Matsumoto mit einigen Freunden Demonstrationen veranstaltet, unter dem Motto »Shiroto no Ran« (Aufstand der Anfänger), wie sich später die Gruppe auch nannte. Die Proteste hatten zunächst nicht gerade große politische Ansprüche und richteten sich in erster Linie gegen die Reglementierung des öffentlichen Lebens, etwa das regelmäßig verordnete Abtransportieren von Fahrrädern, die vor Bahnhöfen abgestellt werden – was in Tokio eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Mit der Zeit wurden die Kundgebungen allerdings politischer. 2008 organisierten Matsumoto und seine Mitstreiter Demonstrationen gegen die Ausbeutung von Leiharbeitern. Im April vergangenen Jahres war Shiroto no Ran eine der ersten Gruppen, die eine großangelegte Kundgebung gegen die Nutzung der Atomenergie organisierte, an der 15 000 Menschen teilnahmen. »Die Idee, eine Demonstration mit Musik zu veranstalten, kam aus Deutschland«, erzählt Matsumoto stolz. »Als ich 2008 zum ersten Mal in Berlin war, hat mich beeindruckt, wie viele verschiedene Leute zu einer Demonstration kommen, dass überall Musik läuft und sogar Getränke verkauft werden«, sagt er begeistert. »Wir wollten diese Form des Demons­trierens nach Japan bringen, nicht so langweilig und ernst!«
Matsumoto sieht es auch als Verdienst seiner Gruppe, dass die Proteste gegen die AKW und den Betreiber des Reaktors von Fukushima, Tepco, die ersten waren, »bei denen ganz normale Bürgerinnen und Bürger mitmachten«. Er ist überzeugt: »Wenn Menschen, die keiner Partei oder Organisation angehören, auf die Straße gehen, wird daraus eine Stimme, die wirklich zählt.« Dabei hat es Shiroto no Ran nicht leicht. Denn bei allem Krach und bunten Treiben sind Demons­trationen in Japan nach wie vor ordentliche Veranstaltungen. Das liegt vor allem an den strengen Vorschriften: Niemals wird wegen einer Kundgebung eine ganze Straße abgesperrt, sondern, wenn überhaupt, nur eine Fahrbahn, auf der sich die Demonstrierenden in vier Reihen einzuordnen haben. Nicht selten sind mehr Ordnungskräfte als Protestierende auf der Straße anwesend. Die Gruppe Shiroto no Ran wurde auch außerhalb Japans deswegen so berühmt, weil sie immer wieder versuchte, die Vorgaben der Polizei zu umgehen – mit sogenannten Zick-Zack-Läufen, durch das spontane Mitnehmen von Passanten und ähnliche Strategien.

Masahito Takahei betrachtet diese neuen Proteste mit gemischten Gefühlen. Der überzeugte Kommunist engagiert sich heute in der japanischen Abteilung des global agierenden Arbeiterverbandes Labournet. Er war schon 1960 bei den Massenprotesten gegen den Sicherheitspakt zwischen Japan und den USA dabei. Damals, als bis zu eine Million Menschen auf die Straßen gingen, um gegen die Stationierung der US-Armee in Japan zu protestieren, hat er Polizisten mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen und Barrikaden mit Bambusstangen überwunden. »Wir haben damals die Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht, das war Teil des Plans«, erzählt er. »Man war davon überzeugt, dass man nur durch den militanten Kampf etwas erreichen kann.« Nachdem im Oktober 1967 bei einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg auf dem Flughafen Haneda ein Student ums Leben kam, seien die Vorschriften für öffentliche Kundgebungen strenger geworden. »Heute fliegen bei Demonstrationen Luftballons statt Steine, und die Veranstalter twittern und legen Musik auf, anstatt Marx und Lenin zu zitieren. Das Ganze erinnert eher an ein Stadtfest«, schmunzelt Takahei. Es sei aber ein hehres Ideal, ohne Gewalt und nur mit der Kraft der Vernunft etwas zu bewegen: »Sich gegen Atomkraftwerke einzusetzen, bedeutet, für eine bessere und friedlichere Zukunft zu kämpfen, da müssen vermutlich die Demonstrationen auch eine schöne und positive Stimmung verbreiten.«
