»Große Besetzung« von Esther Freud

Pinguin sein oder nicht sein

Nach der Schauspielschule ist erstmal Schluss mit Shakespeare. Auf Hamlet folgen prekäre Jobs beim Pizza-Express und demütigende Auftritte im Tierkostüm. In ihrem Roman »Große Besetzung« schildert Esther Freud den schwierigen Berufsalltag junger Schauspielerinnen und Schauspieler.

Die Anspannung im Saal ist spürbar. Unruhig wird mit den Füßen gescharrt, mit Blättern geraschelt, leise getuschelt und nervös gekichert. Es ist der erste Tag für den neuen Jahrgang der Schauspielschule. »Die haben hier eine Theorie. ›Brich sie, bevor du was aus ihnen machen kannst‹«, sagt ein junger Mann. Schon die Begrüßungsrede des Leiters der Akademie lässt ahnen, dass da etwas dran sein könnte. Wenn er sich eine Zigarette anzündet, während er seinen neuen Zöglingen den Lehrplan erläutert, dient dies nicht dem Genuss, sondern ist eine Machtdemonstration: »Ich rauche.« – »Sie nicht.«
Heutzutage dürfte das Rauchverbot wohl auch für den Direktor gelten. Die Handlung von Esther Freuds Roman »Große Besetzung« setzt 1992 in London ein. Damals war nicht nur der Qualm von Zigaretten in den Bars, Restaurants oder Universitäten allgegenwärtig, sondern auch das Klischee vom kellnernden Schauspieler oder dem Schriftsteller, der Taxi fährt. Scheitern ist möglich, das ist eine Gewissheit, die Schauspieler und Autoren schon immer hatten. Esther Freud kennt das Metier, über das sie schreibt. Die Urenkelin von Sigmund Freud und Tochter des Malers Lucien Freud hat selbst eine Schauspielausbildung absolviert, als Schauspielerin gearbeitet und irgendwann, als die Engagements ausblieben, mit dem Schreiben begonnen. Die Angst, dass aus dem Traum vom Dasein als Schauspielerin nichts werden könnte, ist im Roman von Beginn an gegenwärtig.
Die Schule in London gilt als Kaderschmiede, und das nicht nur, weil sie einige Bühnen- und Filmberühmtheiten hervorgebracht hat, sondern auch, weil sie den Ruf hat, großzügig auszusieben. In der Regel muss die Hälfte eines Jahrgangs die Akademie schon vor der Ab­schluss­aufführung verlassen. Der Roman begleitet seine Protagonisten über einen Zeitraum von 14 Jahren, im Zentrum der Handlung stehen Nell, Charlie und Dan. Die Biographien der drei Protagonisten verlaufen völlig unterschiedlich und sind dennoch jeweils exemplarisch. Geschildert werden sämtliche Stationen, die den Werdegang von Schauspielern prägen. Neben ihrem Beruf und ihrer Freundschaft verbindet die Charaktere die Erfahrung des Wartens. Sie warten auf den Anruf ihrer Agenten, sie warten auf Engagements oder zumindest auf die Teilnahme an einem Casting. Und immer, wenn kein Vorsprechen ansteht und keine Rolle in Sicht ist, steigt die Panik, dass der letzte Auftritt tatsächlich der Letzte gewesen sein könnte.
Für Nell beginnt das Leben in der Warteschleife schon sehr früh, sie fliegt von der Schauspielschule, wie fast alle Frauen ihres Jahrgangs. In der »Hamlet«-Inszenierung, die als Abschluss­arbeit vorgesehen ist, gibt es kaum weibliche Rollen. An ihrer Absicht, als Schauspielerin zu arbeiten, ändert diese Erfahrung nichts. Um eine Mitgliedskarte in der Schauspielergewerkschaft zu bekommen, spielt sie auf einer Theatertournee für Schulkinder einen Pinguin. Unter ihren ehemaligen Mitschülern macht diese Nachricht schnell die Runde, als Tierdarsteller möchte keiner enden. Allerdings wird es nicht lange dauern, bis auch bei ihnen Ernüchterung eintritt, die Welt Shakespeares und Ibsens endet für die meisten mit der Schauspielschule. Es folgen Jobs beim Pizza-Express, als Kellner und Aushilfs­tätigkeiten in Büros. Nell ergattert zumindest irgendwann eine kleine Nebenrolle in einem Theaterstück, als singende Telegramm-Zustellerin. Beim