Hajime Matsumoto sieht das ähnlich. Ihm geht es aber um mehr als das öffentliche Bild von Demonstrationen. Ein Jahr nach der Katastrophe von Fukushima sind die Proteste zwar seltener geworden, trotzdem findet er, dass es für viele Menschen in Japan eine wichtige Erfahrung gewesen sei, die eigene Stimme erhoben zu haben. »Ich bin selbst nicht mehr voll und ganz dabei. Aber die Suche nach wirklichen Alternativen ist mir wichtiger. Ich kann diese auf Konsum ausgerichtete japanische Gesellschaft einfach nicht ausstehen«, sagt er. Diese Kritik und die Suche nach neuen Wegen waren schon vor der Atomkatastrophe sein Thema. Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte der 37jährige Politikwissenschaftler ein Buch, das in der alternativen Szene zu einem kleinen Bestseller wurde: »Die Rache der Armen – Wie man ohne Geld überlebt.«
Sein Recycle-Shop, sowie auch Cafés und Bars, die von der Gruppe Shiroto no Ran in Koenji betrieben werden, sind ein Teil dieses Konzepts: »Anstatt mühsam gegen den sozialen Abstieg zu kämpfen, sollte das urbane Prekariat konkrete Alternativen entwickeln, weg vom Konsum- und Verschwendungswahn, hin zu festen, lokalen Gemeinschaften und gegenseitiger Unterstützung.« Die erste große Protestkundgebung gegen die Machenschaften von Tepco am 10. April vergangenen Jahres habe nicht zufällig in Koenji stattgefunden. »Die AKW-Gegner konnten nur deswegen spontan 15 000 Menschen mobilisieren, weil es in und um Koenji eine feste Community aus Alternativen, Künstlern und jungen Selbständigen gibt«, sagt Matsumoto.

Dass sich der Aktivismus derzeit stärker auf lokale Probleme konzentriert, sieht Yuko Hirabayashi nicht als ein Zeichen der Schwäche der Bewegungen, im Gegenteil: »Ich denke, auf diese Weise schlagen sie erst richtig Wurzeln auf dem Territorium. Leute wie Hajime Matsumoto träumen nicht mehr von der großen Weltrevolution, sondern wollen sich im kleinen Kreis eine Welt nach ihren eigenen Wünschen schaffen.«
Ein weiteres Beispiel für das Handeln auf lokaler Ebene sind Orte wie der Independent-Plattenladen Zankyo-Juku im Szeneviertel Shibuya. Hier treffen sich regelmäßig Studenten, junge Kreative und Intellektuelle, um sich auszutauschen und über politische und kulturelle Themen zu diskutieren. »Ich wollte eine Plattform schaffen, wo junge Leute an unabhängigen Informationen abseits des Mainstreams gelangen und auch sich selbst präsentieren können«, beschreibt Masaki Toraiwa, Initiator und Betreiber des Ladens, sein Projekt. Er haben sich an den britischen »Speakers’ Corners« orientiert, wie etwa der im Londoner Hyde Park. »In Japan ist es nicht üblich, sich vor andere hinzustellen und öffentlich die eigene Meinung kundzutun. Ich will, dass sich das ändert«, sagt Toraiwa. So engagieren sich nach dem Motto »think global, act local« immer mehr Menschen unterschiedlicher sozialer Abstammung, um mehr politische Teilhabe zu erlangen.
Masahito Takahei macht sich dagegen eher Sorgen um die Zukunft der Proteste: »Demonstrieren bedeutet, dass man eine klare eigene Meinung und viel Energie braucht.« Die meisten jungen Leute heutzutage hätten aber kaum noch Zeit und Bewusstsein dazu, was kein Wunder sei angesichts der leistungsorientierten, schnelllebigen japanischen Gesellschaft.
Zum Jahrestag der Reaktorkatastrophe wurden vergangene Woche noch einmal alle Kräfte aufgewendet. Allein im Großraum Tokio fanden ein Dutzend Kundgebungen statt und insgesamt rund 12 000 Menschen demonstrierten für den dauerhaften Ausstieg aus der Atomenergie. In der Stadt Koriyama in der Präfektur Fukushima gingen rund 16 000 Menschen auf die Straße.
Journalistin Chie Matsumoto, die das Anti-AKW-Camp regelmäßig besucht, ist optimistisch, was die Zukunft der Poteste angeht: »Es sind Schüler vorbeigekommen, die durch ihre Teilnahme an Protesten den Schulverweis riskierten«, erzählt sie begeistert. Wenn diese engagierte Jugend durchhält, wird Bäcker Fukuda vielleicht bald nicht mehr allein vor dem Zelt sitzen und singen.