Vorsprechen muss sie die erste Strophe von »My Way« bellen, »als sei sie ein Hund«. Zumindest für Demütigungen dieser Art war die Akademie, die die Schüler in der Aufnahmeprüfung ein Schnitzel darstellen ließ, eine gute Vorbereitung. Solche Erniedrigungen werden in Freuds Roman ganz beiläufig geschildert, was ihre Wirkung nur verstärkt. Perfekt getroffen sind auch jene Momente, in denen diejenigen, bei denen es gut läuft, auf diejenigen treffen, bei denen nichts läuft. Beispielsweise, wenn ein gefeierter Schauspielstar auf der Premierenparty plötzlich auf einen früheren Mitschüler trifft, der die Uniform des Catering-Service trägt. Die wechselseitigen Versuche, die Peinlichkeit der Situation zu überspielen, scheitern grandios.
Vielleicht liegt es auch an Freuds lakonischer Erzählweise, wenn der Alltag der Schauspieler in vielen Momenten so frappierend vertraut erscheint. Bald gewinnt man den Eindruck, dass sich die Arbeitswelt in den vergangenen Jahren einiges von den Härten des Showbusiness abgeguckt hat. Die Castings erinnern an die entwürdigenden Rituale eines Bewerbungsmarathons im Assessment-Center. Das Warten auf den nächsten Auftrag oder die stets wiederkehrende Arbeitslosigkeit gehören mittlerweile für viele Berufsgruppen zur Normalität. Die Veränderungen in der Arbeitswelt werden im Roman subtil thematisiert, die Erzählung umfasst eine Dekade, in der der Wandel schleichend spürbar wird.
Nell schreibt mit einer Kollegin ein Theaterstück über ihre Jobs, die für die Miete sorgen. Das Stück »Hummer und Krabbe« wird mit Hilfe des Förderprogramms von New Labour auf die Bühne gebracht, auf dem Theaterfestival in Edinburgh entwickelt sich das Stück zum Überraschungserfolg der Saison. Die Inszenierung trifft den Zeitgeist, zu Beginn der Krise der New Economy scheint die Begeisterung für ein Stück mit Kapitalismuskritik im Slapstick-Format groß zu sein. »Hummer und Krabbe« ist ein Ausflug in die prekäre Arbeitswelt der sogenannten Erlebnisgastronomie. Das Stück spielt in einem Fischrestaurant, in dem das Essen vom Personal in Hummer- und Krabbenkostümen serviert wird. Vom Pinguin im Kindertheater zur kellnernden Krabbe ist der Weg nicht weit. Ein Jahr später bleiben die Zuschauer fern, die Darstellung mieser Jobs scheint beim Publikum mittlerweile nicht mehr für Heiterkeit sorgen.
Für Charlie und Dan verläuft der Start ins Berufsleben reibungslos, ob sie sich deshalb glücklich schätzen können, ist eine andere Frage. Charlie verkörpert das perfekte Schönheitsideal, schon unmittelbar nach ihrem Schauspielexamen wird sie mit Filmangeboten überschüttet. Sie macht eine Karriere im Zeitraffer, reist von Drehort zu Drehort. Das Motiv des Wartens bezieht sich bei ihr zunächst nur auf die Einsamkeit in irgendwelchen Hotels. Das Problem ist, dass sie auf die Rolle der jugendlichen Liebhaberin abonniert ist, die Arbeitslosigkeit wird bei ihr zur Begleiterscheinung des Älterwerdens. Dan feiert sogar auf der Bühne und der Leinwand Erfolge, weil er eine sechsköpfige Familie hat, ist das Geld dennoch oft knapp. Im Fitnessstudio beim Blick auf die durchtrainierten Männerkörper, die ihn umgeben, nimmt seine Zukunftsangst Gestalt an. Wie viele andere männliche Absolventen ergattert er Rollen in Kriegs­filmen, den gestählten Soldaten wird er jedoch nicht ewig spielen können. Das kündigt sich an, als seine Agentin für ihn lediglich einen Job für eine Kampagne einer Stiftung, die sich gegen Arthritis engagiert, im Angebot hat. Spätestens da weiß man, Älterwerden ist für Schauspieler und Kellner gleichermaßen hart.

Esther Freud: Große Besetzung. Aus dem Englischen von Anke und Eberhard Kreutzer. Bloomsbury Berlin, Berlin 2012, 432 Seiten, 22,90 Euro